Kitabı oku: «Mörderisches Bamberg», sayfa 5
Überstunden
Dienstag, 29. August
Wieder war die Runde vom Vormittag im Besprechungszimmer zusammengekommen. Es war Punkt 19 Uhr, als Hagenkötter und Tina Meisel den Raum betraten. Auch die Telefonverbindung nach Erlangen stand. Am Ende der Leitung wartete Dr. Stich auf den Beginn der Besprechung. Jeder der anwesenden Polizeibeamten hatte die Obduktionsberichte sorgfältig gelesen. Keiner wollte sich eine Blöße geben.
Hagenkötter kam sofort zur Sache und griff zm bereitliegenden Telefonhörer. „Doc?“, brummte er in den Apparat.
„Bei der Arbeit.“
„Schön, dass Sie dabei sind“, freute sich der Hauptkommissar. „Ich stelle Sie jetzt auf Lautsprecher. Wir sitzen hier in großer Runde und haben Ihre beiden Obduktionsberichte gelesen.“
Allseitiges stummes Kopfnicken begleitete Hagenkötters Worte.
Der grinste, drückte ein Knöpfchen und fuhr fort: „Doc, Sie haben das Wort, wir lauschen.“
Es vergingen ein paar Sekunden, dann hallte ein tiefes Räuspern aus dem Lautsprecher. „Erst mal einen schönen Abend an alle. Beginnen wir mit dem Mädchen. Ja, ein wirklich interessanter Fall. Also, die Todesursache ist immer noch klar wie Kloßbrühe: Das Kind wurde erdrosselt und erst danach im Fluss abgelegt. In Ihrer Lunge befand sich kein Wasser. Die Sache mit der Fremd-DNA ist euch auch schon bekannt. Konntet ihr damit etwas anfangen?“
„Leider nicht“, antwortete Kriminalkommissar Ludwig Zahn. „Die haben wir nicht im Computer.“
„Schade“, fuhr Stich fort. „Dafür kann ich mit zwei traurigen Überraschungen aufwarten: Das Mädchen war keine Jungfrau mehr und – haltet euch fest – die Kleine hat Crystal Meth konsumiert. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Die Haaranalyse war eindeutig.“
„Wie sind Sie denn auf die Idee gekommen, eine Haaranalyse durchzuführen?“ Hagenkötter wirkte deutlich aufgewühlt und drangsalierte seinen Schnurrbart.
„Es war ihre Haut“, erklärte der Professor. „Sie hatte eine aschfahle Haut und eingefallene Wangen. Typische Merkmale von Meth-Konsumenten.“
„Aber das Mädchen lag doch über eine Woche in der Regnitz!“
„Stimmt, aber die spezielle Färbung ist mir doch spanisch vorgekommen. Im Zusammenhang mit diesen extrem konkaven Gesichtszügen. Sie dürfen sich über meinen guten Riecher ruhig freuen, Herr Hauprkommissar!“
„Natürlich, natürlich. Und am Ergebnis der Haaranalyse kann absolut kein Zweifel bestehen?“
„Nun, die Haaranalyse ist die zuverlässigste Methode, um festzustellen, ob jemand Rauschgift konsumiert hat“, klang es aus dem Lautsprecher. „Über das Blut oder den Urin sind die Substanzen nur wenige Stunden oder Tage nachweisbar. Mit den Haaren verhält sich das völlig anders, darin werden vom Körper verschiedenste Substanzen und Stoffwechselprodukte abgelagert. Die pigmentbildenden Zellen an den Haarwurzeln nehmen sie auf und binden sie in Melanin. Das ist das Pigment, das dem Haar seine Farbe verleiht.“
„Das heißt, das einmal konsumierte Crystal Meth wächst quasi nach außen“, platzte Kommissar Schmuck dem Rechtsmediziner ins Wort.
„So kann man das auch sagen“, antwortet Stich belustigt.
„Und woher wissen wir, dass es sich exakt um Crytal Meth handelt und nicht beispielsweise um Kokain?“, bohrte Tina weiter.
