Kitabı oku: «The Walking Dead: Taifun», sayfa 2
Zhu verzog das Gesicht. »Das ist ein schreckliches Menü. Ich möchte mit Ihrem Vorgesetzten sprechen.«
»Selbstverständlich, Sir. Sie können Ihre Beschwerde hier hinterlassen.« Sie zeigte ihm den Mittelfinger und streckte dann den kleinen Finger aus, die chinesische Geste. Anschließend grinste sie. »Aber mal ernsthaft, sobald wir unsere Quote erfüllt haben, werde ich mir von den Punkten, die wir dann bekommen, echtes Obst kaufen.«
»Durian ist echtes Obst.«
»Darüber lässt sich streiten.« Sie zeigte zum Horizont. »Es kommt Nebel auf. Wenn der bis morgen nicht weg ist, sitzen wir in diesem Dorf fest. Jedenfalls sollten wir uns bei dem Wetter nicht draußen umsehen.«
»Der Nebel wird morgen früh weg sein.«
»Woher willst du das wissen?«
»Ich weiß es«, erwiderte Zhu mit Gewissheit. Er drehte den Kopf und warf einen Blick ins Wohnzimmer. »Was macht Bo da drin?«
»Er liest in seinen Büchern.«
Bo war als Einziger im Team vor dem Zusammenbruch so arm gewesen, dass er sich keine elektronischen Geräte hatte leisten können. Zhu hatte eine einfache Kamera und einen MP3-Player mit Musik dabei und Elena besaß praktisch alles: eine Kamera, ein Handy, einen MP3-Player und einen dieser schicken tragbaren DVD-Player. Bo besaß nur Bücher. Auf der einen Seite war das gut, weil er nie Punkte für das Aufladen seiner Geräte ausgeben musste. Auf der anderen Seite war er oft gezwungen, die wenigen Bücher, die er besaß, mehrfach zu lesen. Außerdem hatte Zhu ihm ausdrücklich verboten, mehr als ein Buch auf ihre Beutezüge mitzunehmen.
»Ich wünschte, ich könnte hànzì besser lesen«, sagte Elena wehmütig. »Wie nennt man so eine Geschichte noch mal?«
»Wūxiá, was so viel wie ›Kampfkunstheld‹ bedeutet. Da kommen die ganzen Kung-Fu-Geschichten her. Wenn du möchtest, kann ich dir beibringen, die Zeichen besser zu lesen. Schließlich hast du dir, bevor das alles losging, ja auch große Mühe mit meinem Englischunterricht gegeben«, bot Zhu an und tastete nach ihrer Hand.
»Der Lehrling ist nun selbst zum Meister geworden.« Sie lächelte und ließ sich von ihm zurück ins Wohnzimmer führen.
Das Abendessen entsprach ihrer Beschreibung: Klebreis mit Erdnüssen und Sojasoße, eingewickelt in Bananenblätter. Zhu und Elena gaben Bo von ihren Portionen etwas ab, da der kräftige Mann so viel wog wie sie beide zusammen. Sie gab ihm auch ihren Teil der Durian.
Der Rauch, den das Feuer im Holzofen verursachte, zog nur zum Teil ab, doch das Team ertrug es, weil das immer noch besser als die Kälte war. Die drei vertrieben sich die Zeit mit den spärlichen Unterhaltungsmöglichkeiten, die ihnen zur Verfügung standen. Sie hörten die Musik, die Zhu auf seinem MP3-Player gespeichert hatte, und sahen sich Filme auf Elenas kleinem Bildschirm an. Anschließend las Bo etwas aus seinem wūxiá-Buch vor und Zhu half Elena mit ihrem Mandarin.
Sie rückten näher an den Ofen heran, als die Nacht anbrach und es kälter wurde. In der Dunkelheit konnte man nicht mehr lesen, also unterhielt Elena die anderen mit Geschichten über ihr Leben in Amerika. Anscheinend war ihre Familie fast jedes Wochenende Boot gefahren oder hatte gegrillt, war an Sandstränden entlangspaziert oder hatte auf einem großen Fluss namens Colorado etwas getan, das Elena als »Tubing« bezeichnete. Sie erzählte ihnen, dass sie und ihr Bruder Robbie oft mit ihrem Vater Rehe mit Pfeil und Bogen gejagt hatten, was erklärte, weshalb sie so gut damit umgehen konnte.
