Kitabı oku: «Fritz Wunderlich», sayfa 8
Für den Europäischen Phonoklub bestimmt war die im Brief ebenfalls erwähnte Liedplatte mit Friederike Sailer: Wunderlich sang Lieder von Beethoven, Brahms und Schubert sowie vier Schumann-Duette. Auch bei Willi Stech im Freiburger Landesstudio war er – am 20. und 21. Februar. Auf dem Programm standen fünf Titel: »Geh nicht fort« von Hans Moltkau, »O cara Maria« aus dem Film Die vertagte Hochzeit sowie »Der Duft, der eine schöne Frau begleitet« von Hans May, »Viele schöne Tage« von Hans Busch und »Kleiner Cowboy« aus Emmerich Kálmáns Operette Arizona Lady. 800 Mark Honorar kriegte er dafür. Das war fast doppelt soviel wie das Monatsgehalt, das ihm die Stuttgarter Oper bezahlte.
1949, im Rahmen der Salzburger Festspiele, war Carl Orffs Antigonae uraufgeführt worden; nun bereitete Wieland Wagner die Stuttgarter Erstaufführung vor. Orff war für die Stuttgarter so etwas wie ein »Hauskomponist«: »Seine Opern… waren bei uns daheim«, erzählte Generalintendant Schafer. »Wir gaben sie alle, mit Ausnahme des rein bayerischen Stücks ›Astutuli‹ … Es waren die ersten und dauerhaftesten Erfolge, die wir mit der modernen Oper hatten.«95
Antigonae stellt im Gesamtwerk Orffs eine entscheidende Wendung dar: die Wendung zur Tragödie. Orff folgte dem unveränderten, unverkürzten Wort des Sophokles in Friedrich Hölderlins Übertragung. Eine Nachdichtung eher als eine Übersetzung; Verse wie in Stein gehauen, unnachgiebig, »mittelbar faktisches Wort« nach Hölderlins eigener Terminologie.96 Orff ging es darum, dieses Wort neu, aus seiner eigenen Zeitgenossenschaft heraus, zu erfahren. Deklamation allein, Sprechtheater also, genügte ihm nicht. Seine Idee einer Wiedergeburt der antiken Tragödie ließ sich nur mit mimisch-musikalisch-deklamatorischen Mitteln realisieren, mit dem ursprünglichen Ineinander von Klang und Gestik, Wort und mimischer Bewegung. Übrigens eines der ältesten, immer wieder aufgegriffenen Anliegen der europäischen Musikgeschichte, reichend von den ersten Bemühungen der Florentiner Camerata im 16. Jahrhundert, aus denen die Kunstform der Oper überhaupt erst entstanden ist, über die Reformopern Glucks bis zu den romantischen Visionen Richard Wagners vom Musikdrama als einem Gesamtkunstwerk. Musik im ursprünglichen griechischen Wortverstand meint ja die Dreiheit von Wort, Klang und Tanz. Reden und Wechselreden, Botenberichte und Chöre: Sie bilden bei Orff das musikalische Formgerüst. In der Antigonae dominiert ein über weite Strecken auf dem gleichen Ton gehaltenes Psalmodieren, ein Gleichschritt langer Ostinati, durchsetzt mit kräftigen Akzenten, mit Intervallsprüngen, rhythmischen Verschiebungen und melismatischen Koloraturen. Diese neue Sangesart, zweifellos keine leichte Aufgabe für die Sänger, wird von einem Klangkörper ganz elementarer Art getragen und gestützt: an Streichern nur eine Gruppe von Kontrabässen, dazu vielfältig besetztes Schlagzeug, sechs Klaviere, vier Klaviere zu vier Händen, vier Harfen, Holzbläser, Trompeten, Xylophone, verschiedene Trommeln, Röhrenglocken und Glockenspiel, Gongs, Tamtams und Tamburine.
