Kitabı oku: «»Wir kriegen euch alle!« Braune Spur durchs Frankenland», sayfa 6
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Nicht nur Ahmet Özkan hatte vor Jahren unfreiwilligen Kontakt mit dem syrischen Geheimdienst, auch die palästinensische Großfamilie Abusharekh in Berlin-Neukölln pflegte rege Beziehungen mit den Glaubensbrüdern, wobei sich diese Aktivitäten jedoch am Rande der Legalität bewegten. Ali, der Familienvorstand, stand politisch dem syrischen Regime und dem Führungsgremium der Baath-Partei sehr nahe. Er unterstützte den 1969 gegründeten Geheimdienst der Syrer, indem er schon so manchen in Deutschland aktiven Regimefeind diskreditiert hatte. Einige unaufgeklärte Morde und Entführungen wären ohne seine Informationsbereitschaft nicht geschehen. Obwohl Ali Abusharekh bei seinen Kontakten sehr vorsichtig war, war ihm der Bundesnachrichtendienst doch auf die Schliche gekommen und hatte auch den Verfassungsschutz informiert. Ali Abusharekh wurde von Zeit zu Zeit observiert, sein Festnetz- und sein Mobiltelefon wurden vom BND abgehört.
Doch er war ein äußerst vorsichtiger, verschlagener und misstrauischer Mann. Über vertrauliche Angelegenheiten, die nicht für die Allgemeinheit bestimmt waren, sprach er nie am Telefon. Er zog das persönliche Gespräch außerhalb der eigenen vier Wände vor. Im Notfall benutzte er sein abhörsicheres Satellitentelefon. Nur ganz wenige Menschen kannten die Telefonnummer. Seine Kontakte reichten bis tief in die Türkei hinein, wo noch Hundertausende Flüchtlinge, vor allem aus Syrien, dem Irak und Afghanistan, darauf warteten, bis an die nordafrikanische Küste weitertransportiert zu werden, um ihre ungewisse Überfahrt nach Europa anzutreten. Seine Beziehungen waren aber auch über halb Europa verteilt, und wann immer ein Boot mit Flüchtlingen in Lampedusa oder einem anderen Mittelmeerhafen eintraf, wusste er nach wenigen Stunden, ob Syrer unter den Ankömmlingen waren und welche politischen Ansichten sie vertraten. Der Chef des Familienclans befehligte höchstpersönlich mehrere Schleuserbanden im Nahen Osten, Tunesien und Libyen. Er verdiente am Leid der Flüchtlinge und setzte bewusst ihr Leben aufs Spiel, indem er seine Handlanger anwies, nur alte, verrottete Seelenverkäufer für die Überfahrt zu beschaffen, Boote und Fischkutter, welche den Namen seetüchtig in keinster Weise mehr verdienten. Darauf pferchten seine Leute die hoffnungsvollen Flüchtlinge und ließen sie dann mit den Schleppern in See stechen. Meist in der Nacht und bei jedem Wetter. Circa einhundertdreißig Kilometer waren es von Tunesien, circa dreihundert von Libyen bis nach Lampedusa. Kurz genug, um zu jeder Zeit zu sterben, lange genug, um stundenlange Ängste und Zweifel zu durchleben. Auch im Mittelmeer gab es nicht selten überraschend auftretende, heftige Stürme und Gewitter mit meterhohen Wellen. Einmal, als die Flüchtlinge sich weigerten, auf hoher See auf ein anderes Boot umzusteigen, versenkten die Schlepper kurzerhand das Flüchtlingsboot. Ali Abusharekh erinnerte sich an den Anruf auf seinem Satellitentelefon, damals, vor einem knappen dreiviertel Jahr, als er weit nach Mitternacht mit dem Problem konfrontiert wurde. »Lasst sie absaufen«, hatte er voller Zorn in den Hörer geschrien. Mehr als zweihundert Menschen – Kinder, Frauen und Männer – ertranken elendiglich und qualvoll, als ihr alter Kutter in den Tiefen des Mittelmeers versank. Die Schlepper, welche die Ventile des alten Kahns geöffnet hatten, verhöhnten die wenigen, die noch schwimmend auf der Wasseroberfläche trieben. Bald würden auch ihre Kräfte nachlassen.
