Kitabı oku: «»Wir kriegen euch alle!« Braune Spur durchs Frankenland», sayfa 7

Yazı tipi:

*

Doris Kunstmann und Müselüm Yilmaz saßen immer noch im Bogart‘s. Die Blondine hatte den Inhalt von Walters SMS noch nicht verdaut. Sie war völlig durcheinander, völlig von der Rolle. Heftige Weinkrämpfe wechselten sich mit ordinären Verwünschungen ab. Ihr Make-up war verschmiert, und sie hatte bereits den zweiten doppelten Whiskey intus. Müselüm Yilmaz lernte plötzlich eine ganz andere Doris Kunstmann kennen.

Zur gleichen Zeit flogen fast gleichzeitig zwei M61 über den Zaun der Zirndorfer Aufnahmestelle für Asylsuchende. Die erste schlug gegen den schweren Stoff des mittleren Zeltes, federte etwas zurück, fiel mit einem satten Geräusch auf den Rasen und blieb dort liegen. Die zweite Granate schrammte Sekundenbruchteile später gegen die Außenwand eines der Wohnhäuser, prallte mit einem lauten metallischen Klacken, welches vom heftigen Wind verschluckt wurde, von der Mauer ab, sprang auf dem schrägen Dach des nebenstehenden Zeltes auf, rollerte von dort auf die Erde und beendete ihren Weg direkt vor dem Zelteingang. Die dritte schließlich wurde nicht geworfen. Sie kullerte an das am nächsten stehende Zelt, gleich am Zaun. Zehn Sekunden, nachdem Bernd Auerbach die drei Handgranaten auf ihren tödlichen Weg gebracht hatte, war er bereits auf der anderen Seite der Plauener Straße angelangt und setzte seinen Spurt zum nahen Gelände des Honda-Händlers fort. Die Explosionen wüteten in seinen Ohren, aber für ihn klang es wie Musik. Die scharfen Metallsplitter der Waffen zerrissen die Zeltwände wie Papier und fuhren wie brennende Furien in das Innere der behelfsmäßigen Unterkünfte. Stofffetzen und die kläglichen Überreste der Zeltstangen flogen in einer dichten Explosionswolke auseinander. Die dicken Splittermäntel der drei Wurfgeschosse zerbarsten von der Wucht der Detonationen an ihren Sollbruchstellen, und die freigesetzten, scharfkantigen Metallteile drangen mit einer immensen Gewalt in die Leiber der Männer, Frauen und Kinder, welche sich innerhalb der Zelte aufhielten. Der Tod wütete unter den Asylbewerbern und hielt reiche Ernte. Schwerverletzte, denen Gliedmaßen abgerissen wurden, begriffen im ersten Moment nicht, was geschehen war. Sie standen unter Schock, sahen verständnislos an ihren blutigen Armstümpfen herab. Überlebende trugen ausnahmslos schwere Verwundungen davon. Orientierungslos rannten sie, sofern sie dazu noch in der Lage waren, aus ihren zerstörten Unterkünften heraus. Sie stolperten über die Reste ihrer wenigen Habseligkeiten, über zerfetzte Leiber und rutschten auf den am Boden liegenden Eingeweiden aus. Ein lautes Wehklagen setzte ein, nachdem sich der erste Rauch der Explosionen verzogen hatte. Verwundete brüllten ihren Schmerz in die Nacht. Bäche von Blut breiteten sich auf dem Asphalt aus. Selbst die Wand des nahestehenden Wohnblocks war bis hinauf zum ersten Stockwerk mit Blutspritzern besprenkelt. Die Nacht hatte ihre Unschuld verloren, und das Sterben ging immer noch weiter. Für die meisten Schwerverletzten kam jede Hilfe zu spät. Endlich, nach einer knappen Minute, löste sich die Erstarrung, welche durch den Knall und die Wirkung der Explosionen ausgelöst wurde. Plötzlich setzte hektische Betriebsamkeit ein. Die ersten Bewohner des nächsten Wohnblocks stürmten nach draußen, um zu ergründen, was vorgefallen war. Sie sahen sich irritiert um. Anhaltende Schmerzensschreie und Hilferufe drangen von allen Seiten an ihre Ohren. Die meisten kapierten noch gar nicht, was geschehen war. Viele liefen wieder in ihre Wohnungen zurück und trugen schwere Stablampen herbei. Die gespenstischen Bilder und Szenen, die sich draußen abspielten, ließen ihnen das Blut in den Adern gefrieren. Das blanke Grauen stieg ihnen die Kehlen hoch. Zuckende Lichtkegel fuhren unkontrolliert über riesige Blutlachen, abgerissene Körperteile, Verwundete und Tote. Sie mussten den Anblick erst verarbeiten. Viele erlitten einen Schock und standen zunächst wie gelähmt herum. Dann, allmählich, begriffen sie, dass etwas Furchtbares geschehen sein musste, und einige Wenige lösten sich aus ihrer Lethargie. Andere brauchten länger, starrten lediglich auf den Ort der Verwüstung und nahmen immer noch mit entsetzten Gesichtern und zitternden Körpern das Grauen in sich auf. Noch verweigerten ihre Gehirne zu verarbeiten, was ihre Augen sahen. In ihren Köpfen fielen tausend Sperren. Lediglich aus ihren Mündern strömten bestialisch klingende, unkontrollierbare Wehlaute in die Nacht. Diejenigen, welche ihren Schock schneller überwinden konnten, griffen hektisch zu ihren Mobiltelefonen und gerieten in einen Sog konfuser Gespräche. Jeder versuchte, den anderen an Lautstärke zu überbieten. Plötzlich setzte der Regen ein. Heftig und überraschend. Dicke Regentropfen schlugen in den Blutlachen der Toten und Verletzten Blasen. Der nun orkanartige Wind trieb immer weitere tief segelnde, dicke Regenwolken von West nach Ost über Zirndorf hinweg. Alle Höllendämonen der Nacht schienen in Aufruhr geraten zu sein. Der Himmel weinte und ergoss seine kalten Tränen über das Gelände der Verwüstung und des Todes. Die Menschen dort waren in wenigen Sekunden nass bis auf die Knochen. Doch das scherte sie nicht. Zu groß waren der Schmerz und das Unheil, die über sie gekommen waren. Noch immer suchten sie nach Bekannten und Freunden, welche in den Zelten untergekommen waren.