„Weil man über die Analysen mittels der sogenannten Gaschromographie und Massenspektronomie nicht nur Konsummenge und -häufigkeit feststellen kann, sondern vor allem die exakte Substanzart.“
„Aber wie zum Teufel kommt so ein junges Ding an Crystal Meth?“, wunderte sich Schmuck lautstark. „Da stimmt doch was nicht!“
„Genau das ist der Punkt“, pflichtete Hagenkötter ihm bei, „und genau das müssen wir herausbekommen. Jetzt fehlt uns als oberstes Puzzlestück nur noch die Identität der Toten. Dazu irgendeine hilfreiche Beobachtung, Doc?“
„Sorry, da kann ich nichts beitragen.“
Auch was den Tod des Kurienbischofs anging, brachte der zweite Obduktionsbericht keine bahnbrechenden Erkenntnisse. Der Professor bestätigte lediglich nochmals, dass der Kleriker mit einem Drahtseil erdrosselt worden war: „Da kommt nicht der geringste Zweifel auf, deutliches Erdrosseln. Am Opfer waren hauptsächlich auf den Wangen, der Zunge und der Innenseite der unteren Augenlider die typischen punktförmigen Blutungen – in den sogenannten Petechien – zu sehen. Der Blutstau ist dafür verantwortlich. Unser Bischof hatte keine Chance.“
Santi-Figli-di-Dio
Mittwoch, 30. August
Santi-Figli-di-Dio – Heilige Kinder Gottes war im Jahr 1963, im Auftrag des Papstes, von dem italienischen Bischof Angelo Marotti als Laienorganisation der römisch-katholischen Kirche in Rom gegründet worden. Das hatte Tina recherchiert. Genau wie bei der umstrittenen Laienorganisation Opus Dei handelte es sich um eine Personalprälatur, die vom Zweiten Vatikanischen Konzil angeregt und eingeführt worden war. Der eigentliche Sinn und die Aufgaben dieser institutionellen Rechtsform bestanden in der besonderen seelsorglichen Betreuung minderjähriger Jugendlicher, verbunden mit einer konsequenten geistlichen Erziehung im Sinne der katholischen Kirche.
An der Spitze der Organisation stand ein Prälat im Range eines Bischofs, der in seinem Tun vom Generalrat unterstützt wurde. Ansonsten herrschte eine strenge, hierarchische Grundordnung vor, ähnlich dem Vorbild der Diözesen. Mitglieder der Institution waren – der Name verriet es schon – im Wesentlichen Laien, die ihr Leben dem Ruf Gottes gewidmet hatten. Daneben gab es auch Priester, die sich in der ähnlich aufgebauten Gemeinschaft Zum Goldenen Kreuz organisiert hatten. Die Laien unterstanden in institutioneller Hinsicht dem regionalen Bischof und erhielten eine umfassende theologische Ausbildung. Die Regeln waren streng: Alle Mitglieder waren aufgerufen, nach Heiligkeit zu streben, nach einem christlichen Leben in der Nachfolge Jesu. Ein Tagesplan, der bestimmte, zeitlich festgelegte Gebete vorsah, sollte helfen, den Alltag zu strukturieren. Körperliche Bußübungen waren bei den priesterlichen Mitgliedern Pflicht, wurden aber auch bei den Laienvertretern gern gesehen. Absoluter Gehorsam wurde erwartet, konservatives Gedankengut herrschte vor und hätte man die politischen Neigungen der Mitglieder hinterfragt, wäre dabei ein überaus rechtsgerichteter Trend ans Tageslicht gekommen, da war sich Tina sicher.
Neben Rom hatten die Heiligen Kinder Gottes noch Stützpunkte in Turin, Neapel und Mailand. Die Santi-Figli-di-Dio-Schule in Bamberg war ihre erste Organisationseinheit außerhalb Italiens und offenbar als Sprungbrett für weitere Gründungen in anderen europäischen Städten gedacht. Das Besondere der Bamberger Einrichtung war ihr Bemühen um Kinder und Jugendliche mit körperlichen Behinderungen oder sogar geistigen Einschränkungen – sofern sie den Besuch eines Gymnasiums nicht unmöglich machten. Ein Internat versprach auf den Einzelfall abgestimmte Pflege und Betreuung.
Das alles wusste nun auch Kriminalhauptkommissar Hagenkötter von seiner Mitarbeiterin, als Dr. Johannes Sieber, der Leiter der örtlichen Santi-Figli-di-Dio-Schule am Mittwoch, morgens um neun Uhr, in sein Büro geführt wurde. Der Kollege, der den Herrn hereingeleitet hatte, nickte Tina und ihrem Chef kurz zu und schloss dann die Tür.