*
Hinter dem mannshohen Maschendrahtzaun, an dessen oberen Ende drei Reihen Stacheldraht gezogen waren, ragten die langen, dreistöckigen Mannschaftswohngebäude der ehemaligen Polizeikaserne empor. Kein besonders schöner Anblick, diese in Stein errichtete Tristesse und die kahl geteerten Flächen zwischen den langgezogenen Gebäuden. Ein Wohnblock stand aufgereiht neben dem anderen. Es sah aus wie in einem Sammellager, aber das war es ja auch. Das Rote Kreuz hatte zusätzlich riesige Mannschaftszelte zwischen den Gebäuden aufgebaut, manche reichten bis direkt an die Hauswände heran, manche standen in unmittelbarer Nähe des Zauns. Reihen von mobilen Dixie-Toiletten, von Schmeißfliegen umschwärmt, schlossen sich an und stanken vor sich hin. Niemand fühlte sich zuständig, sie zu entleeren. Vor manchen Fenstern der Wohngebäude waren Wäscheleinen gezogen, an denen wenig reizvolle Unterwäsche, Kopftücher und Hemden zum Trocknen hingen. Ein blickdichtes Schiebetor, der offizielle Zugang zu dem Areal, rundete den unappetitlichen Eindruck der Gesamtanlage ab, welche auf ein Aufnahmevolumen von sechshundertfünfzig Asylsuchenden ausgelegt war. Derzeit lebten knapp tausend Flüchtlinge hinter dem Zaun, der die Anlage in einem großen Rechteck umgab. Die Aufnahmestelle platzte aus allen Nähten. Selbst die Kapelle und die Cafeteria waren zu Notunterkünften umfunktioniert worden. Garagen dienten zur Lagerung von allem möglichen Krimskrams, und die im Freien aufgestellten Mannschaftszelte waren auch schon brechend voll. Einhundertzwanzig Männer mussten sich einen Waschraum teilen. Asylanten aus dreißig verschiedenen Herkunftsländern lebten derzeit vorübergehend auf dem Areal der Aufnahmeeinrichtung für Asylsuchende in Zirndorf an der Rothenburger Straße 31, welches dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, dem BAMF unterstand. Sie kamen aus Tschetschenien, Syrien, Irak, Afghanistan, Libyen, Ghana, dem Sudan, Uganda und anderen Krisenländern. Die wenigsten von ihnen hatten tatsächlich eine echte Chance, in Deutschland bleiben zu dürfen, und würden über kurz oder lang wieder in ihre Heimat abgeschoben werden. Das galt ganz besonders für die neuen Syrer, die sich seit ein paar Tagen in der Aufnahmestelle aufhielten. Die Leitung der Einrichtung war überfordert und aufs Höchste erbost. Noch versuchten sie herauszufinden, welcher Idiot ihnen die Syrer geschickt hatte. Wo käme man denn hin, wenn denen auch noch Tür und Tor geöffnet würden. Nun ja, jeder von denen hatte die Regeln und rechtsstaatlichen Verfahren zu akzeptieren. Flüchtling hin oder her. Den wenigsten Anträgen lagen wirklich asylrelevante Fluchtgründe zu Grunde. Das war doch jedem klar. Bürgerkrieg hin oder her, politische Verfolgung oder nicht. Was wollten denn die ganzen Ausländer in Deutschland? Sie sprachen die Sprache nicht, hatten kaum eine Chance auf eine Arbeitsstelle und bewegten sich außerhalb ihres beschissenen Kulturkreises. Die konnten doch dem deutschen Staat nicht ewig auf der Tasche liegen? Das galt nicht nur für die syrischen Flüchtlinge. Vielen der BAMF-Mitarbeiter gingen solche oder ähnliche Gedanken durch den Kopf, wenn sie das tägliche Leid wahrnahmen. »Deutschland kann es sich einfach nicht leisten, dass jeder dahergelaufene Ausländer wie die Made im Speck hier leben möchte. Noch dazu im schönen Bayern, dem deutschen Musterland.« So dachten die etwas extremistischer eingestellten Beamten, sprachen aber ihre Gedanken nicht aus. Sie arbeiteten sehr genau, nach allen Vorgaben der Regeln und waren von ihrem Naturell her eher misstrauisch eingestellt. Sie glaubten nur, was sie schwarz auf weiß sahen. Darin hatten sie Erfahrung. Mit Lügengeschichten brauchte man ihnen schon gar nicht zu kommen. Da konnten sie sehr empfindlich reagieren. Überaus empfindlich sogar. Sie hatten klare Anweisungen vom bayerischen Innenministerium.