Ganz in der Nähe jagte das erste Martinshorn sein lautes Tatüütata durch die stürmische Dunkelheit und kämpfte gegen das Gebrüll und das Tosen des Orkans an. Ein blauer Lichtschein rotierte in wilden, regelmäßigen Zuckungen und wurde von den Hauswänden gespenstisch zurückgeworfen.

Polizeihauptmeister Max Kruse stoppte den Streifenwagen, als eine schreiende, wild gestikulierende Menschenmenge auf das Polizeifahrzeug zulief. Der Geräuschpegel drang gedämpft durch die verschlossenen Pkw-Türen und vermischte sich mit den jaulenden Tönen des eigenen Martinhorns. Die ersten Blitze zuckten bereits ganz in der Nähe, und der unmittelbar einsetzende Donner hörte sich an, als spielte Petrus im Himmel Bowling. Die Erde schien aus ihren Fugen geraten zu sein. Kruses Kollege Gerhard Dillich schnallte sich ab, zog den Reißverschluss seiner Lederjacke bis zum Halsansatz hoch, öffnete die Beifahrertür und stürzte murrend ins Freie. Sofort war er von der aufgeregten Menschenmenge umstellt, die ihm in einem Wirrwarr an Fremdsprachen – so zumindest empfand es der Polizeibeamte – versuchte, etwas mitzuteilen. Weinende, triefnasse Menschen schrien ihren Schmerz in die Dunkelheit. »Gucken, hinter Haus, viele Tote«, schrie ein in seiner Nähe stehender Dunkelhäutiger. »Viel Blut, Kinder auch tot.« Er deutete in Richtung der Umzäunung. Ein heulender, in blaue Zuckungen getauchter Sanka des Bayerischen Roten Kreuzes fuhr um die Ecke und kam hinter dem Polizeifahrzeug zum Stehen. Sofort stürzten sich die verzweifelten und schockierten Asylbewerber auch auf das zweite Fahrzeug.