„Nehmen Sie Platz“, bot Hagenkötter seinem Gast einen Stuhl an. „Können Sie sich vorstellen, warum wir Sie zu diesem Gespräch eingeladen haben?“
„Ich kann es nur vermuten. Geht es um das tote Mädchen in der Regnitz?“
Tina überfiel sofort ein Gefühl der Abneigung und des Misstrauens, als Dr. Sieber zu sprechen begann. Da saß ein eiskalter Typ vor ihnen, dem man besser mit einer Portion gesundem Misstrauen gegenübertrat. Allein sein äußeres Erscheinungsbild war schon grenzwertig. Sie schätzte ihn auf um die 50. Dunkelbraunes, gegeltes Haar mit Linksscheitel, der wie mit dem Lineal gezogen aussah. Verhärmtes Gesicht, das kein Lächeln zuließ. Stocksteife Haltung und dann erst noch die Kleidung: weißes Hemd unter braunem Anzugsjackett, das bestimmt schon 20 Jahre auf dem Buckel hatte. Die blaue Krawatte passte dazu wie die Faust aufs Auge. Seine weißen Socken, die in braunen Sandalen steckten, hatte er unter Hagenkötters Schreibtisch versteckt.
„Wie kommen Sie auf das tote Mädchen in der Regnitz?“, fragte Hagenkötter. „Ich habe sie mit keinem Wort erwähnt.“
„Wir vermissen eine Schülerin“, erklärte Dr. Sieber. „Sie ist im gleichen Alter. Also, ich meine das Alter des toten Mädchens. Natürlich vorausgesetzt, die Angaben in den Zeitungen stimmen.“
„Aber bei uns gemeldet haben Sie sich diesbezüglich nicht. Sie haben ausschließlich den Verlust der Schülerin angemerkt. Oder sehe ich das falsch?“
Dr. Sieber blieb eine Antwort schuldig. Stattdessen griff er in eine der Innentaschen seines Jacketts und knallte ein Hochglanzfoto auf den Tisch. „Das ist die Schülerin, die wir vermissen“, erklärte er. „Johanna. Johanna Sonnleitner.“
Hagenkötter und Tina erkannten sie sofort.
„Ich hielt es für besser, mich erst mit den Eltern der Schülerin zu beraten, bevor ich die Polizei informiere.“
„Ich denke, Sie sind uns eine Erklärung schuldig, Herr Dr. Sieber!“ Hagenkötters Aufforderung kam schneidend und bestimmt. „Ihr Foto zeigt wirklich das tote Mädchen, das in der Regnitz trieb.“
„Mein Gott!“ Der Schulleiter schlug theatralisch die Hände vor dem Gesicht zusammen, schaute aber weiter sehr kühl und unberührt drein. „Ich habe es geahnt. Die armen Eltern!“
„Wir warten auf Ihre Erklärung“, erinnerte ihn Tina.
„Ja, natürlich. Mein Gott, wo soll ich bloß beginnen?“
„Am besten am Anfang“, forderte ihn der Hauptkommissar auf.
„Also gut.“ Dr. Sieber reckte das Kinn und richtete seinen Blick starr auf das Foto, das er selbst mitgebracht hatte. „Ich versuche mich kurz zu fassen: Die Sonnleitners sind Österreicher. Vor einigen Jahren sind sie nach Strullendorf gezogen, weil … es ist eine private Angelegenheit der Familie, kann ich das offenlegen?“
„Ich würde es Ihnen dringend empfehlen“, brummte Hagenkötter.
„Nun. Ihre Tochter Johanna leidet … litt an einer seltenen Krankheit, dem Tourette-Syndrom. Das kam bei ihr in Schüben, tagelang ging es ihr gut und dann brach es wieder mit Macht aus ihr heraus: unkoordinierte Bewegungen, Verrenkungen, dazu wilde Laute … Das war auch der Grund, warum ihre Eltern Johanna an unsere Schule gegeben haben. Sie müssen wissen, unsere Schule …“
„Wir haben uns informiert“, schnitt ihm Hagenkötter das Wort ab. „Fahren Sie fort!“
Sieber zog nur kurz pikiert die Nase kraus. „Na gut. Johannas Eltern mussten wegen eines Trauerfalls in der Familie kürzlich zurück in die Heimat, nach Graz, wollten ihrer Tochter aber die Reisestrapazen und, ich vermute, auch die ganze mit einer Beerdigung verbundene Aufregung nicht zumuten. Deshalb fragten sie mich, ob wir uns in der Schule um Johanna kümmern, sie während ihrer Abwesenheit in Obhut nehmen könnten – trotz Schulferien.“
„Wann genau war das?“, wollte Hagenkötter wissen.
„Die Sonnleitners brachten Johanna am 19. August zurück zur Schule, hatten vor, am 23. nach Graz zu fahren und kamen vorgestern wieder zurück.“
„Warum schon am 19., wenn sie erst am 23. losfuhren?“, hakte Hagenkötter nach.
„Da müssen Sie die beiden schon selber fragen“, wich der Schulleiter aus. „Das entzieht sich meiner Kenntnis.“
„Sie sprachen gerade von Obhut, Herr Dr. Sieber“, schaltete sich Tina ein. „Können Sie sich erklären, wie, wann und vor allem warum Johanna Ihrer Obhut entglitt? Ich meine, das Mädchen wurde mehr durch Zufall am 26. August tot in der Regnitz aufgefunden. Ermordet wurde sie nach unseren Einschätzungen aber rund eine Woche davor, also um den 19. August herum, an dem Sie sie wieder in der Schule aufgenommen haben wollen. Ist Ihnen beziehungsweise Ihren Betreuern nicht aufgefallen, dass Johanna sofort abgängig war?“
Dr. Sieber sah Tina nur mit leicht gerunzelter Stirn an.
„Haben Sie sich keine Sorgen gemacht? Warum haben Sie nicht schon früher eine Vermisstenanzeige aufgegeben? War Ihnen egal, wo Johanna abgeblieben war?“ Tina war dieser geschniegelte und gebügelte Typ, wie man in Franken sagt, so unsympathisch, dass es ihr schwerfiel, ihre Abneigung zu verbergen. Ihm fehlte einfach jeglicher Hauch von Mitgefühl, er war kalt wie eine Hundeschnauze.
„Nein, natürlich ist uns bei den Santi-Figli-di-Dio kein einziger unserer Schutzbefohlenen egal. Lassen Sie mich erklären: Ich wähnte Johanna auf einer Exerzitienfahrt nach Gößweinstein. Ich muss zugeben, ein peinliches Beispiel schlechter Kommunikation: Pater Ferdinand, einer unserer Religionslehrer, kam vor ein paar Wochen mit diesem Vorschlag zu mir. Aber lassen Sie mich von Anfang an erzählen.“ Sieber setzte sich etwas bequemer zurecht und schlug die Beine übereinander. „Sehen Sie, wir haben selbst während der bayerischen Schulferien unsere Tore für unsere Schüler geöffnet. Das unterscheidet uns von anderen Schulen. Derzeit beherbergen wir rund 30 von ihnen in unseren Mauern – trotz Ferienzeit. Um ihnen auch etwas Urlaubsgefühle zu verschaffen, schlug Pater Ferdinand einen elftägigen Ausflug nach Gößweinstein in der Fränkischen Schweiz vor. Um die geistlichen Werte in den Vordergrund zu stellen, haben wir den Ausflug als Exerzitienfahrt mit religiösem Hintergrund deklariert. Ich war begeistert.“ Sein Tonfall und sein kaum vorhandenes Mienenspiel ließen etwas anderes vermuten. „Nur, dass Johanna auch daran teilnehmen sollte, da waren Pater Ferdinand und ich uns zunächst uneinig. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Johanna, ihrer Krankheit wegen, an so einer Exkursion teilnehmen könnte. Da hätte es doch einen ständigen Betreuer gebraucht, der sich gekümmert hätte, sobald sie einen ihrer Anfälle … ich meine, in der Öffentlichkeit kann man sie doch so nicht allein lassen. Nicht machbar mit weit über 20 Exkusionsteilnehmern und nur einem Betreuer. Nun ja, einen Tag später kam sie heulend zu mir. Daraufhin erklärte sich eine andere Lehrkraft, Pater Friedhelm, bereit, die Truppe zu begleiten und sich ausschließlich um das Wohlergehen von Johanna zu kümmern. Er war sogar bereit, die Reisekosten aus eigener Tasche zu bezahlen. Ich war tief gerührt und gab schließlich mein Okay. Was ich bis letzten Montag nicht wusste, war, dass Johanna zur Abfahrt des Busses nicht erschienen war.“
„Nicht erschienen? An welchem Tag war das genau?“ Tina glaubte Sieber kein Wort.
„Das war am 21. August.“
„Und Ihre beiden Lehrkräfte, Pater Ferdinand und Pater Friedhelm“, übernahm Tinas Chef wieder die Wortführung, „haben Sie nicht darüber informiert, dass Johanna fehlte, und sind einfach ohne sie losgefahren?“ Auch Hagenkötter hatte das ungute Gefühl, dass der Schulleiter log oder zumindest einen Teil der Wahrheit unterschlug, konnte ihm aber im Moment nichts Gegenteiliges nachweisen.
„Ja und nein. Sie waren guten Glaubens, dass ich meine Zusage, Johanna mitfahren zu lassen, kurzfristig doch wieder zurückgenommen hätte. So sagte es mir Pater Ferdinand in einem Telefonat, welches ich vorgestern mit ihm geführt habe. Er wähnte Johanna hier an der Schule und war schockiert, als er von mir hörte, dass dies nicht der Fall sei. Sie kommen übrigens morgen am Vormittag mit den anderen Schülern wieder von ihrem Ausflug zurück. Dann können Sie sich gern bei den beiden rückversichern.“
„Sie sagten, Johannas Eltern wären mittlerweile wieder aus Graz zurück?“, fragte Hagenkötter.
„Sie kamen am 28. zurück und machen mir seitdem die Hölle heiß. Natürlich wollten sie ihre Tochter abholen. Morgens gab ich Ihnen noch die Auskunft, dass sich Johanna auf einem Ausflug befindet, da fielen sie fast aus dem Häuschen.“
„So – nur deshalb haben Sie Pater Ferdinand angerufen“, mutmaßte Tina.
Dr. Sieber reagierte nicht. Doch der Kommissarin war das kurze, unkontrollierte Zucken seiner über dem Knie gefalteten Hände nicht entgangen. Sie schwieg und sah den Schulleiter geduldig mit leicht geneigtem Kopf an.
„Was sollte ich denn tun?“, brach es schließlich doch aus ihm heraus. „Die beiden führten sich auf wie die Derwische und drohten mir mit der Polizei! Natürlich habe ich da meinen Kollegen hinterhertelefoniert.“
„Und dann haben Sie die Polizei angerufen und sind bei unserem Kollegen, Kommissar Schmuck, gelandet?“
„Schon“, gab der Schulleiter zu.
„Sehr seltsam“, kommentierte Hagenkötter eisig. „Sie glaubten Johanna auf Exerzitienfahrt und ihre Betreuer nahmen an, dass das Mädchen an der Schule geblieben sei. Aber gut, darüber werden wir nochmals detailliert sprechen müssen. Ihre Logik leuchtet mir noch nicht ein. Warten wir die Rückkehr der Ausflügler ab. Wir werden da wirklich noch einiges zu klären haben.“ Unvermittelt wechselte er die Tonlage und fragte fast schon aufgekratzt: „Herr Dr. Sieber, kommen wir zu dem ermordeten Kurienbischof. Kannten Sie Carlo Eposito?“
„Sie meinen den Bischof, den man am Dienstag in der Früh tot an der Regnitz gefunden hat?“ Sieber wirkte verwirrt.
„Genau den meine ich.“
„Ich weiß zwar schon, dass er ein hochrangiges Mitglied bei Santi-Figli-di-Dio ist … ich meine war, aber persönlich sind wir uns nie begegnet. Schade, er war ein großer Befürworter und Förderer unserer Prälatur, wie mir berichtet wurde.“
„Aha. Herr Dr. Sieber, bevor wir Sie wieder entlassen können, hätte ich noch eine Bitte an Sie: Können Sie uns eine Liste zusammenstellen lassen, auf der die Namen und Privatadressen sämtlicher Lehrkräfte stehen, die die Klasse von Johanna Sonnleitner unterrichten? Wir bräuchten die Liste bis spätestens morgen um die Mittagszeit.“
Sieber protestierte umgehend: „Es ist immer noch Ferienzeit. Meine Sekretärin ist im Urlaub.“
Hagenkötter überhörte den Einwand. „Und was mich auch noch interessieren würde: In Ihrer Organisation herrscht ja recht strikte Ordnung. Wie muss ich mir denn so einen normalen Tagesablauf der Santi-Figli-di-Dio-Mitglieder vorstellen?“
„Nun, Herr Hagenkötter“, Siebers Gesichtszüge entspannten sich sichtlich, hier fühlte er sich auf sicherem Boden, „die Mitglieder unserer Institution haben sich aus eigenem Willen ein Leben in Christi auferlegt. Dazu gehören strenge Regeln, wie dieses Leben zu führen ist. Grundsatz dieser Regeln sind unsere Gebete. Am Morgen nach dem Aufstehen denken wir zuerst an unseren Herrn und beten drei Vaterunser, um die Mittagszeit beten wir den Rosenkranz und besuchen nach dem Mittagessen die Heilige Messe mit dem Empfang der Kommunion. Nachmittags folgt eine Lesung aus dem Neuen Testament und gegen Abend …“
„Danke, Herr Dr. Sieber, ich denke, ich bin schon im Bilde.“ Hagenkötter stand auf. „Wir danken Ihnen für Ihre kurzfristige Bereitschaft zu diesem Gespräch. Es wird wohl nicht das letzte gewesen sein. Sollten Ihnen weitere Details zum Verschwinden von Johanna einfallen oder sollten Sie Wissen zum Aufenthalt von Bischof Eposito in Bamberg erlangen, bitte ich Sie, entweder mich oder Frau Meisel unverzüglich anzurufen, und schicken Sie uns morgen ihre beiden Patres vorbei, sobald sie wieder an der Schule eingetroffen sind. Sofort. Wir müssen dringend mit ihnen reden. Auf Wiedersehen – und noch einen schönen Tag.“
Sieber erhob sich zackig von seinem Stuhl. „Ich danke auch. Und wann immer Sie weiteren Gesprächsbedarf haben, melden Sie sich einfach bei meiner Sekretärin. Ich bin gerne bereit, bei Johannas mysteriösem Tod Aufklärung zu leisten, wenn es mir möglich ist.“ Er reichte Hagenkötter seine Hand zum Abschied und drehte Tina dabei geradezu demonstrativ den Rücken zu.
„Ach, Herr Dr. Sieber, fast hätte ich es vergessen“, Hagenkötter stieß sich mit dem Handballen seiner Linken an die Stirn, so als wolle er sein Gehirn für seine Vergesslichkeit verantwortlich machen. „Sagen Sie, wie war Johanna an ihrer Schule untergebracht? Hatte sie ein eigenes Zimmer oder teilte sie sich eines mit einer anderen Mitschülerin?“
„Aufgrund ihrer Krankheit haben wir Johanna ein eigenes Zimmer zugewiesen. Inklusive Notrufknopf.“
„Das müssen wir uns mal ansehen. Am besten gleich. Ein Team unserer Spurensicherung wird Sie zurück zur Schule begleiten.“
Der entsetzte Blick Siebers war Gold wert. Und Hagenkötter war noch nicht fertig mit ihm: „Entschuldigung, aber irgendwie habe ich heute meinen vergesslichen Tag. Hatten oder haben Sie Kenntnis davon, dass an Ihrer Schule Rauschgift konsumiert wird?“
„An unserer Schule?“ Dr. Sieber warf die Hände in die Luft und zeigte sich äußerst belustigt. „Nie und nimmer. Das wäre ja gerade so, als würde ich Sie fragen, ob Ihnen in den Reihen Ihrer Mitarbeiter nicht schon Verbrecher aufgefallen sind. Noch einen schönen Tag, Herr Hagenkötter. Habe die Ehre, Frau Meisel.“ Damit verließ er den Raum.
„Der lügt von vorne bis hinten“, waren Tinas erste Worte, als die Tür hinter dem Schulleiter zugefallen war. „Warum haben Sie ihn nicht mit dem Missbrauch konfrontiert?“
„Da gebe ich Ihnen recht. Ich meine, das mit dem Lügen. Und dass wir von dem Missbrauch wissen, braucht er zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht zu erfahren“, orakelte Tinas Vorgesetzter. „Um 14 Uhr haben wir einen Termin mit den Vertretern des Erzbistums. Mal sehen, welche seltsamen Geschichten uns die Herren Geistlichen auftischen. Haben Sie Lust, mich zu begleiten?“
„Sehr gerne.“