Die junge, attraktive Frau mit der kleinen Stupsnase und dem kurzgeschnittenen blonden Haar war mit der U-Bahn bis zur Haltestelle Rothenburger Straße gefahren und dann auf die Buslinie 113 umgestiegen. Sie kannte sich in Zirndorf nicht aus, war noch nie hier gewesen, aber sie hatte sich die Straßen rund um die Aufnahmestelle, gut eingeprägt. Wozu gab es ein Internet? Sie trug eine schwarze, enge Jeanshose, welche ihren knackigen Po gut zur Geltung brachte. Ihre wattierte, dunkle Wolljacke trug sie offen, so dass sich die weiße Bluse darunter kontrastreich hervorhob. Es schien nicht, dass sie in Eile war. Sie sah sich erst einmal um, als sie auf dem Gehsteig neben der Rothenburger Straße stand, und orientierte sich. Der Berufsverkehr brauste an ihr vorbei. Eine Glocke trug ihre schweren Schläge von irgendwo her. Halb neun Uhr am Morgen. Dann zog die junge Frau ihr Samsung-Mobiltelefon aus der Gesäßtasche und fotografierte die Rothenburger Straße in westlicher und östlicher Richtung. Auf einem der Digitalfotos war am linken Bildrand die Polizeiinspektion Zirndorf zu sehen.
Die Frau lief in Richtung Osten, immer die Rothenburger Straße entlang. Es sah so aus, als wäre sie auf der Suche. Aber wonach? Nahezu orientierungslos, so schien es, setzte sie ihren Weg fort. Ab und zu blieb sie stehen, und sah sich immer wieder um. Als sie die Polizeiinspektion passierte, schoss sie mit ihrem Handy aus dem Handgelenk rasch ein halbes Dutzend Fotos. Sie lief geradeaus weiter. Nach weiteren wenigen Minuten erreichte sie die Einmündung der Zwickauer Straße und bog links ab. Spätestens als sie kurz darauf wieder links in die Plauener Straße lief, wäre einem aufmerksamen Beobachter aufgefallen, dass sie gar nicht so orientierungslos war, wie es ursprünglich schien. Ganz im Gegenteil, als sie die beiden ersten großen Wohngebäude erreichte, welche mit der Stirnseite zur Straße standen, sah sie sich verstohlen um und schlug sich in die dort stehenden Büsche. Sie blieb stehen und lauschte angestrengt. Niemand, der ihr zurief: »Suchen Sie etwas Bestimmtes?«, »Hallo, was machen Sie da unten, wohnen Sie hier?«, oder »Hallo, kann ich Ihnen helfen?« Das Buschwerk unter den zwei hohen Bäumen war dicht und gab ein gutes Versteck ab. Noch waren die Blätter dem Herbst nicht zum Opfer gefallen. Die junge Frau schlich weiter durch das Gebüsch und achtete darauf, auf keinen trockenen Ast zu steigen, dessen Knacken ihre Anwesenheit verraten konnte. Nach wenigen weiteren Schritten erreichte sie den Zaun, der die Aufnahmeeinrichtung für Asylsuchende umgab. Durch das Blätterwerk registrierte sie, dass jenseits der Absperrung rege Betriebsamkeit herrschte. Dunkelhäutige Männer und Frauen gingen in riesigen Mannschaftszelten ein und aus. Kinder steckten noch in Schlafanzügen, liefen ihren Müttern hinterher oder tummelten sich spielend im Freien. Die Handy-Kamera klickte leise. Die Männer trugen überwiegend Bärte und eigenartige Kopfbedeckungen, gestikulierten lauthals vor den Dixie-Toiletten und warteten, bis die nächste Kabine frei wurde. Drei heranwachsende Jungs spielten immer wieder einen Lederball gegen die nächste Hauswand. Ein kunterbuntes Stimmengewirr verschiedener Sprachen drang an die Ohren der jungen Frau mit der Stupsnase. Auf ihrem Samsung-Handy speicherte sie eifrig Fotos. Nach fünf weiteren Minuten des Beobachtens schlich sie wieder auf die Plauener Straße zurück und setzte ihren Weg fort. Sie hatte genug gesehen und in Bildern festgehalten. Ihre Gedanken kreisten. Für ihren Freund würde es ein leichtes Unterfangen werden, nachts, im Schutze der Dunkelheit, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Lediglich der Fluchtweg bereitete ihr noch Kopfzerbrechen. Die Polizeiinspektion lag verdammt nah, quasi unmittelbar vor dem Haupteingang des Asylantenlagers. Die Bullen würden innerhalb kürzester Zeit hier sein und waren in der Lage, den Tatort schnell weiträumig abzusperren beziehungsweise Straßenkontrollen durchzuführen. Dennoch, sie war sich sicher, dass es auch dafür eine Lösung gab. Sie musste sich in der Gegend noch etwas umsehen.
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Akgül Özkan und Walter Fuchs, die beiden Jungverliebten, konnten und wollten nicht voneinander lassen, trotz der Probleme, welche beide mit ihren Elternhäusern hatten.