»Platz machen! Auf die Seite«, bemühte sich Gerhard Dillich wild gestikulierend um ein Durchkommen. Die dicken Regentropfen sausten wie wild gewordene Hummeln auf seinen ungeschützten Hals und liefen ihm in kleinen Bächen den Körper hinab. Seine olivfarbene Hose war bereits bis zu den Knien hinauf patschnass. Ein Sanitäter leistete ihm Hilfestellung. Gemeinsam gelang es den beiden, die wilde Horde so von den beiden Einsatzfahrzeugen abzudrängen, dass ein schmaler Weg zur Weiterfahrt frei wurde. Vorsichtig steuerte Max Kruse den Streifenwagen durch die Menschenansammlung. Der Sanitätskrankenwagen folgte ihm. Die Reifen der Fahrzeuge krochen knirschend über Glasscherben – Reste von Fensterscheiben, die durch den Druck der Detonationen aus ihren Rahmen geplatzt waren und nun über einem Teil des Hofes verstreut im Regenwasser herumlagen. Der Regen hämmerte weiter in die riesigen Pfützen auf dem welligen Asphalt.

Auch drüben, jenseits des Maschendrahtzaunes der Asylantenaufnahmestelle – dort, wo noch vor Kurzem der Attentäter seine Handgranaten gezündet hatte –, herrschte trotz des heftigen Regens ebenfalls eine rege Betriebsamkeit. Die Anrainer und Bewohner des nächstgelegenen Wohnhauses, deren nach Westen gelegene Fenster nur noch aus dunkel gähnenden, offenen Löchern bestanden, hatten sich dicht gedrängt am Zaun versammelt und glotzten unter einem Meer von bunten Regenschirmen heftig diskutierend auf das Gelände des Asylantenheims hinüber. Oben auf einigen der Balkone standen andere Hausbewohner mit schweren Taschenlampen bewaffnet und bemühten sich verzweifelt, mit ihren Lichtquellen den nächtlichen Regen zu durchdringen. Immer mehr Nachbarn aus der näheren Umgebung trafen ein, gesellten sich zu den Schaulustigen am Zaun und wollten aufgeregt wissen, was da drüben bei den Asozialen passiert war. Ein weiteres Einsatzfahrzeug fuhr auf den Hof. Wenig später begannen Mitarbeiter des Technischen Hilfswerks drei starke Halogenscheinwerfer in Betrieb zu nehmen, welche kurz darauf die Szene gespenstisch ausleuchteten. Nun sah man den Regen, der in langen, schrägen Strichen auf die Erde prasselte, sich mit den Blutlachen vermischte und diese in den nächsten Gully spülte. Sanitäter in schweren Regenjacken trugen hastig Bahren und Leichensäcke über das Gelände und suchten verzweifelt nach Verwundeten und Überlebenden.

»Jetzt sehen wir wenigstens etwas. Das hat vielleicht einen Schlag gegeben«, erklärte Illona Seitz den Herumstehenden, »drei Mal kurz hintereinander. Ich war grad auf dem Abort gsessen, als die Fensterscheibe in meinem Bad in tausend Stücke zerscheppert ist. Da, schaut nur her, da am Hals hat mich eine Scherbe getroffen. Geblutet hab ich wie eine Sau.” Illona Seitz deutete auf die Stelle ihres Halses, wo nun ein kleines Wundpflaster klebte. »Da denkst du an nix Böses, sitzt am Abort und plötzlich fliegt dir das halbe Haus um die Ohren. Da machst du was mit, bis du alt und grau wirst. Was ist denn überhaupt passiert?«, wollte sie schließlich wissen.

»Ein Attentat auf das Asylantenheim! Bestimmt!«, mutmaßte ihr Nachbar, Beppo Brehm. »Bei mir sind auch die Fenster kaputt gegangen. Das schaut ja schlimm aus, da drüben! Da soll angeblich einer mit Handgranaten rumhantiert haben. Hab ich so übern Zaun vernommen. Ein Polizist hat so etwas Ähnliches gesagt.«

»Wer?«, wollte Illona Seitz wissen.

