Kitabı oku: «»Wir kriegen euch alle!« Braune Spur durchs Frankenland», sayfa 5
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Das Türkische Generalkonsulat in Nürnberg hatte vor fünfundzwanzig Minuten seine Pforten geöffnet. Erst drei Besucher hatten an diesem nasskalten Donnerstagvormittag das Gebäude betreten. Parteiverkehr: Mo. – Fr. 08:30 bis 12:00 Uhr stand auf einem Messingschild neben der schmalen Eingangstür zu lesen. Passanten mit aufgespannten Regenschirmen hasteten auf dem Gehweg vor dem Gebäude mit der hellen Steinfassade vorbei und eilten zu ihren Arbeitsplätzen. Auf der Regensburger Straße staute sich der tägliche Berufsverkehr. Der feine Nieselregen glitzerte im Schein der Pkw-Scheinwerfer und die Scheibenwischer der Fahrzeuge huschten über die Windschutzscheiben und gaben die angespannten Gesichter ihrer Fahrer frei, die genervt und entrückt auf die dampfenden Auspuffrohre ihrer Vorderleute starrten. Stop and go, wie jeden Wochentag um diese Zeit. Vor dem Eingang des Konsulats steckten neun wackelige, hüfthohe Metallrohre im Asphalt und dem gepflasterten Gehweg. Sie waren mit durchhängenden, angerosteten Ketten verbunden und sollten so etwas wie eine Absperrung andeuten. Nur rechter Hand, dort wo zwei riesige Plakatwände aufgestellt waren, war das Konsulat ohne Barriere zugänglich. Enjoy More stand auf einer der Werbetafeln zu lesen, auf der eine überdimensionale, blaue Zigarettenschachtel von Pall Mall abgebildet war. Zwischen der Regensburger Straße und der Kettenabsperrung, mitten auf dem Geh- und Fahrradweg, hatte vor zehn Minuten ein Fürther mit Anorak und dunkler Sonnenbrille seinen alten VW Golf, Baujahr 1999 geparkt, war ausgestiegen und weggegangen. Typisch Fürther Autofahrer! Die machen immer, was sie wollten, Autofahren können sie sowieso nicht, diese Deppen. Nachlässig war er auch noch, dieser Fürther Blasarsch. Nicht einmal die Pkw-Türen hatte er richtig geschlossen. Selbst ein Blinder mit Krückstock sah, dass beide Türen auf der Beifahrerseite nicht richtig in ihre Schlösser eingerastet waren. Na ja, wer würde schon so eine alte, grüne Rostlaube klauen? Die beiden Feuerlöscher, die auf dem Rücksitz lagen, waren wohl das Wertvollste an dem ganzen Gefährt. Vierzehn betagte Herrschaften kamen um die Ecke gedackelt und schlurften schnurgerade auf den VW Golf zu, der sich ihnen auf dem Fußgängerweg in den Weg stellte. Sie waren auf dem Weg zur Schloßstraße 1. »Saupreißn«, schimpfte ein Hüne in Lederhose und bayerischem Trachtenjanker und wedelte mit seinem weiß-blauen Rautenmusterschirm, »so was gibt’s z’Minga net. Mei, der alte Kübl wär bei uns scho längst abgschleppt worn.«
Auch Rudi Rohrmoser belferte wie ein tollwütiger Wolpertinger: »Solch alte Kübl gibts in Minga gar nimmer, aber mia san jenseits des Weißwurstäquators, Hirni, quasi in der nördlichen Entwicklungszone unseres bayerischen Freistaates, da derfst du dich net wundern. Schau, selbst die Türn san net abgschlossn.«
Neugierig trat Toni Hirnthaler an den grünen Pkw heran und legte seine Pratze auf den Türgriff der Beifahrertür. »Brauchts an Feuerlöscher?«, rief er in die Runde.