»Du musst verstehen, Walter«, schluchzte Akgül und drückte sich an ihren neuen Freund, »meine Eltern kommen aus tiefste Provinz in Türkei. Aus Urfa in Südostanatolien. Ist zwar Stadt mit mehr als 500.000 Leute – so groß wie Nürnberg – aber, wie sagt man? Sehr konservativ und fromm. Alle Frauen tragen Kopftuch. Musst wissen, ist bedeutende Pilgerstätte für Muslime.«
»Und was ist da so bedeutend?«, wollte Walter, der seinen rechten Arm um ihre Schulter gelegt hatte, wissen, »ich hab von Urfa noch nie was ghört.«
»In Urfa liegt Halil-Rahman Moschee mit Abraham Teich, und darin heilige Karpfen.«
»Heilige Karpfn? Ja verregg«, witzelte Akgüls Freund.
»Ja, heilige Karpfen, hast du gehört richtig. Nach altem Glauben wollte König Nemrud den Propheten Abraham verbrennen auf Scheiterhaufen, weil Abraham wollte nicht anerkennen alte Götter. Und in Koran steht: Verbrennt ihn und verteidigt eure Götter, falls ihr etwas tun wollt, aber es steht auch Oh Feuer sei kühl und unschädlich für Abraham. Muslime glauben, dass Gott hat verwandelt das Feuer in Wasser, und brennende Holzscheite aus Scheiterhaufen in Karpfen. Deshalb bei uns Karpfen sind heilige Tiere und dürfen nicht gegessen werden.«
»Und da seid ihr nach Röttenbach gezogen?« Walter Fuchs konnte es nicht glauben. »Mitten rein ins fränkische Karpfenland, wo es die besten Karpfn gibt? Eine kulinarische Spezialität. Wo allein der Landrat von September bis April einen ganzen Karpfenweiher leer frisst.«
»Versteh ich nicht, was du meinst mit Landrat und Karpfen. Ist Landrat auch heilig, und schützt Fische?«
Walter lachte hell auf und meinte: »Na, der net! Weder des eine noch des andere, aber des musst du auch net verstehn, Akgül.«
Walter hatte sich heute am Christian-Ernst-Gymnasium in Erlangen krank gemeldet, nur um Akgül in Nürnberg zu treffen, wo sie die Private Fachoberschule Mesale e.V. in der Hasstraße besuchte. Vor allem Schüler und Schülerinnen aus Migrantenfamilien, welche sich mit der deutschen Sprache noch schwer taten, besuchten die Schule. Vor fünfzehn Minuten war Schulschluss, und der Röttenbacher hatte vor der Schule auf seine Akgül gewartet. Nun machten sie sich Händchen haltend auf den Weg in die Innenstadt zum Bahnhof. Derzeit bestand so gut wie keine Chance sich anderweitig zu sehen. Akgül hatte noch immer Hausarrest.
»Akgül«, begann Walter Fuchs, »das ist wirklich Scheiße, das mit deinen Eltern. Ich mein, meine ham sich auch gscheit aufgregt, aber das geht mir am Arsch vorbei, denen ihr Gwaaf. Bei dir ist das viel schlimmer. Dass dich dein eigener Bruder geschlagen hat, das ist eine Sauerei. Dem tät ich am liebsten eine in die Eier geben, dem Kümmeltürken. Oh, entschuldige, das ist nicht so gemeint. Was machen wir denn etzerdla? Du weißt doch, dass ich dich so gern mag. Ich tät dich doch am liebsten jeden Tag sehn. Das halt ich fei auf Dauer net aus, das mit dem Stubenarrest. Wie lang soll das denn noch gehn?«
»Kann nicht sagen«, antwortete Akgül seufzend und mit tränenfeuchten Augen, »mein Vater hat nix gesagt, wie lange dauert, und meine Bruder ständig passt auf mich auf. Musst wissen, ist arbeitslos, hat Zeit, und immer fragt: Wo du gehst hin?, Was du machst morgen?. Sagt, wenn ich will was unternehmen, ich soll Müselüm anrufen. Aber, glaub mir, ich nicht lieben Müselüm, ist kein guter Mann. Ich will nicht mehr sehen diese Mann. Ich lieben dich. Möchte auch den ganzen Tag sein bei dir. Aber Vater sagt, wenn nicht Schluss mit deutsche Freund, er mich schicken zurück in Türkei, nach Südostanatolien, zurück nach Urfa zu meine Großmutter. Und hat gesagt, dass er wird aussuchen eine türkische Mann für mich, der mich wird heiraten und Kinder machen. Walter, ich nicht will zurück nach Urfa, will bleiben hier bei dir. Türkischer Ehemann ist nicht gut, Südostanatolien auch nicht gut.«
»Wenn die dich in die Türkei zurückschicken, ich glaub, dann bring ich sie alle um«, stieß Walter Fuchs zwischen den Zähnen hervor. »Dann werd ich zur rasenden Wildsau. Dann kann ich mich nicht mehr zurückhalten.«
»Nein Walter, darfst du nicht so denken, bringt nur Unglück. Vielleicht ist Hausarrest doch bald vorbei. Wir müssen haben Geduld. Auf jeden Fall ich will nicht mehr sehen Müselüm, lieber Hausarrest. Allah sei Dank, dass Vater und Kemal nicht haben gedacht an iPhone und wir uns immer noch schicken können Botschaft und Fotos. Lass uns beeilen, sonst Kemal schöpft Verdacht, wenn ich kommen zu spät nach Haus.«
Walters iPhone piepste. Er checkte den SMS-Eingang und schüttelte den Kopf.