»Weiß ich doch nicht, ich kenn doch nicht alle Polizisten.«

»Nein, ich mein, wer hat mit Handgranaten rumhantiert?«

»Das weiß ich doch schon gleich gar nicht«, entsetzte sich Beppo Brehm, »bin doch kein Hellseher!«

»Das wundert mich nicht, dass die Handgranatn ham«, meinte eine Nachbarin von der gegenüberliegenden Straßenseite, »schaut euch doch des Gschwerdl da drüben an. Wo sie nur alle herkommen? Die meinen, bei uns da ist das Schlaraffenland, wo Milch und Honig fließen. Wo man nix ärwern muss! Wo einem der Staat das Geld hinten und vorn nur so reinstopft! Das Gschwerdl kennt doch seine Rechte viel besser als unsereins. Da siehst du mal wieder, was die alles ham: sogar Handgranaten! Wos ner die klaut ham? Da musst du ja Angst kriegn, dass die dich nicht auch noch in die Luft sprengen.«

»Genau«, stimmte eine Nachbarin mit einem gelben Regenschirm in die Diskussion ein. »Sogar die Kirchen, allen voran die katholische, sprechen von Demut und Hilfsbereitschaft gegenüber den Flüchtlingen. Die redn sich leicht daher. Soll doch der Vatikan seine Pforten aufmachen und die Asylanten aufnehma. Platz genug hams doch.«

»Und Geld und Reichtümer hams a«, ergänzte Beppo Brehm. »Was allans ich jährlich an Kirchensteuer zahl. Da derf ich goar net dran denkn, sonst überkommt mich gleich die kalte Wut.«

»Der Meinung bin ich auch«, warf die gelb Beschirmte erneut ein, »soll doch der Papst seine Schatztruhen mal öffnen und seine Reichtümer an die armen Flüchtlinge verteilen. Der hat doch keine Ahnung, dass die meisten von denen hochkriminell sind und sogar mit Handgranaten werfen. Wer zahlt etz eigentlich für eure kaputten Fenster und ein Schmerzensgeld für deine lebensgefährliche Verletzung am Hals, Illona? Das kannst fei beantragen. Hoffentlich kriegst keine Blutvergiftung. Na, dann aber! Dann gehst aber nüber zu dem Ausländerpack! Dann können die was erleben, gell. Denen tät ich schon den Marsch blasen! Mein lieber Gott, wenn ich die Merkel wär, die tät ich alle rausschmeißen aus Deutschland. Die tät ich wieder zurückschicken in ihre Negerhütten nach Afrika. Alle! Auf einen Schlag! Armes Deutschland. In was für einer Zeit leben wir denn?«

Illona Seitz und Beppo Brehm sahen sich an und verdrehten die Augen. Sie standen genau an der Stelle, an der der Attentäter sich ebenfalls aufgehalten hatte. Doch das wussten sie natürlich nicht. Der eh schon weiche Blätterboden war durch das Herumgetrampel der Schaulustigen und dem heftigen Regen zwischenzeitlich völlig aufgeweicht. Auch die Temperaturen waren innerhalb der letzten halben Stunde deutlich gefallen. Illona Seitz fror. Die Kälte kroch ihr die Beine empor und sie stapfte von einem auf den anderen Fuß. Zurück ins Haus wollte sie aber noch nicht. Noch tat sich etwas auf der gegenüberliegenden Seite, und sie wusste noch nicht einmal, was ganz genau dort drüben überhaupt passiert war. »Außerdem«, dachte sie sich, »könnte das Technische Hilfswerk doch gleich mein Badfenster abdichten, wenn die schon da sind.« Weder sie noch Beppo Brehm registrierten, dass sie beide schon die ganze Zeit auf einem Stück Papier herumtrampelten, welches dadurch immer tiefer in die weiche Erde gedrückt wurde.