Wenn Elena von ihrer Heimat sprach, hellte sich ihre Miene auf. Es war offensichtlich, wie sehr sie ihre Familie vermisste. Dass sie so weit weg gewesen war, als die Welt auseinanderbrach, musste sie innerlich zerrissen haben. Seit sie und Zhu im Frühstadium der Katastrophe aus Changsha geflohen waren, hatte sie nichts mehr aus Amerika gehört.
Bo hob die Hand, als sie wieder einmal versuchte, ihnen Tubing zu erklären. »Ich verstehe das nicht.« Er zählte die Punkte an den Fingern ab. »Deine Familie hat ihr eigenes Boot, mit dem sie zum Spaß herumfährt, ohne Ziel und ohne etwas zu befördern. Aber ihr lasst euch auch gerne auf Autoreifen im See treiben.«
Sie nickte. »Es geht nicht darum, irgendwo anzukommen. Wir wollten nur zusammen sein und diese Erfahrung genießen. Außerdem gab es auf dem Lake Travis oft Partys. Wir sind herumgefahren, haben ein paar Boote miteinander vertäut und hatten Spaß.«
Bo wirkte ein wenig verwirrt. Zhu konnte das gut nachvollziehen. Sie kamen beide vom Land, Zhu aus West-Hunan und Bo von irgendwo weit oben im Norden. Beide hatten einen Bauernhof verlassen, um sich in der Stadt Arbeit zu suchen, und hatten schließlich nebeneinander in einer Fabrik am Fließband gestanden. Kurz darauf hatte sich Zhu auf die Suche nach einem Englischlehrer gemacht und Elena kennengelernt.
Zum Einschlafen hörten sie gŭzhēng-Volksmusik, Klassiker von Andy Lau und chinesischen Death Metal – Letzteres gefiel Zhu erst seit Kurzem. Bo legte sich neben den Ofen, während sich Zhu und Elena einen Schlafsack teilten. Sie hatten auf einen zusätzlichen Schlafsack verzichtet, um mehr Platz für die Beute zu haben, die sie in die Siedlung zurückbringen wollten.
Zhu überprüfte den Ofen und legte noch ein paar Bretter von dem Regal, das Bo mit seinem Vorschlaghammer zerschmettert hatte, hinein. Dann kontrollierte er auch den Schornstein noch einmal, um sicherzustellen, dass ein Großteil des Rauchs aus der Wohnung geleitet wurde. Es wäre eine Schande, wenn sie an Rauchvergiftung sterben würden, nachdem sie die jiāngshī-Apokalypse überlebt hatten.
Als er neben Elena in den Schlafsack kroch, war sie bereits eingeschlafen. Zhu legte schützend die Arme um sie und sie drückte sich instinktiv mit dem Rücken gegen seine Brust. Er blinzelte, als ihn Erschöpfung überkam. Er warf einen Blick zur Seite und sah, dass Bo mithilfe einer Stirnlampe immer noch in seinem Buch las.
»Wir müssen morgen früh raus«, sagte er.
Das Licht ging aus. »Okay, xiăodì. Schlaf gut.« Der kräftige Mann musste ebenfalls erschöpft sein, denn er schlief nach nur wenigen Sekunden ein. Schon bald erfüllte sein lautes, angestrengtes Schnarchen, das ein wenig an das Zischen eines jiāngshī erinnerte, den Raum.
Zu Zhus Leidwesen fiel Elena, die das Gesicht an seiner Schulter vergraben hatte, schon bald in den Chor ein. Ihr leises Atmen wechselte sich mit Bos lautem Zischen ab. Gemeinsam verfielen sie in einen Rhythmus, dem sich schon bald das Zikadenzirpen, das von draußen in die Wohnung drang, anschloss.
Zhu starrte die Decke seines Elternhauses noch an, als diese seltsame Symphonie lange verklungen war. Er fragte sich, ob jiāngshī schliefen, ob sie sich zumindest in Bruchstücken an ihr vergangenes Leben erinnerten und ob ihre Seele noch in ihrem Körper weilte. Doch hauptsächlich dachte er an seine Urgroßmutter und wie sie die ganze Zeit auf der Toilette gesessen und auf nichts gewartet hatte.
Er hoffte inständig, dass die Urgroßmutter, die er geliebt und verehrt hatte, vor all den Monaten zusammen mit ihrem Körper gestorben war und dass ihre Seele mit denen ihrer Verwandten vereint worden war. Dann würde sie sich keine Fragen mehr stellen oder sich Sorgen machen müssen und vor allem würde sie nicht allein sein. Bevor der Schlaf ihn übermannte, fühlte er sich schuldig, weil ihm die Flucht in die süße Bewusstlosigkeit vergönnt war.