»Sie dir schon wieder hat geschrieben wütende Botschaft?«, mutmaßte Akgül.
Walter Fuchs nickte nur und löschte die SMS. Irgendwann würde er seiner früheren Freundin den Hals umdrehen. Sie ging ihm zwischenzeitlich dermaßen auf den Sack, mit ihren ständigen Eifersüchteleien.
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Müselüm Yilmaz war höchst verwirrt und immer noch zornig. Lange hatte er mit Akgüls Vater am Telefon gesprochen. Er hatte eine unbändige Wut auf diesen Deutschen, der ihm Akgül weggenommen hatte. Seine Akgül. Sie war ihm versprochen worden. Nun wollte sie nichts mehr von ihm wissen, hatte Ahmet gesagt. Lieber bliebe sie Jungfrau, hatte sie gesagt. Zumindest dieser Satz hatte in Müselüm eine gewisse Erleichterung hervorgerufen, denn er hatte die attraktive Akgül noch nicht aufgegeben. Er würde um sie kämpfen. Das hatte er sich vorgenommen. Aber dann erzählte ihm Ahmet Özkan, dass er mit den Gedanken spiele, seine ungehorsame Tochter gegebenenfalls in die Türkei zurückzuschicken. Nach Urfa zu ihrer Großmutter. Nach Urfa wollte Müselüm Yilmaz auf keinen Fall, das kam für ihn überhaupt nicht in Frage. Was sollte er denn in diesem Provinznest am Arsch der Welt? Soweit würde seine Zuneigung zu Akgül nun auch wieder nicht gehen. Vielleicht lief ja etwas mit dieser Deutschen? Mit dieser Doris Kunstmann, die sich bei ihm telefonisch gemeldet hatte. »Der Walter, der dir die Akgül ausgespannt hat, war bis vor Kurzem mein Freund«, hatte sie ihm am Telefon erklärt, »und ich bin, genauso wie du, stinksauer auf ihn und deine Akgül. Insofern sitzen wir beide im gleichen Boot, wir sind die beiden Betrogenen. Und das stinkt mir gewaltig. Ich denke, die beiden sollten für ihre Untreue bezahlen. Deshalb rufe ich dich an. Was meinst du?«
»Kenne ich dich?«, wollte Müselüm von ihr wissen.
»Ich denke nicht«, kam die Antwort, »aber ich habe dich schon mal mit ihr in Erlangen gesehen. Ich weiß, wie du aussiehst. Hast du Zeit, Lust und Interesse, dass wir beide mal darüber reden?«
»Schon.«
»Okay, dann treffen wir uns am Samstagabend um acht in Erlangen, im Bogart‘s. Keine Sorge, ich spreche dich an, wenn du da bist.«
Sie hatte eine verdammt sexy Stimme am Telefon. Etwas rauchig. Erotisch war der bessere Begriff. Alter? Schwer zu schätzen. Er hatte den Eindruck, sie wusste genau, was sie wollte. Das gefiel ihm. Er würde da sein, am Samstag.