Jenseits des Zauns, kaum zwanzig Meter entfernt, herrschte immer noch das absolute Chaos. Die vorläufige Zahl der geborgenen Toten lag aktuell bei dreiundzwanzig Asylsuchenden. Den Ermittlern war zwischenzeitlich bewusst geworden, dass die Handgranaten – und nur um solche Explosivkörper konnte es sich bei dem Anschlag handeln – von jenseits des Zaunes geworfen wurden. Sie rückten mit fünfundzwanzig Beamten an, vertrieben die Schaulustigen um Beppo Brehm und Illona Seitz und geleiteten sie unter Protest in ihre Häuser. »Ich wart aufs Technische Hilfswerk«, versuchte Illona Seitz zu argumentieren, »die solln gleich mei kaputtes Badfenster repariern. Auch wir sind Betroffene und ham ebenfalls ein Anrecht auf Hilfeleistung. Wozu zahln wir unsere Steuern? Die da drübn zahln keine Steuern, die kosten nur Geld. Was is eigentlich genau passiert?« Es half nichts. Drinnen im Haus nahmen die Beamten ihre Personalien auf und spannten draußen am Zaun ein weiteres rot-weißes Absperrband. Dann sicherten die Polizeibeamten zusätzlich das Areal und warteten ungeduldig auf ihre Kollegen von der Kriminaltechnischen Untersuchungsabteilung. Doch die waren mit ihrer Arbeit auf der anderen Seite noch längst nicht fertig. »Ist das Technische Hilfswerk auch noch da?«, wollte Illona Seitz von ihnen wissen.

19

Thomas Keller hatte den Anruf auf seinem Mobiltelefon, dessen SIM-Karte er sich in einer Tchibo-Filiale besorgt hatte, kurz nach einundzwanzig Uhr erhalten. »Unsere Oma ist heute nach langer, schwerer Krankheit friedlich entschlafen«, lautete die Meldung. »Dieser Bernd Auerbach ist ein Teufelskerl«, entfuhr es ihm. Aufgeregt schaltete er sein Fernsehgerät ein. Er konnte es kaum erwarten, die ersten Medienberichte zu verfolgen. Zur Feier des Tages holte er sich eine Flasche Mumm Dry aus dem Kühlschrank, dazu eine schlanke, elegante Sektflöte aus der Küche und zündete sich eine handgerollte Forty Creek Canadian Whisky aus der Dominikanischen Republik an. Die Spitze der Zigarre glühte auf und der würzige Rauch kringelte sich bis zur Decke hoch. Dann wartete er geduldig. Er wollte den Abend genießen, und er wurde in seiner Erwartung nicht enttäuscht. Schnell zappte er sich durch die verschiedenen Sender und blieb bei RTL hängen. Ladykracher war gerade zu Ende gegangen, und der Sender unterbrach sein weiteres planmäßiges Programm und kündigte einen Sonderbericht an. Die Nachrichtensprecherin mit dem dunklen Pagenschnitt und dem dezenten Make-up sah ernst in die Kamera. Dann begann sie ihren Bericht: »Meine Damen und Herren, aus gegebenem Anlass unterbrechen wir unser reguläres Programm und bringen nun eine aktuelle Sondersendung. Die in Ihren Programmen angekündigten Sendungen verschieben sich um circa fünfundzwanzig Minuten.« Anschlag auf Asylantenheim war im Hintergrund in dicken, roten Buchstaben zu lesen. »Wir bitten die Abweichungen zu entschuldigen.« Sie holte tief Luft und sah erneut betroffen in die Kamera. »Im mittelfränkischen Zirndorf wurde heute Abend, um einundzwanzig Uhr, ein schweres Attentat auf die dortige, in seinen Aufnahmekapazitäten völlig überlastete Aufnahmestelle für Asylbewerber ausgeübt. Nach Information der zuständigen Polizeibehörden wurde ein Bereich des Sammellagers von Unbekannten mit Handgranaten attackiert. Drei dieser Sprengsätze wurden aus nächster Nähe auf Wohnzelte geworfen, die als vorläufige Unterkünfte für Asylbewerber dienten. Die Explosionen haben ein Bild der Verwüstung und des Todes unter den untergebrachten Ausländern hinterlassen. Zurzeit zählen die ermittelnden Beamten vor Ort fünfundzwanzig Tote. Die Anzahl der Schwerverletzten, die zwischenzeitlich in den umliegenden Krankenhäusern untergebracht wurden, beziffern die Behörden mit achtzehn. Viele von ihnen ringen mit dem Tode. Wer für das brutale Attentat verantwortlich ist, ist noch völlig unklar. Ein Bekennerschreiben gibt es nicht. Damit ereignete sich in der Region innerhalb kürzester Zeit der zweite schwere Anschlag, der mit Sprengwaffen ausgeführt wurde. Erst in der vorletzten Woche zündeten unbekannte Täter zwei Autobomben vor dem Türkischen Generalkonsulat in Nürnberg, es gab zehn Todesopfer. Wir schalten nun live, zu meiner Kollegin Ellen Kraußenberger, die sich in unmittelbarer Nähe des Tatorts befindet.« Das Bild wechselte und Ellen Kraußenberger erschien auf dem Bildschirm. In der linken Hand hielt sie ein Mikrofon, in der rechten einen überdimensionalen, bunten Regenschirm, den der Wind hin und her schüttelte. Den Kragen ihres hellen Trenchcoats hatte sie hochgestellt. Noch immer trieb der Wind leichte Regenschauer über den Ort des Geschehens. Die Reporterin stand in der Plauener Straße. Im Hintergrund rotierten die Blaulichter von Einsatzfahrzeugen und warfen ihre Lichtgemälde in regelmäßigen Abständen gespenstisch auf die umstehenden Wohnhäuser und Büsche.