Um den Sängern eine erste Idee von dieser neuartigen Musik zu vermitteln, baute Walter Hagen-Groll, der Studienleiter, auf der Probebühne eine improvisierte Schlagzeuggruppe um seinen Flügel auf und bediente sie, wo immer er eine Hand oder einen Fuß frei hatte, auch selber. »Wieland Wagner kam mit einem volkommen intakten dramaturgischen Konzept zur ersten Probe«, erzählte Hagen-Groll, »und er hielt den Sängern eigentliche Einführungsvorträge. Alles war geistig und intellektuell untermauert, stand auf einem festen Fundament. Nicht ein einziges Mal habe ich es erlebt, daß ein Sänger daran gezweifelt und ihn beispielsweise gefragt hätte: ›Ja, meinen Sie wirklich, daß man das machen kann?‹ Besonders wichtig war für Wieland Wagner das Statuarische, die Bewegungsregie. Er konnte zu Martha Mödl – sie sang die Rolle der Antigonae – beispielsweise sagen: ›Bei dieser Stelle gehst du jetzt nicht wirklich, sondern nur innerlich auf deine Schwester Ismene zu und berührst sie. Dein Arm reicht zwar nicht über die fünf Meter Distanz, aber wenn du sie innerlich berühren willst und das ausdrückst, dann wächst dein Arm deiner Schwester entgegen.‹«
Für Wunderlich war das eine vollkommen neue Welt. Ungewöhnliche Theaterarbeit unter der Aufsicht eines genialen Erneuerers des Musiktheaters, und ungewohnte Musik auch. Er sang einen der fünfzehn Thebanischen Alien. »Die standen manchmal wohl eine halbe Stunde am selben Fleck. Wenn sie aber, auch einzeln, nur einen einzigen Schritt nach vorne traten, dann wichen die Zuschauer im Publikum innerlich gleichsam einen Schritt zurück – so intensiv und stark wirkte diese Bewegung.«97 Der asketische Stil des Werks wurde von Wieland Wagner auch szenisch betont: mit einer vorhanglosen freien Bühne ohne irgendwelche Aufbauten, eingegrenzt einzig mit schwarzen Seidensoffiten. Und die Kostümierung der Solisten beschwor mit ihren blauen Plastikperücken und abenteuerlichen Gewändern eine archaisch-barbarische Antike: Der letzte Rest eines romantisierenden Illusionstheaters war getilgt. Für das Publikum alles andere als leichte Theaterkost. Aber es schien sie problemlos goutiert zu haben: »Ein Ausnahmewerk der Musikbühne unserer Zeit hatte sich, wie der anhaltende Schlußbeifall bezeugte, auf einer Repertoirebühne imponierend bewährt«, resümierte Kurt Honolka in seiner Kritik.98
Am Rande notiert: Während der Antigonae-Proben muß Wunderlichs Stimme in besonderer Weise aus dem Verein der fünfzehn Thebanischen Alten herausgeklungen haben. Einem zumindest fiel dieser Stimmklang auf – Wieland Wagner nämlich. Und was keiner gedacht hätte, geschah: Wagner lud den jungen Wunderlich ein, in Bayreuth den Lohengrin zu singen. Eine absurde Idee? Oder eine verlockende? Möglicherweise hätte er auf der Bayreuther Festspielbühne als konkurrenzlos junger Schwanenprinz in Silberrüstung einen fulminanten Einzug gehalten. Dennoch lehnte Wunderlich rundweg ab: Er sei noch zu jung, um solche Aufgaben zu übernehmen; das würde ihn von seinem eigentlichen Weg abbringen.

Übrigens waren das nicht die einzigen heldentenoralen Anfechtungen, denen Wunderlich damals ausgesetzt war. Am 14. und 18. Juni gastierte der weltberühmte italienische Tenor Mario del Monaco in zwei Othello-Vorstellungen an der Stuttgarter Oper. Zwei der sprichwörtlichen Zebravorstellungen – Wunderlich war in der kleinen Partie des Cassio ebenfalls mit dabei. Von vielen wurde del Monaco zwar als eindimensionaler Brüller abgetan, als ein Sänger, dem jedes Differenzierungsvermögen abgeht. Dennoch, Wunderlich war von der schieren Stimmgewalt und strahlkräftigen Italianità derart beeindruckt, daß er den großen Kollegen zu Hause nachzuahmen versuchte. Irgendwie müsse es doch auch ihm gelingen, solch herrliche und herrlich laute Töne herauszukriegen. Doch er stellte diese heldentenoralen Versuche bald wieder ein, weil er sich innerhalb kürzester Zeit hoffnungslos heiser geschrien hatte.