*
Während Doris Kunstmann im Bogart‘s auf Müselüm Yilmaz wartete, schlich ein junger Mann mit Rucksack durch die Büsche an der Plauener Straße in Zirndorf. Langsam tastete er sich in der Dunkelheit bis zum Zaun vor, der die Anlage für Asylsuchende umgab. Seine Stirnlampe wollte er nicht einschalten, um sich nicht selbst zu verraten. Er stand ganz still und lauschte den Geräuschen der Nacht. Menschliche Stimmen drangen gedämpft aus den Zelten jenseits des Zauns zu ihm herüber. Ausländische Stimmen, die er nicht verstand. Manche leicht dahin murmelnd, manche kräftig und fordernd. Aus dem dreistöckigen Wohnhaus auf seiner Seite des Zauns drang aus einem offenen Balkonfenster die Eingangsmelodie der Serie Die Zwei. In dem kleinen Wohnzimmer dahinter flackerte der unruhige Lichtschein des Fernsehbildschirms. Bernd Auerbach roch den modrigen Geruch der nassen Erde, auf der er stand. Der Boden war noch mit dem Laub vom letzten Jahr übersät. Er stand weich, wie auf mehreren dünnen Teppichen. Fremdländische Essensgerüche aus den Zelten wehten herüber und vermischten sich mit dem Geruch der modrigen Erde. Das Buschwerk, in dem er sich verbarg, war noch von der Feuchtigkeit des letzten Regens benetzt. Nach weiteren fünf Minuten des stillen Wartens, und nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, legte er seinen Rucksack geräuschlos und vorsichtig auf die feuchten Blätterschichten. Er öffnete ihn, griff hinein und holte die drei Transportbehälter mit den todbringenden amerikanischen M61-Splitterhandgranaten heraus. Immer wieder lauschte er in die Finsternis. Jenseits des Zauns unterhielten sich die Menschen in ihren Zelten weiterhin in ansteigenden und abflachenden Tonlagen. Ein Kleinkind begann zu weinen. Irgendwo im Gebüsch neben ihm regte sich etwas. Eine fette Kröte kroch unter einem tiefhängenden Zweig hervor und machte sich gemütlich davon. Mit Bedacht und Routine nahm er die drei Handgranaten aus ihren Behältern und legte sie vor sich auf das feuchte Blattwerk. Die Transportbehälter steckte er wieder in den Rucksack zurück. Die Sprengkörper schimmerten matt und bedrohlich im gedämpften Widerschein, der aus den drei Zelten auf der anderen Seite herüberdrang.
Bernd Auerbach hatte sich die Fotos, die seine Freundin wenige Tage zuvor gemacht hatte, ganz genau eingeprägt. Auch das Firmengelände eines Honda-Händlers ganz in der Nähe, Ecke Brandstätterstraße/Zwickauerstraße, hatte sie ausgekundschaftet. Die langgezogene Halle sah nicht so aus, als ob sie ausreichend gegen Einbrecher geschützt sei. Videokameras waren jedenfalls nicht zu erkennen. Er hatte nicht vor, nach seiner Tat das Gebiet sofort zu verlassen. Zu nah lag die Polizeiinspektion Zirndorf. Er musste damit rechnen, dass die Bullen – trotz Notbesetzung während des Wochenendes – sehr schnell am Tatort eintrafen und Straßensperren errichteten. Er hatte keine Lust, den Polizeibeamten in die Arme zu laufen. Nein, er würde ganz in der Nähe bleiben und sich bis zum Sonntagabend auf dem Gelände des Honda-Händlers verstecken. Eine Flasche Cola und vier belegte Brote steckten ebenfalls in seinem Rucksack. Das reicht bis Sonntagabend. Wer würde damit rechnen, dass der oder die Täter noch in der Nähe waren? Niemand. Sie würden hier niemals nach ihm suchen. Ein genialer Plan, den sie sich zuhause ausgedacht hatten, Anna und er. Bernd Auerbach sah auf das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr. Noch dreißig Minuten. Konzentriert befasste er sich in Gedanken nochmals mit dem Entsichern und Werfen der Handgranaten. Das war der Knackpunkt. Er schloss die Augen und versuchte, sich die Szene vorzustellen. Es musste alles sehr schnell gehen. Zwar hatten die Explosivkörper einen eingebauten Zeitstempel, aber mehr als acht bis zwölf Sekunden zwischen Zündung und Explosion blieben ihm nicht. Der Splitterradius dieser Defensivwaffen war größer als die Wurfreichweite. Um selbst nicht Opfer seiner Handgranaten zu werden, musste er spätestens nach acht Sekunden um die Ecke des nahestehenden Wohngebäudes verschwunden sein. Trotz aller Vorsicht ein heikles Unterfangen. Nachdem er den Angriff gedanklich durchgespielt hatte, warf er einen kleinen Zettel achtlos neben sich auf die Erde. Er wusste nicht wozu, aber Thomas Keller bestand unbedingt darauf, dieses Stück Papier, auf dem eine Reihe verwirrender Buchstaben notiert waren, am Tatort zu hinterlassen. Thomas Keller würde schon seine Gründe haben. Er vertraute ihm. Plötzlich veränderten sich die Geräusche. Die Äste und Zweige der hohen Laubbäume über ihm fingen zu tanzen an. Ihre Stämme ächzten. Der Wind flüsterte aus den hin und her wankenden Baumkronen zu ihm herab. Erst zart, dann rasant zunehmend. Es regnete braune, vertrocknete Blätter herab. Bernd Auerbach roch den Regen, der sich von Westen her anschlich. Das Gewebe der Wolken hatte seine Zartheit verloren. Schwere, schwarze Regentürme ritten wie eine Herde springender Delfine aus dem Westen daher und verkündeten nichts Gutes. Einige dieser Motherfucker steckten ihre Köpfe aus den Zelten, um sie sofort wieder zurückzuziehen. Diese Trottel, bald würde ihnen die Welt um die Ohren fliegen. Noch zehn Minuten.