»Ja, guten Abend meine Damen und Herren«, begann sie mit belegter Stimme, »ich stehe hier, keine zwanzig Meter vom Tatort entfernt, wo die ermittelnden Beamten der Kriminaltechnischen Untersuchungsabteilung vor Kurzem ihre Tätigkeiten aufgenommen haben. Um einundzwanzig Uhr zerrissen drei unmittelbar aufeinanderfolgende Detonationen die dörfliche Ruhe. Ein oder mehrere Täter warfen zu diesem Zeitpunkt mindestens drei Handgranaten auf das hinter mir liegende Gelände der Aufnahmeeinrichtung für Asylsuchende, hier in Zirndorf, im Landkreis Fürth. Genau hinter mir, in den Büschen, muss sich der Täter beziehungsweise die Täter während der gemeinen Tat versteckt gehalten haben. Das Attentat ist eines der schwersten in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Fünfundzwanzig ausländische Asylbewerber, davon zwölf Syrer, acht Tunesier, drei Iraker und zwei Tschetschenen, sind tot. Andere ringen in den Krankenhäusern noch um ihr Leben. Einige der getöteten Asylbewerber sind erst vor wenigen Tagen in der Zentralen Aufnahmeeinrichtung Zirndorf angekommen. Was für eine menschliche Tragödie. Vor wenigen Wochen waren sie noch bei stürmischer See in ihren überfüllten Booten von Libyen nach Lampedusa unterwegs. Ihre lebensgefährliche Reise hatten sie glücklicherweise überstanden, aber nun mussten sie hier in Zirndorf einen gewaltsamen Tod erleiden. Unter den Opfern befinden sich Männer, Frauen und Kinder. Wer, beziehungsweise welche Organisation für diesen schändlichen Anschlag verantwortlich zeichnet, steht noch völlig in den Sternen. Die örtliche Polizeiorganisation hat dazu noch keine Stellungnahme abgegeben. Vor wenigen Minuten wurde für Mitternacht eine erste Pressekonferenz angekündigt. Vertreter des Verfassungsschutzes, des BKA und des Landeskriminalamtes haben die ersten Ermittlungsarbeiten eingeleitet, während die anwesenden Notärzte und Sanitäter sich immer noch um die Leichtverletzten kümmern. Ich frage mich, ob zwischen diesem Attentat und dem kürzlich stattgefundenem Bombenanschlag auf das Türkische Generalkonsulat in Nürnberg ein Zusammenhang besteht? In beiden Fällen gibt es keine Bekennerschreiben. In beiden Fällen gibt es ausländische Opfer. Was sind die Gründe dafür, dass gerade Mittelfranken eine neue Serie der Gewalt erlebt? Neben mir steht Polizeihauptmeister Max Kruse.« Die Kamera zoomte zurück und ein sichtlich physisch und psychisch angeschlagener Polizeibeamter erschien im Bild. »Herr Kruse, haben Sie eine Erklärung für die beiden grausamen Anschläge?«, setzte die Reporterin ihre Rede fort und ergänzte: »Polizeihauptmeister Max Kruse und einer seiner Kollegen waren die Ersten, die am Tatort eintrafen.« Dann hielt sie dem Beamten ihr Mikrofon unter die Nase.