Gefahren, denen jeder junge Sänger irgendwann im Verlauf seiner Karriere einmal ausgesetzt ist. Wichtig ist, daß man diese Gefahren rechtzeitig erkennt. »Man muß eine ganz exakte und präzise Linie vorausberechnen«, meinte Wunderlich Jahre später in einem Gespräch mit Wolf-Eberhard von Lewinski. »Wenn man dieser Linie dann aufgrund von irgendwelchen Verlockungen zu früh aus dem Wege geht, führt das unweigerlich in die Katastrophe … Ich hatte das Glück, in Ferdinand Leitner einen hervorragenden Gesangsfachmann als Generalmusikdirektor zu haben, der mir seinerzeit Heldentenorallüren schon aus dem Kopf trieb … Wenn man mit fünfundzwanzig anfängt und mit siebenundzwanzig schon den Lohengrin singt, dann kann man mit Sicherheit rechnen, daß man mit fünfunddreißig fertig ist. Stimmbänder sind keine Fäuste, Stimmbänder sind ein Teil des menschlichen Organismus. Und es ist eine alte Erfahrungstatsache, von so vielen Sängern schon bewiesen, daß man erst mit fünfundvierzig auf dem Höhepunkt seiner Karriere steht..«99
SECHSTES KAPITEL
Neue Rollen auf der Bühne – und privat: Fritz Wunderlich heiratet
Carl Orff, Hölderlin, Antigonae, Wieland Wagner: Für Wunderlich waren das aufregende Begegnungen mit einer völlig neuen Theaterwelt. Anziehend und dennoch befremdlich, begeisternd und irgendwo auch ungeheuerlich. Und ganz am Rande dieser Welt hatte er etwas bemerkt, das sein Interesse bald vollständig beanspruchte. Vier Harfen schreibt Orff in der Antigonae-Partitur bekanntlich vor. Im Stuttgarter Opernorchester gab es aber nur zwei Harfenstellen; also mußten die restlichen mit Zuzügern besetzt werden. Mehrmals bewährt in dieser Funktion hatte sich die Tochter des ersten Flötisten im Opernorchester, Eva Jungnitsch. Als Harfenstudentin war sie oft schon für Bühnenmusiken beigezogen worden, auch im Schauspielhaus. Dem Opernbetrieb stand sie recht zwiespältig gegenüber. Vor allem fand sie, Sänger seien eigentlich ziemlich eingebildet, immer nur auf Bewunderung aus. Mit ihr sollte da keiner rechnen können, und entsprechend unauffällig schlich sie sich bei den Proben jeweils an den Sängern vorbei in den Orchestergraben hinunter. Staatskapellmeister Dünnwald sah sich eine dieser Antigonae-Proben an, und zwar von der Seitenbühne aus. »Plötzlich stand Wunderlich neben mir und sagte: ›Du, heute habe ich die Frau meines Lebens gesehen! Die heirate ich!‹ Ich war ziemlich verdattert: ›Sag mal, machst du einen Witz?‹ ›Nein, das ist kein Witz. Die heirate ich.‹ ›Ja, wen denn?‹ wollte ich wissen. Und da zeigt er verstohlen in den Orchestergraben hinunter, auf die Aushilfsharfenistin.«100
Eva Jungnitsch ahnte vorläufig nichts von ihrem Glück. »Bei einer der folgenden Proben mußte dann plötzlich unterbrochen werden; irgendwelche Heizungsrohre waren defekt, und der ganze Zuschauerraum füllte sich mit Dampf. Die Sänger kamen nach vorn an die Rampe und schauten neugierig in den Orchestergraben hinunter. Auch Fritz Wunderlich. Er hat direkt zu uns Harfenistinnen geblickt und scherzend gemeint, der Dampf müsse wohl aus den Harfen kommen.« Für solche Späßchen hatte Eva Jungnitsch allerdings kein Gehör: »Ich reagierte total ablehnend, und Fritz scheint denn auch instinktiv gefühlt zu haben, daß es nicht günstig ist, mich in der Oper auf diese Weise anzusprechen.«101 Auf der Bühne hatte Eva Jungnitsch den Stuttgarter Nachwuchstenor schon einmal gesehen – beim Stuttgarter Opernball zwei, drei Wochen zuvor. Einen Superauftritt hatte sich Wunderlich ausgedacht, zum Vergnügen und Gelächter der Zuschauer: Auf den hehren Brettern der Stuttgarter Oper brillierte er mit seiner Paradenummer aus früheren Studententagen. Er packte seine Trompete aus dem mitgebrachten Etui und servierte dem verdutzten Publikum seine Louis-Armstrong-Parodie. Das war der einzige Eindruck, den Eva Jungnitsch bislang von Wunderlich hatte. Einige Tage später war ihr Vater ganz begeistert von der Oper nach Hause gekommen: Traxel habe für die Zauberflöte absagen müssen, und da sei ein junger Nachwuchssänger eingesprungen – endlich wieder einmal eine echte, schöne Tenorstimme.