*
»Sie sind Müselüm Yilmaz?!« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Die Stimme traf ihn von hinten und seine Gehörgänge transportierten pure Erotik in sein Gehirn. »Wollen wir uns dahinten in die Ecke setzen?« Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte sie sich um und lief vor ihm durch das Lokal.
Obwohl Müselüm wusste, dass sie auf ihn wartete, war er doch von ihrem plötzlichen Erscheinen überrascht. Er folgte ihr durch das Lokal. Ob er wollte oder nicht, er musste auf ihren prallen Arsch gucken, der beim Gehen von links nach rechts und von rechts nach links hin und her schwankte. Aufreizend, wie er fand. Ihre blonde Mähne fiel ihr glatt in den Rücken und endete zwischen den Schulterblättern. Als sie ihn begrüßte, waren ihre himmelblauen Augen und die langen, gebogenen Wimpern noch auffallender als ihre üppige Oberweite und der schwarze BH, der durch das helle T-Shirt von Dolce & Gabana schimmerte. Müselüm genoss die leichte Schwellung in seiner Hose. Die Frau war ein Hammer, eine absolute Wucht. Leider konnte er ihre Beine nicht sehen, die in einer schwarzen Röhrenjeans steckten. Die roten High Heels, in denen sie vor ihm dahin schritt, hätten alleine schon eines Waffenscheins bedurft. Er rieb seine mächtige Nase, die aus seinem sonst ebenmäßigen Gesicht ragte. Im Vergleich zu ihm hatte Thomas Gottschalk ein Kindernäschen.
Sie waren an dem Tisch in der Ecke angekommen. »Setzen Sie sich doch«, forderte sie ihn auf.
»Können wir nicht besser zum Du übergehen?«, hörte er sich sagen, während er auf dem Stuhl Platz nahm. Ihm war ganz heiß. »Das Sie klingt so förmlich, so unpersönlich.«
»Von mir aus, ich bin die Doris.«
»Müselüm.«
»Wollen wir was trinken?«, schlug sie vor.
Müselüm fiel es schwer, seinen Blick von ihrer enormen Oberweite abzuwenden, welche sich bei jedem Atemzug hob und senkte. »Gerne«, krächzte er.
»Hast du was im Hals?«, wollte sie wissen.
»Nein, nein, nur ein bisschen heiser, eine leichte Erkältung.« Die Bedienung trat an den Tisch. »Wisst ihr schon, was ihr wollt?«
»Einen großen Cappuccino für mich«, antwortete Doris Kunstmann.
»Ich nehme einen grünen Tee.«
»Also«, nahm Müselüm Yilmaz das Gespräch auf, »du hast mich angerufen und mir vorgeschlagen, dass wir uns hier treffen. Wenn ich es recht verstehe, ist dein bisheriger Freund jetzt mit meiner Akgül liiert. Das stinkt dir offensichtlich so gewaltig, dass du am Telefon von Rache, Bestrafung oder zumindest von Vorschlägen gesprochen hast, welche in diese Richtung gehen. Hier bin ich, was willst du mir vorschlagen?«
Doris Kunstmann hatte seinen Worten aufmerksam gelauscht, und versuchte sich ein Bild von ihrem Gegenüber zu machen. Einen ersten Eindruck. Sie hatte es bereits bereut, dass sie sich auf seinen Vorschlag zum Du eingelassen hatte. Sie versuchte zwar nicht hinzublicken, aber immer wieder wanderten ihre Augen wie magisch in sein Gesicht und blieben auf seiner riesigen Nase hängen. Was für ein Kolben! Nun roch sie auch noch diesen feinen Knoblauchgeruch, den sein Körper ausströmte und der penetrant in der Ecke des Raumes hängen blieb. Leichter Ekel kroch ihr das Rückgrat empor. Am liebsten wäre sie aus dem Lokal geflüchtet, aber nun musste sie da durch. Da half nichts, wenn sie sich nicht lächerlich machen wollte. Sie hatte sich die Suppe selbst eingebrockt. Was erhoffte sie sich eigentlich von diesem Menschen, dessen Blicke ständig zwischen ihren Augen und ihrem Busen hin und her wanderten? Sie musste gepudert gewesen sein, als sie in ihrer ersten Wut beschloss ihn anzurufen, noch dazu ihn zu treffen. Sollte sie offen mit ihm reden oder doch besser gleich verschwinden? Sie wollte ja ansonsten nichts von ihm.
»Ein großer Cappuccino und ein grüner Tee«. Die Bedienung trat an ihren Tisch und stellte die Getränke auf der Tischplatte ab.
»Können Sie mir noch ein Glas stilles Wasser zum Kaffee bringen? Entschuldigung, ich hab das vorhin vergessen.«
»Kein Problem, kommt sofort.«
»Ja«, nahm Doris Kunstmann das Gespräch wieder auf, und starrte dabei auf die Tischplatte, »das ist so …« Dann begann sie detailliert zu erzählen, wie sie von Walters Untreue erfahren, was sie sich dabei gedacht und wie verletzt sie sich gefühlt hatte und wie langsam der Wunsch nach Rache in ihre Gedanken geschlichen war und sich dort festgesetzt hatte. »Es gäbe natürlich auch die Möglichkeit, es noch einmal zu versuchen und um die eigene Liebe zu kämpfen«, erklärte sie.
»Was meinst du damit?«, wollte Müselüm wissen.
»Mann, war der Kerl doof«, dachte Doris Kunstmann und begann zögernd: »Ich meine, ich kämpfe um meine Liebe zu Walter und verzeihe ihm alles, falls er zu mir zurückkehrt. Du könntest ja die gleichen Gedanken bezüglich deiner Akgül haben, und wir beide könnten uns in unseren Bemühungen absprechen. Vielleicht könnten wir ja auch zu viert über unser Problem sprechen? Was meinst du? Wer weiß, vielleicht hast du dich mit dem Verlust deiner Freundin ja schon abgefunden? Mag sein, dass du dir eine Fortsetzung eurer Beziehungen gar nicht mehr vorstellen kannst? Das sind so die Gedanken, die mich im Moment bewegen. Ich bin einfach hin und her gerissen.«
Ihr Mobiltelefon piepste. Eine SMS. Von Walter Fuchs. »Einen Moment bitte«, forderte sie Müselüm auf. Dann las sie: Hallo Doris, ich hoffe, Du hast zwischenzeitlich selbst erkannt, warum ich Dich verlassen habe? Nein? Dann erkläre ich es Dir: Du bist eine ordinäre, selbstverliebte Frau ohne echte Gefühle für andere. Immer nur Du, Du, Du. Diese Welt, dieses Leben kann so schön sein, wenn man den richtigen Partner hat. Du bist es leider nicht. Das habe ich zwischenzeitlich erkannt. Diese Erdkugel dreht sich, und Du klebst an ihr wie ein Stück Scheiße, wie ein Popel in der Nase. Diese Welt braucht Dich eigentlich gar nicht. Ach, wie habe ich mich in der letzten Zeit vor Deinen Berührungen geekelt. Wie haben mich die Gespräche mit Dir gelangweilt. Immer standest Du im Mittelpunkt: Deine Leistungen in der Schule, Dein geplantes Studium, Dein Kleid für den Abi-Ball, Dein Projektvorhaben für Äthiopien, Dein, Dein, Dein … Als ich Akgül kennenlernte, lernte ich ein neues Leben kennen. Ich war wie von den Toten erwacht. Es gab mich noch. Sie hat mir wieder Atem eingehaucht. Ich war schon gestorben und merkte es gar nicht. Das kannst Du Dir gar nicht vorstellen, nicht wahr, denn Du bist ein Egozentriker sondergleichen. Ich meine damit, dass das Leben, das Du führst, inhaltlich leer ist. Abgedroschen, eintönig, eingefahren, tot eben. Und bevor ich es vergesse, lass Dir an dieser Stelle gesagt sein, dass ich es nicht mehr tolerieren werde, wenn Du Akgül in Deinen beschissenen SMS-Nachrichten weiterhin beleidigst. Dann, und das lass Dir gesagt sein, werde ich Dir den Arsch aufreißen (groß genug ist er ja), und das meine ich wörtlich. Wenn Du willst, dass das Leben weiterhin an Dir vorbeigeht, dann mach so weiter. Lebe in Deiner Traumwelt, die sich ausschließlich um Dich dreht, liebe Dich selbst und lass andere in Ruhe. Du würdest ihnen nur schaden, sie unglücklich machen. Ich muss bekloppt gewesen sein, bis mir Akgül die Augen geöffnet hat. Werde auf Deine Art glücklich, aber ohne mich. Walter