»Nein, absolut nicht«, gab der Polizist von sich und kratzte sich nervös hinter dem rechten Ohr. »Es ist mir völlig unerklärlich, welcher Mensch dazu in der Lage ist, wehrlose Kinder, Männer und Frauen auf eine solch heimtückische Art und Weise regelrecht hinzuschlachten. Ich werde diese Bilder des Grauens und der Verwüstung mein Leben lang nicht mehr vergessen.«

»Weiß man denn schon, ob es sich um einen Einzeltäter oder möglicherweise um mehrere Täter handelt?«

»Nein, dafür stehen die Ermittlungen noch zu sehr am Anfang. Sie sehen ja, wie die Kollegen im Hintergrund noch mitten in ihrer Arbeit stecken. Zudem dürfte der heftige Regen einige brauchbare Spuren zwischenzitlich einfach weggespült haben.«

»Sie waren als Erster am Tatort. Wie haben Sie von dem schrecklichen Anschlag erfahren?«, wollte Ellen Kraußenberger wissen.

»Nun, unsere Polizeiinspektion liegt ja nur wenige hundert Meter von hier entfernt. Wir haben die Explosionen ja gehört. Und dann kamen gleich darauf die ersten aufgeregten Anrufe. Zwischen den Detonationen und unserer Ankunft an diesem Ort der Verwüstung vergingen keine fünf Minuten. Natürlich wussten wir nicht, was uns hier erwartete, umso mehr waren wir regelrecht schockiert, als wir das Ausmaß der Situation erkannten.«

»Das heißt, dass zum Zeitpunkt Ihres Eintreffens der oder die Täter noch nicht weit vom Tatort entfernt gewesen sein konnten?«, hakte die Reporterin energisch nach.

»Mit Sicherheit«, bestätigte Max Kruse, »insbesondere weil man annehmen kann, dass der oder die Attentäter ihren Wagen nicht gerade in unmittelbarer Nähe des Anschlags abgestellt haben und somit auch einige Zeit für den Weg zu ihrem Fluchtfahrzeug benötigten. Aus dieser Überlegung heraus haben wir auch ohne Verzögerung weiträumige Straßenkontrollen eingerichtet, die immer noch andauern. Egal ob Autofahrer, Fußgänger oder Fahrradfahrer, wir überprüfen jeden.«

»Dann gibt es ja noch immer die Chance, dass sich der oder die Verbrecher in dem Fahndungsnetz der Polizei verfangen?«

»Richtig, darauf hoffen wir.«

»Vielen Dank für Ihre Ausführungen, Herr Polizeihauptmeister Kruse. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg für eine rasche Aufklärung.«

Im Hintergrund riefen Stimmen: »Herr Kruse, jetzt bitte zum Übertragungswagen des ZDF!«

»Nein«, rief jemand, »wir von Pro7 waren früher dran.«

»… Äh, … das war Ellen Kraußenberger, live vom Geschehen am Rande der Aufnahmeeinrichtung für Asylsuchende im fränkischen Zirndorf. Ich gebe hiermit zurück ins Studio. Wir berichten weiter. Bleiben Sie dran.«

Thomas Keller verfolgte die Sondersendung bis zum Schluss. Jede Information sog er in sich auf, wie ein trockener Schwamm das Wasser. Er war stolz auf seinen Mann, Bernd Auerbach. Die Ermittler hatten keine Ahnung, wer hinter dem Anschlag steckte. Er wusste, Bernd Auerbach war wie vom Erdboden verschwunden und trotzdem immer noch ganz nah am Tatort.

Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Litres'teki yayın tarihi:
23 aralık 2023
Hacim:
470 s. 1 illüstrasyon
ISBN:
9783957448378
Telif hakkı:
Автор
İndirme biçimi:
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre