Kitabı oku: «Fritz Wunderlich», sayfa 3
Das Jahr 1937 brachte erneut Aufregung in Kusel, eine zum Teil freudig begrüßte Aufregung. Im Mai zogen erstmals seit Ende des Ersten Weltkrieges wieder Soldaten im Städtchen ein; das linksrheinische Gebiet hatte seinen Status als entmilitarisierte Zone verloren, und schon im Juli 1938 wurde Kusel Garnison. Bedachte man die besondere geographische Lage des Städtchens, so nahe an der Westgrenze des Deutschen Reiches, so mußten Sinn und Zweck dieser Aktivitäten wohl auf der Hand liegen. Hellhörig war man schon seit einiger Zeit: Bereits 1934 war in Kusel ein Luftschutzbund gegründet worden, und zwei Jahre später konnte der erste Luftschutzraum geprüft und abgenommen werden – ausgerechnet in »Emrichs Braustübl« wo Fritz Wunderlich seine ersten Kinderjahre verbracht hatte. Am 18. August 1939 schließlich erklärte Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, den Landkreis Kusel zum Operationsgebiet des Heeres: »Komme da, was kommen mag.«10
Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs brachte in Kusel vorerst kaum Veränderungen, da sich das Kriegsgeschehen auf die Ostfront konzentrierte. Selbst am Bau der neuen Heeresstraße, 1938 begonnen als eine nördliche Umfahrung des Städtchens, wurde weitergearbeitet. Sie sollte, allerdings erst Jahrzehnte später, in Fritz-Wunderlich-Straße umbenannt werden. Spürbar wurde zusehends ein Mangel an Arbeitskräften, da die Mehrheit der Männer in den Kriegsdienst einberufen worden war. In der Schule wurde deshalb in Großklassen unterrichtet, doch das war Alltag, war Schüleralltag für den, der nichts anderes kannte. Für Fritz war die Schule nie viel mehr als ein notwendiges Übel gewesen. Nicht, daß er ungern zur Schule ging. Und er war ein recht guter Schüler, in der Volksschule wie später, ab September 1941, in der Oberschule für Jungen. Hier wurde er in den Fächern Deutsch, Geschichte, Erdkunde, Kunsterziehung, Musik, Biologie, Mathematik, Englisch und Sport unterrichtet. In der dritten Klasse kam noch Latein hinzu, in der vierten Französisch und Physik und in der fünften Chemie. Dem Schüler Wunderlich wurde bescheinigt, daß er »brav ist und sein Fleiß und seine Leistungen im ganzen befriedigend sind«. In den Leibesübungen zeigte er besonderen Einsatzwillen. Aus dem Notenbild läßt sich insgesamt schließen, daß ihm die musischen Fächer und Sprachen mehr lagen als die mathematisch-naturwissenschaftlichen.11
Zu Hause wirkte und werkelte Fritz mit der für ihn typischen, oft geradezu obsessiven Energie. Alles andere vergaß er dann, hatte Augen und Sinn nur noch für seine momentane Beschäftigung. Immer noch gab es im Wohnzimmer jene Standuhr, die er als Dreikäsehoch einst zu Fall gebracht hatte. Nun wollte er diese Standuhr zu einem Wecker umfunktionieren. Auf dem Gelände der nahegelegenen Molkerei machte er jene Aluminiumdeckelchen ausfindig, mit denen man Sahnebecher zuzuschweißen pflegte. Er schnitt sich ein Streifchen zurecht, befestigte dieses am Zifferblatt der Standuhr und verband das Ganze in aufwendiger Kleinarbeit mit einem dünnen Leitungsdraht und einer Klingel, die er in seinem Zimmer im oberen Stockwerk des Hauses befestigte. Den Aluminiumstreifen konnte man auf dem Zifferblatt ganz nach Belieben verschieben: je auf die gewünschte Uhrzeit, zu der Fritz geweckt werden wollte. Rückte der kleine Uhrzeiger dann gegen die gewählte Zeit vor, so berührte er den kleinen Aluminiumstreifen. Dadurch wurde der Stromkreis geschlossen und ein elektrischer Kontakt ausgelöst – und im Zimmer von Fritz rasselte die Klingel. Zeit zum Aufstehen. Die Mutter sah den Nutzen solcher technischer Einrichtung zwar ein, hatte aber nicht nur eitel Freude daran. Denn zeitweise sah es im Wohnzimmer wie in einer Bastelstube aus, mit überall herumliegendem Werkzeug und der Boden mit Materialresten übersät. Zudem hingen die Leitungsdrähte und Verbindungskabel, die Fritz von der Standuhr ins obere Stockwerk gespannt hatte, oft bedenklich durch und konnten für den, der nicht unentwegt auf der Hut war, zu ärgerlichen Schlingen werden. Entsprechend ereiferte sich die Mutter dann auch: »Friedrich…«, und das verhieß Unheil. Für solche Momente aber hatte Fritz längst ein eigentliches Beschwichtigungszeremoniell eingeübt: Regelmäßig fiel er dann vor der Mutter auf die Knie, erklärte ihr charmant und mit glühendsten Worten den doch augenfälligen Nutzen seiner eben installierten »Erfindungen« – und hatte damit bei der Mutter auch meistens den gewünschten Erfolg.
Zudem hatte die Mutter andere Sorgen – und weitaus ernstere. Zusehends fehlte es am Nötigsten, an Kleidern und vor allem an Lebensmitteln. Doch auch da wußte sie sich einzurichten. Einige ihrer Musikschüler kamen aus der ländlichen Umgebung Kusels. Statt sich von diesen nun mit Geld bezahlen zu lassen, bat sie deren Eltern um Nahrungsmittel, und so zog sie oft mit einem Handwagen in die umliegenden Dörfer, um Brot oder Kartoffeln, aber auch Holz heimzukarren. Fritz mußte sie jeweils begleiten. Nichts war ihm so verhaßt, denn es kam ihm wie Bettelei vor. Und er schämte sich auch vor den Leuten. Meistens setzte er sich deshalb am Dorfeingang auf einen Stein und ließ die Mutter allein herumfuhrwerken. Unbeirrt ging diese ihren Weg. Scham oder Rücksichtnahme auf andere Leute, das konnte sie sich beides längst nicht mehr leisten.
1942 setzten die Fliegerangriffe der Alliierten auf deutsche Städte ein. Sie wurden zuerst bei Nacht und, ab 1943, auch bei Tag geflogen. Kusel hatte vorläufig nicht darunter zu leiden. Erst während der letzten Kriegsmonate wurde auch das Pfälzerland Ziel der amerikanischen Jagdbomber. Fritz hatte ausgesprochen Angst vor diesen Überfällen, weil sie wie aus dem Nichts auf den Menschen herunterbrausten und ihn vernichten wollten, bevor er sich seiner Lage auch nur einigermaßen bewußt wurde und entsprechend handeln konnte. In seiner Angst begann er, zusammen mit einem Kameraden am Stadtrand einen eigenen Stollen auszuheben. Ein lächerliches Unternehmen, wenn man bedenkt, daß dieser unprofessionell ausgehobene Raum kaum nennenswerten Schutz geboten hätte. Doch nicht um solche realistischen Überlegungen war es Fritz damals zu tun, sondern nur um die pure Aktivität: etwas gegen diese lastende Bedrohung zu unternehmen.
Auch am 6. Januar 1945 waren die beiden Jungen morgens beim Stollenbauen. Am Mittag mußte Fritz allerdings zurück ins Städtchen; er sollte sich mit der Mutter treffen, und beide waren sie nach der Mittagspause bei Marianne verabredet. Anschließend wollte Fritz wieder hinauskommen und am Stollen weiterbauen helfen, so lautete die Abmachung. Über Mittag aber – Fritz war bereits bei seiner Schwester – explodierten etwa dreihundert Bomben, beinahe auf einen einzigen Schlag, abgeworfen von ungefähr dreißig größeren zweimotorigen Bombern. Anna Wunderlich war gerade auf dem Weg zu ihrer Tochter. Sie wurde vom Bomberangriff überrascht, flüchtete ins nächststehende Haus und wurde dort mit anderen Schutzsuchenden verschüttet. Später konnte sie wohlauf geborgen werden: Ein Türbalken über ihrem Kopf hatte standgehalten und die niederprasselnden Schutt- und Geröllmassen weggelenkt. Fritz ging, nachdem die Lage wiederum einigermaßen sicher schien, zurück zum Stollen. Seinen Kameraden fand er tot, getroffen von den Bomben des Fliegerangriffs.
Bereits am 6. Juni 1944 waren amerikanische, britische und kanadische Truppen in der Normandie gelandet. Doch die Offensive der Alliierten kam bald zu einem vorläufigen Stillstand, und so wurden im deutschen Grenzgebiet in den folgenden Monaten Volkssturmmänner und Hitlerjungen zum »Schanzen«, zum Ausheben von Schützengräben, an den Westwall beordert. In Kusel hatten sich sämtliche Jungen im Alter ab 14 Jahren beim HJ-Oberscharführer zu melden. Das ging auch Fritz an. Die Mutter packte den Rucksack, Fritz hängte sich das Akkordeon um die Schulter. Am Bahnhof sollten sich die Jungen treffen. Die Mutter begleitete Fritz, was ihm wegen der schon im Transportzug wartenden Kollegen peinlich war. Schnell verabschiedete er sich von der Mutter und sprang aufs Trittbrett – da riß sie ihn in plötzlicher Verzweiflung wieder herunter: »Du bleibst da! Die sollen mir den Sohn nicht nehmen dürfen; schließlich bin ich Witwe und auf meinen einzigen Sohn angewiesen.« Und nahm ihn wieder nach Hause. Ein Verwarnungsschreiben des HJ-Oberscharführers lag tags darauf im Briefkasten. Und ein Wiederaufgebot zum »Schanzen« folgte auch; diesmal mußte Fritz mit.12
Anfang März 1945 gelang es amerikanischen Truppen, im Bereich der Eifel die deutschen Linien zu durchbrechen; daß die Truppen bald auch in Kusel einmarschieren würden, war nur noch eine Frage der Zeit. Allerdings wurde man über Einzelheiten dieser Offensive nur unzureichend unterrichtet. Unsicherheit und Angst machten sich breit: Ob der Einmarsch der Amerikaner wohl Befreiung bringen würde? Oder den Anfang neuer Schrecken und Greuel bedeutete? Fritz hielt diese Spannung und Ungewißheit kaum mehr aus. Zunehmend verstärkte sich in ihm das Gefühl, daß der Tod um ihn sei. Ein früher Tod würde es sein, das schien ihm gewiß. Er verbrachte diese Tage in einem Luftschutzkeller, meistens ganz allein mit sich selbst. Was er an Eßbarem auffinden konnte, nahm er mit. Im Halbdunkel, in endlosen Stunden ungewissen Wartens, ritzte er in sämtliches Eßgeschirr, das er bei sich hatte, Blechteller und Becher, Aluminiumkesselchen und Getränkeflasche, seinen Namen ein. Wie eine verzweifelte Bestätigung seiner selbst.
ZWEITES KAPITEL
Vom Rumpelstilzchen zur Winterreise: Ein Sänger wird entdeckt
18. März 1945, Palmsonntag, ein sonniger, aber noch kalter Frühlingsmorgen. Für Fritz Wunderlich ein ganz spezieller Tag: Heute sollte er konfirmiert werden. Vorbei war es mit den Kinder- und Jugendjahren. Den Kinderschuhen war er längst entwachsen; die letzten, harten Jahre hatten ihn geformt, und nicht zuletzt hatte ihm seine Mutter eine strenge Schule des Lebens beispielhaft vorgelebt. Fast hatten sie über der Vorbereitung des Festes die bedrohliche Stimmung vergessen, die seit Wochen über allem Tun lastete. Der Mutter war es gelungen, von den Eltern eines ihrer Musikschüler einen dunklen Anzug für Fritz zu borgen, und auch Lebensmittel, Wurst, Fleisch und Kuchen, hatte sie organisiert. Ein würdiges Fest sollte die Konfirmation ihres Sohnes allemal werden.
Auf sechs Uhr in der Frühe war die Konfirmation in der evangelischen Stadtkirche angesetzt. Die täglichen Tieffliegerangriffe zwangen zu dieser frühen Morgenstunde, zudem erhärteten sich Gerüchte, wonach die amerikanischen Truppen bereits bis ins Saarland vorgedrungen seien. Schwester Marianne war vorübergehend zu ihrer Schwägerin in eine Nachbargemeinde gezogen. Um fünf Uhr in der Früh kamen auch Fritz und die Mutter nach, unter dem Arm ein Bündel mit den Köstlichkeiten fürs Festessen. Die Mutter wollte dableiben; Marianne dagegen lieh sich zwei Fahrräder und fuhr mit Fritz zurück nach Kusel zum Konfirmationsgottesdienst. Eine feierliche Stimmung wollte allerdings nicht aufkommen; es fehlte an der nötigen Konzentration; die Gedanken waren anderswo. Plötzlich hörte man draußen das Detonieren von Bomben. Kaum hatte sich der Morgennebel gelichtet, flogen amerikanische Jagdbomber ihren ersten Einsatz über Kusel. Flugzeuglärm brauste über der Stadt, und schließlich wurde durch Druckwellen detonierender Bomben die Kirchentür aufgerissen. Kurzentschlossen segnete der Dekan alle Konfirmanden, dann wurde der Gottesdienst abgebrochen, und die Menschen flüchteten in die Schutzräume. Fritz aber und seine Schwester radelten wieder in die Nachbargemeinde zurück, wo die Mutter wartete. Man beschloß, sich in den niedrigen Gängen eines nahegelegenen alten Kalkstollens zu verstecken und der Dinge zu harren, die da kommen sollten. Die Amerikaner rollten in ihren Panzern vorbei; bald wurde die Parole laut, es sei alles vorbei und keine Gefahr mehr zu befürchten. Zögernd nahm jeder seine Habseligkeiten wieder an sich, und erschöpft machte man sich auf den Weg nach Hause. An eine Familienfeier dachte keiner mehr.13
Schon im Juli 1945 legten die Alliierten für das besiegte Deutsche Reich vier Besatzungszonen fest. Kusel wurde – wie überhaupt der Verwaltungsbezirk Mittelrhein-Saar samt einigen rechtsrheinischen Gebieten Hessens und dem südlichen Teil des Landes Baden-Württemberg – von französischen Truppen besetzt. Die Situation von 1918 schien sich zu wiederholen: Als die Alliierten im darauffolgenden Februar das Saarland aus der Besatzungszone wieder ausgliederten, wurde das legendäre Remigiusland erneut Grenzland. Wie einst zog sich nur wenige Kilometer von Kusel entfernt die Zollgrenze hin.
In vielen Bereichen des öffentlichen Lebens gab es nach Kriegsende Schwierigkeiten. Die Schulen konnten ihren Betrieb nach einer fast einjährigen Unterbrechung nur reduziert aufnehmen. An den Unterricht in Großklassen war Fritz längst schon gewöhnt. Neu dagegen war ein Mangel an geeigneten Schulräumen und an Lehrbüchern; kaum die Hälfte der Fächer konnte planmäßig erteilt werden. Auch an Heizmaterial fehlte es, so daß die Schüler in den ersten Nachkriegswintern angehalten wurden, Heizmaterial selbst mitzubringen. War alles aufgebraucht, so mußten »Kohleferien«, eingelegt werden. Das waren Probleme, doch für Fritz waren es nicht die vordringlichsten. Ihm und seiner Mutter fehlte es an Geld und Nahrungsmitteln. Wiederum sah man Anna Wunderlich mit ihrem Handwagen unterwegs. Die entbehrungsreichen Kriegsjahre hatten ihr besonders zugesetzt: Ihre Finger wurden langsam krumm, wohl die Folge einer Rheumaerkrankung, und das Geigenspielen bereitete ihr zunehmend Schwierigkeiten. Nur noch selten trat sie auf, am liebsten in den Offizierskasinos der französischen Besatzungsmacht, weil die am besten zahlten und manchmal sogar noch zu einem bescheidenen Essen einluden. Seit einiger Zeit mußte auch Fritz mit; mit dem Akkordeon konnte er sich mühelos profilieren, und auch auf der Trompete durfte er sich hören lassen. Ab und zu sang er einen Schlager; Bedürfnis nach solcher zumeist von den amerikanischen Besatzungstruppen importierten Unterhaltungsmusik war nach der jahrelangen kulturellen Gleichschaltung im Tausendjährigen Reich reichlich vorhanden.
Daß die Schule dabei zu kurz kam – wer wollte es Fritz verargen. Auch der damalige Schulleiter, Studienrat Julius Gerlach, zeigte Verständnis: »Nach dem Krieg war er ja in einer finanziell und wirtschaftlich schwierigen Situation. Und da hat er halt als Musikant in den Kapellen mitgespielt – halbe Nächte lang. Dann die ›Kermessen‹: Drei Tage hat er da gefehlt in der Schule.«14 Gerne, wirklich gerne Tanzmusik gemacht hat Fritz damals kaum. Aber da war ein eiserner Zwang durch die Mutter. Sie bekam ja nur die 89 Reichsmark Rente, und ein paar Mark verdiente sie sich als Musiklehrerin am Gymnasium. Zuviel zum Sterben, zuwenig zum Leben. Also mußte ihr Sohn mithelfen, da gab es kein Pardon. Das gehörte zur Schule des Lebens. In Kusel galten sie so oder so nicht gerade viel. Musikanten waren sie und keine seriösen Künstler. Angestellte waren sie, Angeheuerte, die gegen Bezahlung aufzuspielen hatten und über die man nach Bedarf verfügen konnte. An der Festtafel aber hatten sie nichts zu suchen. Für sie gab es, wenn überhaupt, einen Musikertisch, draußen in der Diele oder in der Küche. Nach den herkömmlichen gesellschaftlichen Regeln gerechnet, standen sie im Abseits. Selbst ihre Wohnlage, das kleine Häuschen in der Holler-Siedlung, schien das zu bezeugen: außerhalb des Städtchens gelegen, an den Rand von Kusel gedrängt.
Fritz schien das allmählich zu spüren, auch wenn er nie davon gesprochen hat. Im Gegenteil, gegen außen hin war er der unternehmungslustige, friedfertige Kumpel, stets für einen Streich zu haben und zu allen Schandtaten bereit, zuvorkommend aber auch, wenn man ihn um Rat fragte. Und stets voller Energie und Tatendrang. Ein sonniges Gemüt, darin war man sich einig. Daß es in seinem Innern anders aussehen könnte und zeitweilig auch ganz anders aussah, daß diese ansteckende Lustigkeit oft nur Fassade war, das alles ließ er keinen merken. Außen und innen hatte er früh schon trennen gelernt, und oft trennte er zu scharf, ließ dann von seinen wahren Gefühlen nichts nach außen strahlen. Selbstschutz war das und Angst wohl auch vor der eigenen Emotionalität. Denn gerade hier erkannte er sich als seinem Vater sehr eng verwandt. Das Vaterbild aber war zerstört in ihm, ist zweifellos auch zerstört worden durch das vielsagende Schweigen so mancher anderer. Keiner hat mit ihm über den Vater gesprochen; keiner hat ihm auseinandergesetzt, weshalb er ohne Vater aufwachsen mußte. Auch hier gilt, nach der herkömmlichen Moral gerechnet, daß Fritz Wunderlich weitgehend im sozialen Abseits aufwuchs, am Rand der sogenannten Gesellschaft.
Unter all den aus dem Krieg Zurückkehrenden kam zumindest einer unerwartet nach Kusel. Joseph Maria Müller-Blattau hieß er, ein bekannter deutscher Musikwissenschaftler mit einer für die damaligen politischen Verhältnisse mustergültigen Vorzeigekarriere. Er stammte aus Colmar, studierte an den Universitäten von Straßburg und Freiburg i.Br., nahm Unterricht bei Hans Pfitzner, dem letzten aus der Gilde der deutsch-romantischen Komponisten des 19. Jahrhunderts, und promovierte 1920 in Freiburg bei Wilibald Gurlitt, dessen Assistent er anschließend wurde. 1922 habilitierte sich Müller-Blattau in Königsberg, am anderen Ende des großen Deutschen Reichs, und wirkte dort als Leiter des Instituts für Schul- und Kirchenmusik. 1935 übernahm er eine Professur an der Universität in Frankfurt am Main. Zwei Jahre später wurde sein ehemaliger Freiburger Lehrer Wilibald Gurlitt von den Nationalsozialisten seines Amtes enthoben, und Müller-Blattau übernahm dessen Nachfolge. Wie gesagt: eine der üblichen Karrieren – nur wertete man nach 1945 nach anderen Maßstäben. Müller-Blattau dürfte es als ein Gebot dieser neuen Zeit erachtet haben, sich vorerst nicht nach einem Lehrstuhl an einer der großen deutschen Universitäten umzusehen, sondern seine musikwissenschaftliche und pädagogische Tätigkeit irgendwo in entlegener Provinz aufzunehmen.
Seine Wahl fiel auf Kusel. Hier war im Herbst 1946 eine Pädagogische Akademie eröffnet worden, übrigens die erste in der Pfalz. In verhältnismäßig kurzen Lehrgängen sollten hier Lehrer ausgebildet werden. Joseph Müller-Blattau erteilte den Musikunterricht. Darüber hinaus engagierte er sich, zum Teil auch mit seinen Kindern, in vielfältiger Weise für das Musik- und Theaterleben in Kusel. Zum Beispiel für die Theatergruppe des Kulturrings. In der Vorweihnachtszeit des Jahres 1947 wurde hier ein Weihnachtsmärchen einstudiert: Rumpelstilzchen von einer gewissen Trude Wehe. Müller-Blattau schrieb eine Bühnenmusik dazu, der eine Sohn, Michael, betätigte sich als Spielleiter, und der zweite Sohn, Wendelin, wirkte als Bratschist im Orchester mit. Tochter Christiane, auch das geht aus dem Programmzettel hervor, übernahm die Rolle einer Lore. Und dann gab es auch noch einen Hofarzt: Diesen mimte Fritz Wunderlich. Zum ersten Mal wohl überhaupt taucht hier sein Name auf einem Theaterzettel auf.
Fritz Wunderlich auf jenen vielbeschworenen Brettern, welche die Welt bedeuten! Dieser Anfang, in Kusel im Winter 1947/48, sah allerdings wenig heroisch aus. Mittun, Spaß haben im Kreise Gleichaltriger – das war es, was für ihn zählte. Schauspieler- oder Sängerallüren hatte er keine; an die sprichwörtliche »große Karriere« zu denken wäre ihm nie ernsthaft in den Sinn gekommen. Sicher, für die Musik hatte er eine besondere Vorliebe: »Es stand für mich eigentlich immer fest, daß ich auf irgendeine Art Musik machen würde im Leben«, erzählte er rückblickend. »Nur wußte ich eben nicht, daß ich singen würde Ich bin sehr früh mit der Tanzmusik in Berührung gekommen, habe aber nie irgendwelche Ambitionen gehabt mit der Stimme«15 Fine große Aufbruchstimmung war damals spürbar, die alles zu erfassen und mitzureißen schien. Man war begeistert, ließ sich begeistern und anstecken: nämlich zu eigenem Tun. Nach den langen Jahren politisch verordneter Gleichschaltung, die sich lähmend auf das Kulturleben ausgewirkt hatte, war man glücklich, nun endlich wieder frei, gleichsam nach Lust und Laune agieren zu können. Im privaten Leben oder aber auf der Bühne. Kulturelle Veranstaltungen, Vergnügungsabende und Theateraufführungen, Dichterlesungen im improvisierten Kreis und Hausmusikabende bei Kerzenlicht: Alles stieß damals auf regen Zuspruch. Auch in Kusel. Zumal die großen kulturellen Metropolen fast ausnahmslos zerstört waren und Kunstschaffende vermehrt auf die entlegenen Gegenden, auf die Provinz setzten. Theatervereine wurden gegründet und Lesezirkel, neue Orchester formierten sich, Kammermusikgruppen fanden zusammen, Chöre entstanden. Irgendwo fand jeder seinen Platz: Mittun, wie gesagt, war die Hauptsache, war Freude und Befriedigung zugleich.
Fritz Wunderlich wollte hier nicht im Abseits stehen, im Gegenteil. »Er war immer schon ein theatralischer Mensch gewesen, improvisatorisch begabt. Aus dem Stegreif konnte er andere imitieren; gerne machte er den Kollegen auch etwas vor und hatte dann seine helle Freude, wenn die sich von ihm wirklich bluffen ließen.«16 Sicher, die Bühne hat da ihre eigenen Gesetze: Improvisieren und Faxenmachen allein genügen nicht. Übrigens konnte Fritz bald selber erfahren, daß die urtümliche Spiellust, die ihn stets antrieb, durch ein ganz sonderbares Gefühl beeinträchtigt werden kann. Durch ein Gefühl, das einen, meistens erst kurz vor dem Auftritt, wenn es ernst gilt, in gleichsam existentielle Nöte bringen kann. Die Rede ist vom Lampenfieber. Da war ein Johann-Strauß-Abend, veranstaltet von der Westricher Volksbühne mit dem verstärkten Orchester der Westricher Volksbühne. Kein Laientheater also, sondern ein professionelles Konzert. Heinz Leopold Sulanke, musikalischer Leiter des Pfälzischen Landestheaters in Kaiserslautern, dirigierte. »Zuerst sang Fritz das ›Gondellied‹ aus der Operette Eine Nacht in Venedig«, erinnerte sich Sulankes Gattin, die Sopranistin Liselotte Walter, die als Hauptsolistin engagiert war. »Fritz kam in einem etwas improvisiert wirkenden schwarzen Anzug auf die Bühne; einen Frack hatte er selbstverständlich nicht.« Zum krönenden Abschluß des Konzerts war ein Duett programmiert: »Wer uns getraut« aus dem Zigeunerbaron. »Wie wir kurz vor unserem gemeinsamen Auftritt hinter der Bühne standen, merkte ich plötzlich, daß Fritz schrecklich zitterte. ›Was ist denn los mit dir?‹ fragte ich erstaunt. ›Du zitterst ja!‹ Bleich hauchte Fritz: ›Ja, glauben Sie denn, daß ich wirklich neben Ihnen bestehen kann?‹« 17

Auch in der Kuseler Zeitung stieß man nun auf den Namen Fritz Wunderlich. Das erste Mal allerdings nur in einer ziemlich kärglichen Nebensatzkonstruktion und den Namen erst noch in Klammern gesetzt: »Nach dem Auftreten des jugendlichen Tenors (Fritz Wunderlich) entwickelte sich aus der Rahmenhandlung die zwerchfellerschütternde Szene des Astrologen und seiner entzückend doofen Klientin.«18 Die Rede ist von einer sogenannten »Werbe-Revue«, dargeboten von der Westricher Volksbühne, wiederum unter der musikalischen Leitung von Heinz Leopold Sulanke. Fritz Wunderlich gab hier das Operettenlied »Immer wenn ich fern dir bin, muß ich traurig sein« von Karl Bette zum Besten. Für seinen Auftritt kriegte er fünf Mark. Von dieser »zwerchfellerschütternden« Angelegenheit hätte der Sprung zur nächsten Aufgabe nicht größer sein können: Fritz verwandelte sich nämlich kurzfristig vom jugendlichen Tenor zum Charakterbariton. In der Märchenoper Hänsel und Gretel von Engelbert Humperdinck sang er die Partie des Vaters, des Besenbinders Peter. Selbstverständlich hatte man das Werk, das trotz seiner Bezeichnung »Märchenoper« manchmal mit an Richard Wagner gemahnenden Orchesterfluten aufwartet und an die Sänger entsprechend hohe Anforderungen stellt, bearbeitet und den Verhältnissen der Westricher Volksbühne angepaßt. »Ein Märchenspiel mit Musik von Humperdinck« heißt es denn auch auf dem Plakakt. Und noch etwas fällt dort auf: Friedrich Wunderlich steht auf der Liste der Mitwirkenden. Ein Zeichen dafür, daß Fritz nun mit vollem Namen, mit vollem Einsatz und gleichsam mit der Verantwortung eines erwachsenen Künstlers hinter seiner Leistung stehen wollte? Jedenfalls schien er die Frage nach einer sängerischen Zukunft erstmals ernsthaft ins Auge zu fassen. »Fritz sang den Besenbinder Peter mit ungeschliffener Naturstimme«, erinnerte sich Liselotte Walter. »Und nach der Aufführung ging er zu meinem Mann: ›Ach, Herr Sulanke‹, fragte er schüchtern, ›glauben Sie denn, es lohnt sich, meine Stimme ausbilden zu lassen?‹ Daraufhin mein Mann: ›Na, sag mal, bei wem soll es sich denn lohnen, wenn nicht bei dir!‹«19
»Die Aufführung bedeutet, nach der gelungenen ›Werbe-Revue‹, eine weitere Steigerung«, schrieb Joseph Müller-Blattau über die Kuseler Aufführung von Hänsel und Gretel. Wiederum einen Nebensatz widmete er in seiner Kritik auch »dem charakteristischen, schön singenden Vater (Fritz Wunderlich)« .20 Anschließend ging die Westricher Volksbühne mit beiden Stücken auf eine kleine Tournee, die Kulissen alle auf einen Lastwagen gepfercht, und spielte in den umliegenden Dörfern. Fünf Mark erhielt Fritz pro Abend, ein herausragendes Ereignis inmitten eines sonst mühseligen Alltags. Die Oberschule für Jungen hatte er im Sommer 1948, nach Abschluß der siebten Klasse, verlassen und war an die Pädagogische Akademie übergetreten. Nicht zuletzt wegen seiner häufigen krankheitsbedingten Absenzen, denn nach wie vor machte er Tanzmusik. Oft spielte er in den amerikanischen Unteroffiziersclubs im benachbarten Baumholder, meistens zusammen mit vier Kollegen, alle mit schwarzem Hemd, schwarzer Hose und einer Fliege uniformiert. Auch eine eigene Band hatte er gegründet, »Die Hutmacher«, sieben bis neun Musiker, je nach Bedarf. Sie spielten zum Tanz auf, bei Festen und Wochenendveranstaltungen, gaben die neuesten amerikanischen Schlagermelodien zum besten, wobei Fritz abwechslungsweise Trompete spielte, zum Akkordeon griff oder auch sang. Ein eigentliches Multitalent. Und seit geraumer Zeit auch ein fotografisches Talent: Er hatte sich von einem Kollegen eine alte Kamera erstanden, fotografierte im Schwimmbad aus verstecktem Hinterhalt die jungen Damen und verkaufte die Bilder an seine Kollegen.
Längst war der Mutter das außergewöhnliche musikalische Talent ihres Sohnes aufgefallen. Stolz war sie und unschlüssig zugleich, vor allem, wenn sie an die Zukunft ihres Sohnes dachte. Musik als Beruf? Damit hatte sie sich selber ein Leben lang abgemüht, und sie war auf keinen grünen Zweig gekommen. Zudem war es stets ein Leben am Rande der Gesellschaft gewesen: Was waren denn schon Musikanten, die zum Tanz, zur Unterhaltung aufspielten? Nein, ihr Sohn sollte es besser haben. In ihrer unnachgiebig forschen Art hieß sie ihn Bewerbungen schreiben. Eine Bürostelle auf dem Landratsamt, die würde ihm zumindest eine sichere Zukunft in Aussicht stellen. Folgsam, aber widerwillig schrieb er solche Bewerbungen, und er brachte sie anschließend auch zur Post. Oder genauer: bis zur Brücke über den Kuseler Bach. Dort vertraute er alle seine Bewerbungen dem davonsprudelnden Wasser an. Und die Mutter wartete zu Hause auf einen Bescheid. Wie es weitergehen sollte, wußten beide nicht.21
Kaiserslautern, 1949. Seit einem Jahr leitete Emmerich Smola, einer der bekanntesten deutschen Rundfunkdirigenten, in der hier stationierten Zweigstelle des Südwestfunks Baden-Baden das Große Unterhaltungsorchester. Sein künstlerisches Profil verdankte Smola nicht zuletzt der Originalität seiner Programme, die er als Produzent betreute und die, vom einfachen Volkslied über Volksmusiksendungen bis zur großen Oper reichend, ein weites Spektrum von Unterhaltung boten. Im Herbst dieses Jahres produzierte Smola eine Sendung »Hausmusik bei Zelter«, ein Porträt des kleinformatigen Berliner Komponisten und Goethe-Freundes Carl Friedrich Zelter, welches Einblick in das Berliner Musikleben zu Beginn des 19. Jahrhunderts geben sollte. Das Manuskript zu dieser Sendung hatte Joseph Müller-Blattau geschrieben; nun suchte Smola nach einem kleinen Chor, der die verschiedenen Lieder und Vokalsätze in dieser »Hausmusik bei Zelter« singen sollte. »Müller-Blattau, der seinerzeit an der Pädagogischen Lehrerakademie in Kusel unterrichtete…, sagte mir auf meine Ratlosigkeit hin, daß es dort einen entsprechenden Chor gäbe«, erzählte Smola später. »Ich solle ihn mir doch anhören. Also fuhr ich hin, und auf der Bühne eines Landgasthauses – in den Tannenkulissen einer vergangenen Laientheateraufführung – stand nun der Chor. Recht schmalbrüstige junge Männer; aber es wurde auffallend frisch gesungen. Ein Vorsänger fiel mir so stark auf, daß ich Müller-Blattau im Verdacht hatte, er habe mir einen echten Sänger unterschoben. Dieser aber versicherte mir, daß es sich bestimmt um einen Anstaltsangehörigen handle, was mich wiederum zu der hier recht unbeliebten Bemerkung veranlaßte, daß es für so eine Begabung doch zu schade wäre, im Lehrerberuf unterzugehen…«22
Natürlich war es Fritz Wunderlich, und daß seine Stimme einem Kenner wie Emmerich Smola auffiel, hatte seinen Grund. Seit einigen Wochen nämlich nahm Wunderlich Gesangsunterricht. Sulankes Antwort von damals: »Na, sag mal, bei wem soll es sich denn lohnen, wenn nicht bei dir!« war ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Eine Lehrerin wurde bald gefunden. Sulanke beriet sich mit einer seiner Sängerinnen am Pfälzischen Landestheater, und die schlug ihm ihre eigene Gesangslehrerin vor, die immer noch in Kaiserslautern unterrichtete, Käthe Bittel-Valckenberg. Fortan radelte Fritz einmal die Woche von Kusel nach Kaiserslautern, auf Hartgummireifen selbstverständlich, hin und zurück je 40 Kilometer. Ein ganzer Tag ging drauf, und das hieß für ihn: ein Arbeitstag war verloren. Sein Tätigkeitsfeld hatte er mittlerweile ausgedehnt: In der Nachbargemeinde Ehweiler amtierte er neuerdings als Dirigent. Aufgrund seiner zahlreichen Auftritte mit den »Hutmachern« war er eine regionale Berühmtheit geworden, »und so fragte man ihn eines Abends, ob er denn nicht Lust hätte, die freie Dirigentenstelle in Ehweiler zu übernehmen. Bereits am Freitag der folgenden Woche kam er pünktlich zur Probe angeradelt. In Erinnerung geblieben ist noch die abenteuerliche Lenkstange seines Fahrrades, die mit unwahrscheinlich vielen Lampen und Glocken ausgestattet war. Für eine Mark fünfzig, ein paar Eier, Wurst- und Butterbrote kam Wunderlich während der nächsten eineinhalb Jahre jede Woche zur Gesangsprobe nach Ehweiler.«23