Bald sollte Eva Jungnitsch erneut Gelegenheit bekommen, Wunderlich zu hören. Vorerst hatte dieser allerdings einige Konzertverpflichtungen wahrzunehmen. Am 18. März sang er, übrigens zum ersten Mal, Mozarts Requiem in der Stephanskirche in Konstanz. »Ebenbürtig neben Ursula Buckels hinreißend seelenvollen und klar strahlenden Sopran trat der helle Glanz und die fesselnde Ausdrucksgewalt der Tenorstimme Fritz Wunderlichs.«102 Dann folgten zwei Aufführungen von Bachs Johannes-Passion, zuerst in Stuttgart mit dem Stuttgarter Kantatenchor, anschließend im Opernhaus Nürnberg als 5. Städtisches Philharmonisches Konzert. Hier hatte Wunderlich besonderen Erfolg: »Bei den Solisten… muß vor allem der Evangelist von Fritz Wunderlich gerühmt werden, dessen Tenor vom feinsten Piano bis zum strahlenden Forte so hervorragende Eigenschaften hat, daß man von einem glanzvollen Phänomen sprechen kann. Dazu kam ein inniger und einfühlsamer Vortrag, der eine begeisternde Gesamtleistung ergab.«103
Zwei Wochen später folgte Handels Messias mit dem Philharmonischen Chor und den Stuttgarter Philharmonikern unter der Leitung von Heinz Mende, Chordirektor der Württembergischen Staatsoper. Wunderlich sang an der Seite von Trude Eipperle, Margarete Bence und Ernst Denger. Dieses Konzert hörte sich auch Eva Jungnitsch an und wartete anschließend auf eine Freundin, die im Chor mitgesungen hatte: Man war verabredet. Wunderlich scheint sie während des Konzerts im Publikum entdeckt zu haben. Jedenfalls kam er nach Konzertschluß sehr schnell zum Künstlerausgang und entdeckte dort die wartende Eva. »Er kam auf mich zu und wollte wissen, wie es mir gefallen habe. Und bei der nächsten Antigonae-Vorstellung schickte er mir einen Korrepetitor in den Orchestergraben hinunter. Der hatte den Auftrag, mir zwei Karten anzubieten für das nächstfolgende Wunderlich-Konzert, Haydns Schöpfung in der Stuttgarter Eberhardskirche. ›Warum kommt er denn nicht selbst?‹ habe ich mich gefragt und den Korrepetitor unverrichteter Dinge wieder zurückgeschickt. Kaum war ich zu Hause, schellte das Telefon; Wunderlich meldete sich und fragte ziemlich aufgeregt: ›Ja, wollen Sie nun die Karten oder nicht?‹ Natürlich habe ich sie dann genommen.«
So kam ein Kontakt zustande. Vorerst sehr förmlich: Herr Wunderlich, Fräulein Jungnitsch. Mal ein Gespräch, mal ein kleiner Spaziergang.

Am 25. April ging Bedřich Smetanas Oper Die verkaufte Braut in einer Neuinszenierung erstmals über die Bühne. Josef Traxel sang den Hans, Wunderlich war als Zweitbesetzung vorgesehen und konnte also Fräulein Jungnitsch zur Premiere einladen. »Da war ich schon ein bißchen nervös – was dann auch Folgen hatte. Ich fuhr meinen Vater mit dem Wagen zur Oper, mußte dort, um in den Parkplatz hineinzukommen, den Gegenverkehr kreuzen. Vielleicht habe ich nicht aufgepaßt – jedenfalls kollidierte ich mit einem Motorroller. Nichts Schlimmes, zum Glück; immerhin mußte die Polizei einen Rapport aufnehmen.« In der Oper sprach sich das unter den Musikern selbstverständlich sofort herum; auch Wunderlich hörte davon. Sofort ging er hinaus, um Eva Jungnitsch beim Erstellen des Polizeirapports behilflich zu sein. »Inzwischen hatte die Premiere der Verkauften Braut längst begonnen, doch hatten wir keine Lust mehr, noch hineinzugehen. ›Ich fahr’ Sie noch ein bißchen mit meinem Wagen herum‹, schlug Wunderlich vor, ›damit Sie sich beruhigen können. Und dann kommen wir vor Vorstellungsschluß zurück und holen Ihren Vater ab.‹ Wir kurvten ungefähr eine Stunde in der Stadt herum; ich war ziemlich schweigsam. Und plötzlich sagte er, nun wolle er mich etwas fragen, aber ich dürfe bitte jetzt keine Antwort geben, sondern ich solle erst darüber nachdenken. Er wolle mich heiraten.«104
Bald folgten die offiziellen Vorstellungsbesuche, zuerst bei den Eltern Evas, anschließend bei Mama Wunderlich in Kusel. Bislang hatte Fritz seine Mutter regelmäßig zu Konzerten mitgenommen. Sie war dann stets sehr glücklich und genoß die Erfolge ihres Sohnes, empfand sie gleichsam als kleinen Lohn für all ihre aufopfernde Sorge in entbehrungsreichen Kriegsjahren. Nun würde Eva ihn begleiten, und sie mußte sich auf ein einsameres Leben einstellen. Aber sie blieb zuversichtlich.
Seit dem 1. Mai duzten sich Eva und Fritz; am 25. August 1956 wurde in Stuttgart im kleinen familiären Rahmen geheiratet. Die kirchliche Trauung, die Fritz sehr ernst nahm, fand in Kusel statt, am frühen Morgen und ohne einen einzigen Zaungast. Vollzogen wurde sie von jenem Dekan, der Fritz einst konfirmiert hatte. Anschließend bezogen die Neuvermählten eine kleine Mansardenwohnung im Haus von Evas Eltern in Stuttgart-Heumaden. Am Sonnenweg 48.
Seit längerer Zeit ließ sich Wunderlich durch die Theateragentur Felix Ballhausen vertreten. Bereits im April waren die bestehenden Verträge mit der Stuttgarter Oper revidiert worden. Schließlich sang Wunderlich nun Hauptpartien. Vorbei war es mit den »Wurzen«, den kleinen Rollen. Und das sollte künftig auch entsprechend honoriert werden: 12000 DM sollten Wunderlich in der Spielzeit 1957/58 ausbezahlt werden, so steht es im Vertrag – dreimal soviel wie seine Anfangsgage beim Antritt des Stuttgarter Engagements. Und für die Spielzeit 1958/59 wurde vertraglich gar ein Betrag von 13200 DM festgelegt.
Ende April sang Wunderlich erstmals den Pang in Puccinis letzter Oper Turandot, eine mittelgroße Partie und nicht ohne Tücken, eine jener sechs Partien, die er in der laufenden Spielzeit noch einstudieren mußte. Am 14. Mai stand er zum ersten Mal als Hans in der Verkauften Braut auf der Bühne. Mit dieser Rolle, eigentlich für einen jugendlich-dramatischen Tenor geschrieben, kam er zweifellos an die Grenzen seiner stimmlichen Belastbarkeit. »Am Anfang hat er sich auch merklich schwer getan damit«, erinnerte sich Josef Dünnwald, der die Aufführungen dirigierte, »vor allem mit den dramatischen Stellen. Und schließlich ist es eine große Partie. Er hat sie später sehr gut gesungen und vor allem sehr gern.« Bereits eine Woche später, am 22. Mai, das nächste Rollendebüt: In Luigi Dallapiccolas Einakter Nachtflug, der in Stuttgart zum ersten Mal präsentiert wurde, sang Wunderlich die Partie des Piloten Pellerin. Ein publikumswirksames Werk, musikalisch nicht eigentlich »modern«, und es kam in Stuttgart entsprechend gut an. Der Komponist kam zur Premiere extra nach Stuttgart. »Im Orchester schmissen die Hörner einmal ziemlich arg«, erinnerte sich Staatskapellmeister Dünnwald. »Sie setzten zu früh ein, und es ging ein paar Takte ziemlich durcheinander – das klang dann wirklich ›modern‹. Am Schluß der Vorstellung kam Dallapiccola selbstverständlich zu uns auf die Bühne, um den Applaus des Publikums entgegenzunehmen. Ich entschuldigte mich bei ihm für den Patzer; er aber schien nicht begriffen zu haben und fragte, was denn los gewesen sei. Ich machte ihn auf die mißlungene Stelle der Horner aufmerksam. ›Das habe ich überhaupt nicht bemerkt‹, war seine Antwort.«
Am 16. Juni, zwischen den beiden Othello-Gastspielen Mario del Monacos, sang Fritz Wunderlich zum ersten Mal den Belmonte in der Entführung aus dem Serail, seine zweite große Mozart-Rolle. Einige Klavierproben waren vorher angesetzt worden – Wunderlich mußte wie üblich in eine längst bestehende Inszenierung hineinspringen, ohne Proben mit einem Regisseur und auch musikalisch nur in knappstem Rahmen vorbereitet. Diesmal gab es allerdings Probleme: Die Koloratursopranistin Olga Moll, seit Jahren ein geschätztes Ensemblemitglied – sie sang die Konstanze –, weigerte sich, zusammen mit einem Anfänger zu proben. Dünnwald, der die Probe leitete, nahm sie ins Gebet: Wenn einer auf der Bühne eine vollwertige Leistung erbringe, sei er auch ein vollwertiger Kollege. »Sie ließ sich aber nicht belehren, sondern stellte sich teilnahmslos ans Fenster und guckte hinaus. Ich redete Fritz dann zu – er solle sich nichts daraus machen, solle seine Partie möglichst schön singen, dann sei die Schlacht für ihn sicher gewonnen. Und tatsächlich hielt er am Abend phänomenal durch und konnte einen großen persönlichen Erfolg buchen.«105
Das Jahr 1956 – für die musikalische Welt ein fast magisches Datum: 200 Jahre zuvor, am 27. Januar 1756, wurde in Salzburg Wolfgang Amadeus Mozart geboren. Mozart-Feiern und Festaufführungen waren demnach an der Tagesordnung. Die Württembergische Staatsoper präsentierte gleich zwei Neuinszenierungen von Mozart-Opern: am eigentlichen Geburtstag Mozarts den Don Giovanni und zum Saisonschluß, am 30. Juni, Die Gärtnerin aus Liebe. Und diese im stimmungsvollen Barocktheater des Schlosses in Ludwigsburg. Der siebenjährige Mozart war hier einst Gast gewesen, zusammen mit der Schwester Nannerl und dem Vater Leopold. Allerdings wurden sie von Herzog Karl Eugen von Württemberg nicht zur Audienz vorgelassen, sondern mußten mit dem Hofoberkapellmeister Niccolo Jommelli vorliebnehmen. Dieser zeigte sich vom Spiel des Siebenjährigen sehr beeindruckt und meinte, »daß es zu verwundern und kaum glaublich seye, daß ein Kind deutscher Geburt so ein Musikalisches genie und so viel Geist und Feuer haben könne«.106
In der Gärtnerin aus Liebe, diesem frühen Dramma giocoso Mozarts, sang Wunderlich den Belfiore, eine eigentümliche Mischung aus männlichen Tugenden und Eitelkeiten bis hin zur grotesken Persiflage eines Narziß und angeberischen Weiberhelden. An seiner Seite Trude Eipperle (Arminda), Hetty Plümacher (Ramiro), Olga Moll (Marchesa Violante Onesti) und Ellinor Junker-Giesen (Serpetta). Für den erkrankten Ferdinand Leitner sprang Staatskapellmeister Dünnwald ein. »Mozart in einer Traumresidenz«, titelte die Welt am 2. Juli 1956. »Im Wettbewerb um die Palme der deutschen Mozartstädte ist Ludwigsburg dieses Jahr der Preis zuerkannt worden… Für die Festvorstellung hatte die Stuttgarter Staatsoper eine Überraschung parat: einen neuen Mozarttenor, Fritz Wunderlich, sehr jung und zu den glänzendsten Hoffnungen berechtigt. Er überragte das Ensemble der bewährten Stimmen…« Auch die Stuttgarter Zeitung war des Lobes voll: »Die große Überraschung des Abends war der fünfundzwanzigjährige Fritz Wunderlich als Graf Belfiore. Er hatte aristokratische Delikatesse im Spiel und zugleich Gold in der Kehle. Wunderlich trat als ein geborener Mozart-Tenor auf – mit einer erstaunlichen Schmiegsamkeit distinguierten musikalischen Ausdrucks und verblüffender Schönheit der makellos reinen Höhe. Eine schlanke, edle lyrische Stimme, ein Geschenk und ein Instrument, das er jetzt schon ausgezeichnet beherrscht…«107
Kaum wieder in Stuttgart zurück, begannen für Wunderlich die Proben zu einer letzten Neuinszenierung – nicht im Großen Haus der Württembergischen Staatstheater, sondern unter freiem Himmel auf dem Anlagensee. Drei Spielbühnen, insgesamt über 1500 Tonnen schwer, waren auf dem See aufgebaut worden; am Seeufer hatte man eine riesige Zuschauertribüne mit 4000 Sitzplätzen erstellt. Vom 12. Juli bis 15. August sollte hier Johann Strauß’ Operette Eine Nacht in Venedig über die Bühne gehen. Die meisten Partien waren doppelt besetzt; Wunderlich sang alternierend mit Hans Blessin den Caramello. Neben dem hauseigenen Ensemble waren renommierte Operettenstars verpflichtet worden: Erna-Maria Duske von der Hamburger Staatsoper und Otto Falvay vom Gärtnerplatztheater in München – »doch bewegten sich«, wie in den Stuttgarter Nachrichten zu lesen war, »auch die hauseigenen Sänger erfreulich munter. An deren Spitze ist Fritz Wunderlich als quicklebendiger und weit über Operettenformat schön singender Caramello zu rühmen… «108
Saisonschluß, Sommerpause im Opernbetrieb. Bereits am 1. August wurde Wunderlich für das Schlußkonzert der diesjährigen Bachwoche in Ansbach erwartet. Zwei weltliche Bach-Kantaten standen auf dem Programm: »Auf, schmetternde Töne« BWV 207a und »Tönet, ihr Pauken!« BWV 214. Werner Egk dirigierte, am Cembalo begleitete Karl Richter. Neben Wunderlich sangen Friederike Sailer, Sieglinde Wagner und Dietrich Fischer-Dieskau. »Nachdem Werner Egk den Eingangschor »Auf, schmetternde Töne‹ geprobt hatte, erhob sich Fritz Wunderlich und sang«, erzählte Fischer-Dieskau von dieser ersten Begegnung. »Fast erschrak ich beim Hören, denn diese Stimme hatte einen berückenden Schmelz und dabei doch das notwendige Gran Metall im Klang, wie es so von deutschen Tenören schon seit langem nicht mehr zu vernehmen war. In der Probenpause fragte ich den still in einer Saalecke wartenden Mann, wo er denn herkomme und seit wann er sänge.«109
Zwei Monate später sang Wunderlich erneut Bach: diesmal die h-moll-Messe. Und zwar im Rahmen dreier Konzerte des Freiburger Bachchors, wie immer unter der Leitung von Theodor Egel. Als Orchester hatte er das Musikcollegium Winterthur gewonnen. Erste Station dieser kleinen Gastspielreise war Stuttgart: die neueröffnete Liederhalle mit dem rund 2000 Zuhörern Platz bietenden Beethovensaal. Wunderlich hatte offensichtlich nicht seinen besten Tag: »In den Arien hörten wir Maria Staders kostbaren Sopran, Marga Höffgens warme Altstimme, Fritz Wunderlichs etwas zurückhaltenden Tenor und Heinz Rehfuss’ schönen Bariton.«110 Daß Wunderlich zurückhaltend sang, hatte seinen guten Grund. Mit seiner Frau hatte er einige Urlaubstage im heimatlichen Kusel verbracht. Doch plötzlich kriegte er Zahnschmerzen, und er mußte einen Arzt aufsuchen. Ein retinierter Weisheitszahn machte ihm derart Probleme, daß der Arzt das Zahnfleisch über dem Weisheitszahn mit einem kleinen Schnitt eröffnete, um dem Zahn Raum zu schaffen. Zurückhaltung und Vorsicht beim Singen waren also geboten. Doch es sollte noch schlimmer kommen.
Tags darauf war ein Konzert in Frankfurt angesetzt, der zweiten Station auf dieser kleinen Konzerttournee, und zwar im Großen Sendesaal des Hessischen Rundfunks. Drei Werke standen diesmal auf dem Programm: Totentanz von Arthur Honegger, der dritte Teil von Frank Martins Oratorium In terra pax sowie Bachs Magnificat. Das Konzert wurde direkt im Rundfunk übertragen. Doch als das Konzert beginnen sollte, war Wunderlich nicht da. Zwar hatte er erst im zweiten Werk zu singen, doch wurde man unruhig, rief sicherheitshalber in seinem Hotel an und erhielt den Bescheid, er sei schon weg. Also war er unterwegs – zuversichtlich begann Egel mit dem Konzert. Um so größer sein Erstaunen, als er, nach dem einleitenden Totentanz, Wunderlich noch immer nicht in der Künstlergarderobe vorfand. Was sollte man tun? Die Übertragung am Rundfunk lief, das Publikum im Saal wartete, eine Unterbrechung des Konzerts war nicht denkbar. Also mußte man ohne Wunderlich auskommen. Die Solisten und Egel gingen ohne ihren Tenor zurück in den Sendesaal aufs Konzertpodium. Die Techniker und der Aufnahmeleiter im Kontrollraum blickten fragend durch die Glasscheibe. Egel deutete ihnen mit knapper Geste an, daß er die Tenorpartie selber singen werde. Entsprechend wurde der Galgen mit dem Mikrofon zum Dirigenten geschwenkt; dann gab dieser den Einsatz, und die Aufführung begann. Vor den Seligpreisungen des Tenors steht eine lange Passacaglia für Alt; Marga Höffgen sang sie mit warmer Expressivität – da plötzlich tauchte Wunderlichs Gesicht an der Glastür des Bühneneingangs auf. Egel winkte ihm ab: Er solle ja nicht hereinplatzen, zumal die Sendung lief und sein Mikrofon ja weggeschwenkt war.111 Was war passiert? »Vor dem Konzert hatte er sich wie üblich im Hotel niedergelegt, um zwei, drei Stunden zu schlafen«, erzählte Eva Wunderlich. »Wie er erwachte, hatte er den Mund voller Blut. Der Schnitt, der dem Weisheitszahn hätte Raum schaffen sollen, war erneut aufgebrochen, und so mußte Fritz notfallmäßig zur Zahnbehandlung in die Kieferklinik, wo die Blutung gestillt wurde. Anschließend sind wir schnellstens ins Funkhaus hinübergefahren.«112 Für die Seligpreisungen war es schon zu spat – immerhin konnte Wunderlich im abschließenden Magnificat noch singen, käseweiß im Gesicht und sehr erregt. Selbstverständlich wurde das von den Kritikern vermerkt: »Ein Husarenstück des Dirigenten verdient hier notiert zu werden«, las man am 1. Oktober in der Frankfurter Neuen Presse. »Kurzerhand übernahm er nämlich selbst das Tenorsolo, weil der Solist vorübergehend unpäßlich war, und zwar mit untadeligem Gelingen.«
Pausieren, Absagen war nicht möglich: Zwei Tage später schon fand das dritte Konzert statt: wiederum die h-moll-Messe, diesmal in Berlin – Wunderlichs erster Auftritt in dieser einst so bedeutenden Musikmetropole. »Die solistischen Vokalpartien hatten Elisabeth Grümmer, Marga Höffgen und Dietrich Fischer-Dieskau übernommen, Sänger, die sich in oratorischen Werken Bachs vielfach bewährt haben; zu ihnen trat für die Tenorarien der Stuttgarter Fritz Wunderlich, der sich seiner Aufgabe mit sicherem Stilgefühl und kultivierter Stimmbehandlung entledigte«, hieß es im Telegraf. Und das Spandauer Volksblatt betonte, daß man sich die solistische Besetzung nicht besser hätte wünschen können: »Neben Elisabeth Grümmer, Marga Höffgen und Dietrich Fischer-Dieskau ein Tenor aus Stuttgart, den man sich hier merken sollte: Fritz Wunderlich.«113
Noch eine weitere Mozart-Opernrolle bescherte ihm das Mozart-Gedenkjahr: Mitte Oktober produzierte der Süddeutsche Rundfunk Stuttgart in der Liederhalle das deutsche Singspiel Zaide. Mozart hatte es 1779, vor dem Idomeneo, komponiert, und zwar für eine böhmische Operntruppe, die damals in Salzburg gastierte. Zwei Akte – insgesamt 15 Musiknummern – hatte Mozart vollendet, dann ließ er die Arbeit liegen. Der Titel Zaide stammt übrigens nicht vom Komponisten, sondern vom ersten Herausgeber der Partitur. Mozart nannte das Singspiel, komponiert auf ein Libretto von Johann Andreas Schachtner, Das Serail. In der Tat kann man das Werk, auch von der Thematik her, als Vorstufe zur Entführung aus dem Serail betrachten. Die Musik bietet nicht viel mehr als eine herkömmliche Charakterisierung der Figuren; allerdings ist die Zeichnung des duldenden Liebespaares, Zaide und Gomatz, ungleich besser und differenzierter gelungen als die der übrigen Figuren. Vor allem der erste Akt, welcher Gomatz und Zaide praktisch allein gehört, offenbart echte Mozartsche Anmut und Zartheit in der Empfindung. Fritz Wunderlich und Maria Stader sangen dieses Liebespaar – zwei der kostbarsten Mozart-Stimmen. Auffallend die hell timbrierte Stimme Wunderlichs und seine schlanke, kontrollierte Tongebung. Sein außerordentlich leichtgewichtiges, sprachbewußtes Singen läßt zeitweise fast an einen Buffotenor denken.114
Fritz Wunderlich privat: Auch das war eine Rolle, die er neu lernen und die sich einspielen mußte. Erst noch hatte er seiner Lehrerin geklagt, daß er alles, die kleinen Sorgen und die großen Ängste, stets mit sich allein abmachen müsse und ihn die Angst, daß er dem allem gar nicht standhalte, immer von neuem wieder überfalle. Er, der das Alleinsein nie ertragen konnte, wußte nun, daß zu Hause ein Mensch war, der ihm unbegrenztes Vertrauen entgegenbrachte und Anteil nahm an seiner Arbeit, an seinen beruflichen Nöten und Selbstzweifeln. Allerdings erzählte er zu Hause nur recht selten von der Oper – die Arbeit, sosehr sie seine Welt war, sollte zu Hause nicht eine vorrangige Rolle spielen. Auch ein stundenlanges Einsingen im Musikzimmer, wie das andere Sänger vor einer Vorstellung zu praktizieren pflegen, lag ihm fern. Entweder sei die Stimme da oder nicht, sagte er stets, und das merke er schon am Morgen, wenn er aufstehe. Überhaupt dachte er zu Hause möglichst wenig ans Singen. Was nicht heißt, daß er im Familienkreis kaum gesungen und also Musik in seinem Privatleben keine Rolle gespielt hätte. Ganz im Gegenteil: Oft spielte er Horn – am liebsten Mozarts Hornkonzerte, wobei ihn seine Frau am Flügel begleitete. Wenn er zu Hause sang, dann waren es nie jene Partien, die ihn zur Zeit gerade auf der Bühne beschäftigten. Viel lieber probierte er ganz andere Musik aus: Arien aus Tosca und Turandot beispielsweise oder sogar Baßarien. Seine liebste Arie im Don Giovanni sei Leporellos »Register-Arie«, hat er wiederholt beteuert; und auch die große Christus-Szene »Nehmet, esset, das ist mein Leib« aus der Matthäus-Passion sowie das Baßrezitativ »Am Abend, da es kühle war« sang er oft und gerne, nicht ohne herzlich zu bedauern, daß Bach diese Musik nicht für den Evangelisten oder den Tenorsolisten – also für ihn – geschrieben habe.