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Thomas Keller sah zu dem asymmetrisch angeordneten Turm des Leipziger Alten Rathauses empor, welcher das Renaissancebauwerk im Goldenen Schnitt teilte. Er hielt es in der Zentrale der NEL nicht mehr aus. Er musste raus. Raus an die frische Luft. Ungeduldig wartete er auf den Anruf von Bernd Auerbach. Vor einer Viertelstunde hatte er sich unter die Kunden und Touristen auf dem Marktplatz gemischt. Die Angebote der Händler und das Treiben der Touristen und Einkäufer interessierten ihn nicht. Er wartete nur auf drei banale Worte, die in den Telefonhörer einer öffentlichen Telefonzelle am Nürnberger Hauptbahnhof gesprochen werden sollten. Sie würden ihm Gewissheit verschaffen, dass die Sache geklappt hat: »Oh, Entschuldigung, verwählt.« Auf diesen kurzen Satz wartete er voller Ungeduld und Nervosität. Er sah erneut auf seine Armbanduhr. Zehn Minuten nach neun Uhr. Vielleicht war Bernd Auerbach noch auf der Suche nach einer öffentlichen Telefonzelle? Vielleicht waren gerade alle besetzt? Vielleicht war ein unvorhersehbares Ereignis eingetreten, welches die gesamte Angelegenheit verzögerte? Vielleicht war Bernd Auerbach beim Autodiebstahl beobachtet worden und längst verhaftet? Vielleicht …, vielleicht …, vielleicht ... »Entschuldigung der Herr, haben Sie die genaue Uhrzeit?« Thomas Keller war in seiner Gedankenwelt versunken und zuckte nervös zusammen. Ein altes Mütterchen stand vor ihm und sah ihn fragend an. In der rechten Hand hielt sie eine rote Lederleine, an deren Ende ein Spitz hing, der zu ihm aufblickte und freudig mit dem Schwanz wedelte. Sein zotteliges Fell war blütenweiß. Es harmonierte farblich mit der frischen Dauerwelle seines Frauchens. Auch das kleine rote Mäschchen, welches der kleine Kläffer auf seinem Kopf trug, passte im Farbton hervorragend zum Lodenmantel der Alten. Erneut sah Thomas Keller auf seine Armbanduhr. »Es ist jetzt genau vierzehn Minuten nach neun Uhr, meine Dame«, gab er zur Antwort und versuchte seine Nervosität zu unterdrücken.
»Siehst du, Rasputin«, sprach das Frauchen zu ihrem weißen Putzwedel am Ende der roten Hundeleine, »es gibt doch noch höfliche Menschen, richtige Gentlemen.« Rasputin gab wie zur Bestätigung ein heißeres »Wihau« von sich und setzte eifrig sein Schwanzwedeln fort.
Seine Nervosität stieg. Thomas Keller musste daran denken, wie er früher mit solchen Situationen umgegangen war, als sie an der deutsch-deutschen Grenze nachts auf Lauer lagen und darauf warteten, Republikflüchtlinge zu stoppen. Damals, bei der MfS-Elitetruppe, beim Wachregiment Feliks Dzierzynski. Es war eine harte Zeit. Sie hatten jede Menge Arbeit – Stress total. Er erinnerte sich daran, wie schwierig es für ihn war, seine Sympathie für den Nationalsozialismus zu verbergen. Es gab ihn ja offiziell gar nicht. Er wurde totgeschwiegen, obwohl es von Anbeginn der DDR immer kleine Nazigruppen gab, die die Ansichten des Führers verherrlichten. Ab 1983, es war wie eine Explosion, verfünffachten sich plötzlich die Gewalttaten der Rechtsextremen. Ihm war das egal, in vielen Fällen sogar recht. Auch er trug dazu bei, die Taten totzuschweigen. Es sollte eben nicht wahr sein, was nicht wahr sein durfte. So einfach war das. Ließ sich eine rechtsextremistische Tat nicht mehr verheimlichen, so wurde sie eben dem Klassenfeind im Westen zugeschoben oder als krimineller Handlungsakt und nicht als politisch begründet abgetan. Er verstand das manchmal auch nicht. Die Denkweisen der SED und der Nationalsozialisten lagen gar nicht so weit auseinander: Beide standen für Militarismus, und beide übten sich in der Praxis anders denkende Menschen zu unterdrücken. Hitler-Kult, Gewalt gegen Juden und Hakenkreuzschmierereien gab es schon immer in der DDR. Am besten konnte man die Gewaltbereitschaft der Rechtsextremen auf dem Fußballplatz wahrnehmen, und Angriffe auf Arbeiter aus Asien und Afrika gab es damals doch auch schon. Nicht ohne Grund entstanden eine Fülle an extremen Organisationen, wie die »Lichtenberger Front«, die »NS-Kradstaffel Friedrichshaine«, oder die »Wotanbrüder«. Nicht zu vergessen die »Weimarer Heimatfront« oder die »SS-Division Walter Krüger«. Viele Kollegen im MfS waren damals Mitglieder in einer dieser Organisationen. Als sich dann die Wende vollzog, war es doch nicht verwunderlich, dass viele junge Glatzköpfe sagten, sie seien »nicht angepasst«.
Er erschrak und zuckte zusammen. Sein Mobiltelefon vibrierte in seiner Manteltasche. Nervös kramte er es hervor und wischte mit dem rechten Zeigefinger über das grüne Telefonsymbol. »Ja?«
»Oh, Entschuldigung, verwählt.«
*
Als Bernd Auerbach das Nürnberger Bahnhofgebäude zu Fuß erreichte, hatte er ein viel dringenderes menschliches Bedürfnis, als sofort eine öffentliche Telefonzelle aufzusuchen. Er hetzte die Rolltreppe zum ersten Stockwerk hoch und steckte siebzig Euro-Cent in die Ticket-Maschine der öffentlichen Toilettenanlage. Die Schranke gab den Weg frei. Der ohrenbetäubende Knall der beiden Explosionen dröhnte noch immer in seinen Ohren. Er war in Hochstimmung und ließ den Strahl kräftig in das Pissoir plätschern. Erleichtert nahm er daraufhin wieder den Weg nach unten in die Bahnhofshalle und fand auf Anhieb eine freie Telefonzelle. Er wählte die Nummer eines Mobiltelefons, wartete, bis er ein nervös fragendes »Ja?« vernahm, sprach die drei Worte »Oh, Entschuldigung, verwählt« in die Sprechmuschel und legte wieder auf. Dann begab er sich eilig zum Bahnsteig Nummer zwei und stieg in den bereits wartenden Thüringen-Regionalexpress. Von den Straßen vor dem Bahnhof dröhnte das Geheule von Martinshörnern in einem wilden Durcheinander bis in das Innere des Zuges. »Was na da draußen wieder passiert is?«, rätselte die Frau, die ihm gegenüber saß. »Gott sei Dank hock ich scho im Zug.«
»Bestimmt ein Unfall«, mutmaßte der Ostdeutsche freundlich. Fast hätte er das lang anhaltende Pfeifen auf dem Bahnsteig überhört. Kurz darauf nahmen die Stahlräder in den Fahrwerken der Wagons ächzend Bewegung auf. Die Traktionsmotoren liefen hoch und übertrugen ihr hohes Surren und Vibrieren in den Innenraum. Der Zug beschleunigte, zuerst langsam, dann immer schneller, und hatte nach kurzer Zeit den Nürnberger Hauptbahnhof in Richtung Bamberg verlassen.
Noch immer strömte Adrenalin durch Bernd Auerbachs Adern. Er war innerlich aufgewühlt, wie noch nie in seinem Leben. Noch einmal liefen die letzten dreißig Minuten wie ein Film in seinem Kopf ab: Punkt neun Uhr eins hatte er aus sicherer Entfernung zum Konsulat den roten Knopf der Fernsteuerung gedrückt. Jeder Knall der beiden Explosionen, die Sekundenbruchteile später zu hören waren, war gewaltig. Eine enorme Druckwelle raste durch die Straßen. Im Laufen drehte er sich um und sah den Rauch, der am Ort des Geschehens aufstieg, und den Trümmerregen, der sich über den Dächern der umstehenden Gebäude ausbreitete, dort für Sekundenbruchteile in der Luft hängen zu blieben schien, um darauf die Regensburger Straße und die benachbarten Straßenzüge mit umherfliegenden Teilen regelrecht zu übersäen. Im Moment hatte er keine Ahnung, wie es am Ort der Detonationen aussah und welche Schäden diese angerichtet hatten. Waren Menschen auch betroffen? Und wenn schon. Er konnte es gar nicht abwarten, nach Hause zu kommen, um sich im Fernsehen die Bilder anzusehen. Ob über den Anschlag schon berichtet wurde? Er hatte seine Sache gut gemacht, das wusste er. Profihaft. Thomas Keller würde zufrieden sein. Fünfzehn Minuten später stieg er in Erlangen am Gleis drei aus dem Zug, um wiederum acht Minuten später auf dem Bahnhofvorplatz in den Bus der Linie 205 Erlangen - Höchstadt zu steigen. »Wie soeben mitgeteilt, haben sich in Nürnberg vor dem Türkischen Konsulat zwei schwere Explosionen ereignet. Wer oder was die Explosionen ausgelöst hat, ist derzeit noch unbekannt. Es geht das Gerücht, dass es sich um einen politisch motivierten Anschlag handelt.« Der Busfahrer stellte das Radio auf eine höhere Lautstärke. »Rettungskräfte befinden sich auf dem Weg zur Unglücksstätte. Ob auch Menschen zu Schaden gekommen sind, ist noch nicht bekannt. Wir berichten in Kürze live vom Ort des Geschehens.«
»Tät mi net wundern, wenn des Neonazis gwesen wärn«, kommentierte der Busfahrer. Wie recht der Mann hatte. Bernd Auerbach war happy und freute sich schon auf den nächsten Auftrag. Er würde wieder sein Bestes geben. Gewissensbisse hatte er nicht. Ein Hoch auf die NEL.
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Vor dem schwer beschädigten Gebäude in der Regensburger Straße 69 herrschte das blanke Chaos. Ein Ort der Verwüstung, des Entsetzens und des Todes. Der Ort des Terrors war durch Polizeikräfte zwischenzeitlich weiträumig abgesperrt worden. Neben den verheerenden Sachschäden waren zehn Tote, sechs zum Teil lebensgefährlich sowie zahlreiche leicht Verletzte zu beklagen. Genau in dem Moment, in dem Adem Gökhan mit einem Besucher des Konsulats aus dem Inneren des Gebäudes auf die Straße trat, explodierten die beiden Sprengsätze in einem gleißenden Inferno. Adem Gökhan und sein Begleiter hatten nicht den Hauch einer Chance. Von den vierzehn Münchner Touristen, die auf dem Weg zum in unmittelbarer Nähe liegenden Historischen Straßenbahndepot waren, wurden acht von den umherfliegenden Trümmern und Metallkugeln tödlich getroffen. Ihre Leiber waren nahezu zur Unkenntlichkeit zerfetzt. Die anderen sechs Münchner, die von dem explodierenden Fahrzeug noch etwas weiter entfernt waren, wurden mit schwersten Verletzungen in die Chirurgische Universitätsklinik Erlangen eingeliefert. Nur äußerst glückliche Umstände führten dazu, dass es auf der Straße keine weiteren Toten gab. Ein bis auf den Fahrer leerer städtischer Nahverkehrsbus, der nicht auf Dienstfahrt war, stand zum Zeitpunkt der Explosion unmittelbar neben dem geparkten grünen VW Golf im Stau und diente rein zufällig als Schutzschild für die anderen Verkehrsteilnehmer, die in der Regensburger Straße unterwegs waren. Der Bus der VAG Nürnberg besaß nur noch Schrottwert. Der Fahrer erlitt Schnittverletzungen am Hals und an der rechten Schulter. Er stand noch immer unter Schock. Von dem VW, in dem die beiden Bomben lagen, war so gut wie nichts mehr übrig. Seine Karosserieaufbauten und sonstigen Bestandteile wurden durch die Wucht der Detonation in Stücke gerissen und schwirrten wie Schrapnellen in alle Himmelsrichtungen davon. Glasscherben und Metallteile fügten einigen Fußgängern selbst in weiterer Entfernung noch Schnittwunden im Gesicht und am Körper zu. Die Beifahrertür des VW Golfs wurde im Ganzen aus ihren Scharnieren gerissen und trennte Toni Hirnthaler in Sekundenbruchteilen den Kopf ab. Neben ihm starb Rudi Rohrmoser im gleichen Moment. Die Leichen von Adem Gökhan und seinem Begleiter lagen zwischenzeitlich unter Decken verhüllt vor der zerstörten Gebäudefassade. Ihre Körper wurden von den umherfliegenden Metallkugeln regelrecht durchsiebt. Die meisten der Münchner Rentner starben auf die gleiche Weise. Die Fensterscheiben des Türkischen Generalkonsulats sowie die der anschließenden Geschäftsgebäude existierten nicht mehr und lagen in Scherben verstreut auf dem Gehweg der Straße beziehungsweise in den verwüsteten Räumen der Gebäude. Von den beiden riesigen Werbetafeln rechter Hand des Konsulats ragten nur noch die zersplitterten Holzstümpfe ihrer Trägerkonstruktion aus der verwüsteten Erde. Die Werbetafeln selbst waren, von Metallkugeln durchlöchert, durch die Luft geschleudert worden. Eine schlug auf dem Dach des VAG-Busses ein, die andere flog gegen die Außenfassade des Konsulats und donnerte von dort mit einem gewaltigen Getöse auf den straßenseitigen Eingangsbereich des Gebäudes. Fast wäre der zerfetzte Körper von Adem Gökhan ein weiteres Mal durchbohrt worden.
Eine Stunde war seit der Explosion vergangen. Die Blaulichter der Einsatzfahrzeuge von Polizei, Feuerwehr und der Notärzte rotierten am Einsatzort und ständig kamen neue Rettungsfahrzeuge hinzu. Leichentransportwagen hatten sich an den Rand des Geschehens herangeschlichen und lauerten wie Hyänen nur darauf, dass sie die verstümmelten Reste der Opfer endlich abtransportieren durften. Durch die weiträumige Sperrung des Tatorts staute sich der Individualverkehr bis weit in die Innenstadt. Menschentrauben von Neugierigen harrten an den rot-weißen Absperrbändern aus, und aufdringliche Berichterstatter der lokalen und internationalen Presse mussten von den Polizeibeamten immer wieder ermahnt werden, jenseits der Absperrungen zu bleiben. Vier Fernsehsender hatten ihre Übertragungswagen in unmittelbarer Nähe aufgebaut und ihre Moderatoren hasteten, mit Mikrofonen bewaffnet, durch das Heer der Neugierigen, in der Hoffnung doch noch auf einen Augenzeugen des Tathergangs zu stoßen. Über der Szene schwebte ein Helikopter von RTL im regenverhangenen Morgenhimmel. Die Beamten der Nürnberger Polizei waren in höchste Alarmstufe versetzt worden, waren aber schlichtweg überfordert. Das Durcheinander war perfekt. Hundeführer schwärmten aus und suchten nach weiteren, möglichen Sprengsätzen. Psychologen betreuten die Mitarbeiter des Konsulats, welche zwischenzeitlich aus dem schwer beschädigten Gebäude evakuiert wurden. Manche bluteten aus Kopfwunden. Die Berufsfeuerwehr war mit fünf Einsatzfahrzeugen vor Ort, wusste aber nicht so recht, was zu tun war beziehungsweise ob sie überhaupt gebraucht wurden. Ein Brand war nicht ausgebrochen. Die dringend benötigten Mitarbeiter der Kriminaltechnischen Untersuchung steckten noch im Stau in der Bahnhofsstraße fest. Weder die Martinshörner noch die rotierenden Blaulichter ihrer Fahrzeuge nützten ihnen etwas. Es ging nichts mehr vor und nichts mehr zurück. Streifenbeamte in den Straßen waren bemüht, ihnen freie Bahn zu verschaffen, gestikulierten wild und verzweifelt mit Händen und Armen und schrien den ebenfalls ungeduldigen Autofahrern, die in den Staus steckten, ruppige Worte an die Köpfe. Am Ort der Verwüstung wartete man auf die Ankunft der Verantwortlichen vom Verfassungsschutz und des Bundeskriminalamts. Die meisten öffentlichen und privatrechtlichen Fernsehstationen unterbrachen ihre laufenden Sendungen oder blendeten mitlaufende Untertitel ein. Terroranschlag in Nürnberg fordert zehn Tote. Türkisches Generalkonsulat in Nürnberg durch Sprengsätze verwüstet. Wer steckt hinter dem Nürnberger Bombenanschlag? Es gab kein Bekennerschreiben. Nichts deutete auf die Tat einer terroristischen Organisation hin. RTL dachte laut über einen Terroranschlag der kurdischen PKK nach, während SAT1 den Geheimdienst der Israelis, den Mossad, ins Spiel brachte. VOX wiederum stellte die Frage, ob möglicherweise die Syrer ihre Hand im Spiel hatten. Als einer der Toten zweifelsfrei als Adem Gökhan identifiziert wurde, richtete sich das Interesse der deutschen Ermittler erstmals auf die palästinensische Großfamilie der Abusharekhs in Berlin-Neukölln.
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Doris Kunstmann hatte Gewissheit: Ihr Gesicht war tränenverschmiert, ihr Herz litt unter Liebesschmerz, und auch der Schmerz der Eifersucht war kaum noch zu ertragen, und … in ihr brodelte eine unbändige Wut. Das türkische Luder hatte ihrem Walter tatsächlich die Augen verdreht. Walter, der Depp, war auf ihren wohlgeformten Arsch und zwei kleine Titten hereingefallen. Das sah ihm ähnlich. Was wollte er denn mit einer siebzehnjährigen Muslimin? Da hatten doch sicherlich die Eltern noch ihre Hände auf der Unschuld. Es geschah ihm recht, diesem Hitzkopf. Na, der konnte sich was von ihr anhören. Sie würde ihm die Leviten schon lesen. Und dieser widerlichen Türken-Nutte würde sie auch noch ein paar nette Worte mitzuteilen haben. In ihrer ersten Wut überlegte sie, wie sie den beiden einen ordentlichen Denkzettel verpassen konnte. Hatte dieses türkische Miststück nicht einen Freund? Natürlich, diesen Kümmeltürken aus Erlangen. Sie hatte die beiden schon mal Händchen haltend im Cine Star gesehen. Das war erst sechs Wochen her. Ein kräftiger, muskulöser Typ. Mit einer gewaltigen Türkennase im Gesicht. Irgendwie sah der brutal aus. Sie erinnerte sich. Er hatte sie so geil angesehen, als sie damals an den beiden vorbeischlenderte – als ob er sie mit Blicken ausziehen wollte. Ein ekliger Kerl, mit glänzender Pomade im Haar. Nicht ihre Kragenweite. Igitt, wenn sie sich vorstellte, dass sie etwas mit dem haben müsste, dass er sie anfassen würde, mit seinen dreckigen Fingernägeln. Nein, nie und nimmer. Doris Kunstmann standen die feinen Härchen auf ihren Unterarmen zu Berge. Was der Typ wohl sagen würde, wenn er erfuhr, dass ihm seine Freundin abhanden gekommen war, oder wusste er gar schon Bescheid? Auf Walter würde er bestimmt nicht gut zu sprechen sein. Die zogen doch immer gleich das Messer, diese Türken. Dieser, … Mensch, wie hieß er doch gleich wieder? Ihr fiel der Name nicht ein. Irgendetwas mit Müsli. Müslim? Der gehörte bestimmt auch zu dieser Sorte der Messerstecher. Sie würde Norbert Amon noch einmal befragen, der wusste zwar immer alles, aber man musste ihm sein Wissen erst regelrecht aus der Nase ziehen. Ein netter Kerl, aber ein maulfauler Typ. Als sie ihr Mobiltelefon zur Hand nahm, kam ihr noch eine andere Idee. Sie drückte auf die Funktion »Nachrichten« und wählte Walter Fuchs‘ Handynummer. Dann huschten ihre Finger über die kleine Tastatur: Walter, Du bist ein Aas. Du bist auch nicht besser als all die anderen versoffenen Typen. Ich sage Dir, Deine Untreue kotzt mich an. Ich kann nicht glauben, was ich erfahren habe. Ich hatte an Dich geglaubt. Felsenfest. Umso mehr hast Du mich enttäuscht. Was willst Du denn von dieser türkischen Hure? Was hat die, was ich Dir nicht geben kann? Erklär es mir! Hat sie einen festeren Arsch? Größere Titten bestimmt nicht! Ich hasse Dich! Ich scheiß auf Dich! Wenn Du mir über den Weg läufst, reiß ich Dir Deinen Arsch auf, das kann ich Dir sagen. Du hast mich beleidigt, gedemütigt und bloßgestellt. Lächerlich hast Du mich gemacht, vor allen Leuten. Ich wünsche Dir und Deiner Kanaille die Pest an den Hals. Trete mir nicht mehr unter die Augen! Ich will Dich nicht mehr sehen. Du wirst sehen, ich werde dafür sorgen, dass ihr beide euren Denkzettel abbekommt. Lass Dich überraschen, Du Wichser. Ich hasse Dich für alles. Doris. Sie drückte das Tastenfeld »Senden«. Danach fühlte sie sich zwar nicht besser, aber dennoch etwas erleichtert.
*
Kunigunde Holzmann und Margarethe Bauer, die beiden Röttenbacher Busenfreundinnen, saßen bei der Kunni im Wohnzimmer. Vor ihnen auf dem Couchtisch standen eine gut gefüllte Kanne mit frisch gebrühtem Kaffee, eine Kuchenplatte mit drei Schichten Streusel-Zwetschgenkuchen, eine Glasschale mit frisch geschlagener Sahne, ein Porzellankännchen mit Bärenmarke-Kondensmilch und, inmitten von Kuchentellern, Tassen und Besteck, ein Plastikspender mit Süßstoff-Tabletten. »Wegen der Kalorien«, wie Kunni Holzmann anmerkte. »Essn wir eine Kleinigkeit. Hau rein, Retta.«
Margarethe Bauer sah auf das Ziffernblatt der hohen Standuhr. »Wird heut net der Bergdoktor wiederholt?«, wollte sie von Kunni wissen, während sie ein Stück Zwetschgenkuchen auf ihren Kuchenteller schaufelte und aus der Glasschale zwei turmhohe Sahnehäubchen oben drauf klatschte.
»Weiß net, schalt halt den Fernseher ein«, antwortete die Kunni, während sie die beiden Kaffeetassen mit duftendem Kaffee füllte, jeweils zwei Süßstoff-Tabletten dazu gab und die dunkle Brühe kräftig umrührte. »Milch auch?«
»Freilich, ohne Milch schmeckt doch der Kaffee net.« Margarethe Bauer drückte auf der Fernbedienung des Fernsehers herum. Das Gerät knisterte und kurz darauf erschien eine Fernsehreporterin in Großaufnahme. Ihr Gesichtsausdruck wirkte wie versteinert. In der rechten Hand hielt sie einen aufgespannten, geblümten Regenschirm, in der linken ihr Mikrofon mit dem ZDF-Logo. Der Wind zerrte an ihrer dunklen Afro-Frisur und schaukelte den Regenschirm hin und her. »Is des net in Nermberch?«, warf die Retta ein.
»Hab ich mir a grad denkt«, bestätigte die Kunni zweifelnd.
»Was isn da scho widder passiert?«
»Ruhich, leise!«
»… seit einer knappen Stunde sind auch die staatlichen Ermittlungsbehörden vom Bundeskriminalamt und dem Verfassungsschutz am Ort der Verwüstung«, berichtete die Reporterin mit aufgeregter Stimme. »Im Hintergrund sehen sie das Türkische Generalkonsulat in Nürnberg oder besser gesagt das, was davon noch übrig geblieben ist. Heute Morgen, um Ortszeit neun Uhr eins, eine halbe Stunde nach Öffnung, explodierten unmittelbar vor dem Gebäude zwei Sprengsätze, welche über Funk gezündet wurden und sich in einem in Fürth gestohlenen VW Golf befanden. Soweit bekannt ist, fielen dem Anschlag zehn Menschen zum Opfer, sechs weitere liegen schwer verletzt in den Erlanger Kliniken und zahlreiche andere Personen wurden durch umherfliegende Splitter leicht verletzt. Hinter mir sieht es aus, wie nach einem Bombenangriff.« Die Kamera zoomte das schwer beschädigte Gebäude heran und schwenkte Sekunden später wieder auf die zerzauste Berichterstatterin zurück. »Das Türkische Generalkonsulat sowie die nebenstehenden Gebäude sind schwer beschädigt. Wer für den schrecklichen Anschlag verantwortlich ist, ist bis dato noch nicht bekannt. Ein Bekennerschreiben gibt es, soweit uns bisherige Informationen vorliegen, nicht. Von der Polizei und der zuständigen Staatsanwaltschaft unbestätigt hält sich allerdings ein hartnäckiges Gerücht, demzufolge hinter dem verabscheuungswürdigen Terrorakt vermutlich eine palästinensische Großfamilie stecken könnte, die in Berlin beheimatet sein soll. Die Gerüchte besagen, dass Teile dieser Familie Mitglieder der Organisierten Kriminalität sind und dass die Motive des schrecklichen Bombenanschlags möglicherweise im Bereich eines persönlichen Rachefeldzuges liegen könnten, welcher einem getöteten Mitarbeiter des Konsulats gegolten haben soll. Warum bei dem Anschlag allerdings weitere neun unschuldige Menschen ihr Leben lassen mussten, nun, diese Frage ist im Moment noch völlig ungeklärt. Die Polizei vor Ort hat für heute um dreiundzwanzig Uhr eine Pressekonferenz anberaumt. Viele Fragen bleiben im Moment noch offen. Wir berichten weiter. Bleiben Sie dran. Und nun schalten wir zurück ins Studio Mainz. Es folgt die Wiederholung der Sendung Die Fischers Froni und der Jägers Toni, aus unserer Serie Der Bergdoktor.«
»Glaubst du das mit der palästinensischen Großfamilie?«, wollte die Kunni, sichtlich erschüttert, wissen und schob sich ein Stück Kuchen in den Mund.
»Könnt scho sein«, antwortete die Retta, »das sind doch sowieso alles Schlaggn und Gauner, die Palästinenser. Wie die scho ausschaua! Mit ihre Bärt und stiere Blick. Zum Fürchtn. Da brauch ich mich doch bloß an den Arafat zu erinnern, mit seinem komischen Kopftuch und den kleinen, listigen Schweinsaugen. Von denen kannst du doch keinem net traun. Das sind doch alle Gangster und Verbrecher.«
»Aber die bringen doch keine zehn Leut net um, die mit ihnen gar nix zu tun ham. Mirnixdirnix. Am helllichten Tag noch dazu. Also ich glaub des net. Wenns die NSU noch geben tät, dann tät ich sagn, da stecken die dahinter.«
»Meinst du?«, zweifelte Margarethe Bauer und griff sich ihr zweites Stück Kuchen. »Hast du noch an Kaffee? Ist das die Milde Sorte vo Tchibo? Hast ganz schön stark gmacht. Hoffentlich kann ich heut Nacht schlafen.«