2
DER TAIFUN DER TOTEN
Die jiāngshī schlurften in einer langen Reihe beinahe höflich den schmalen Pfad entlang. Ihr Anführer, ein dürrer Teenager, dem eine Gesichtshälfte fehlte, blieb stehen, als es in einem nahe gelegenen Teich blubberte. Der jugendliche jiāngshī knurrte, legte den Kopf schief und starrte in den Teich. Der Körper hinter ihm prallte gegen ihn und dann auch der hinter ihm, was eine Kettenreaktion auslöste, die sich durch die ganze Reihe ausbreitete, bis der Vorwärtsschwung den ersten jiāngshī zwang, weiterzugehen. Die gespenstische, beinahe lautlose Prozession setzte sich wieder in Bewegung.
Ying Hengyen, Anführer der Lichtblick-Windteams, hockte auf einem Ast oberhalb des Pfads. Ihm entging die bittere Ironie dieser Szene nicht. Das, was sich gerade unter ihm abspielte, hätte als Metapher für die gesamte jiāngshī-Epidemie fungieren können. Ein paar lebende Tote spielten keine Rolle, aber wenn man alle zusammennahm, wurden sie zu einer unaufhaltsamen, unkontrollierbaren Naturgewalt, die alles verschlang, was sich ihr in den Weg stellte. Der von zielloser Masseträgheit angetriebene Tod.
Der Windmeister hatte eigentlich in seinem Versteck bleiben und die Reihe der jiāngshī passieren lassen wollen, doch nun erkannte er, dass er das Unvermeidliche nicht aufschieben sollte. Das Team würde sie entweder jetzt oder auf dem Rückweg töten müssen. Und das Gelände, auf dem sie sich momentan befanden, bot ihnen taktische Vorteile.
Er nahm die Fingerspitzen in den Mund und stieß ein leises Pfeifen aus. Er hatte beinahe den ganzen Tag bis zum Hals in kaltem Moorwasser gestanden und nun war fast sein ganzer Körper taub. Das Pfeifen reichte jedoch. Als es seine Lippen verließ, tauchten drei Gestalten, die jeweils einen langen Speer in den Händen hielten, aus dem Wasser auf. Mit den scharfen Spitzen durchbohrten sie sieben jiāngshī, bevor die anderen sie bemerkten.
Als die Toten ihnen den Rücken zuwandten, ließen sich Hengyen und Linnang von den Bäumen auf zwei jiāngshī fallen und griffen den Rest dann von hinten an. Hengyen, der mit zwei langen Dolchen bewaffnet war, erledigte routiniert vier. Linnang, das neueste Mitglied des Windteams, setzte beim Kampf eine große Axt ein. Sie schlugen und stachen um sich, mussten sich aber einen dicht bewaldeten Hügel hinauf zurückziehen, als die zuvor so ordentliche Reihe sich in eine blutgierige Meute verwandelte. Die beiden Männer flüchteten sich hinter einige Brombeersträucher und erledigten die jiāngshī, die in den Dornen hängen blieben.
Der Rest von Hengyens Windteam stürmte vor und durchbohrte die anderen mit ihren Speeren. Als die jiāngshī sich ihnen zuwandten, flüchteten sie ins Wasser, wo die schwerfälligen Toten kaum vorankamen.
Schon bald waren der Pfad und der Teich voller Leichenteile und Blut. Hengyen und Linnang verließen das Gestrüpp, sahen sich die am Boden liegenden jiāngshī an und töteten alle, die sich noch regten. Innerhalb weniger Minuten hatte das fünfköpfige Windteam mehr als fünfmal so viele jiāngshī getötet. Alle, abgesehen von ihrem »Anführer«, der weiter den Pfad entlangschlurfte und nicht ahnte, dass sein Gefolge abgeschlachtet worden war.
Linnang zog ein Wurfmesser und zielte. Hengyen zog gleichzeitig sein Messer. Linnangs Klinge löste sich zuerst von seinen Fingerspitzen und verfehlte den Kopf des jungen jiāngshī um eine Handbreite. Der jiāngshī drehte sich zu ihnen um, doch im selben Moment bohrte sich Hengyens Klinge in sein Auge.
Hengyen klopfte seinem neuesten Teammitglied auf die Schulter. »Nimm dir Zeit. Das rettet Leben.«
»Ja, dàgē.« Der junge Mann errötete vor Scham.
Hengyen wandte sich den anderen drei Mitgliedern seines Teams zu, die gerade aus dem Wasser stiegen, und reichte ihnen nacheinander die Hand, um ihnen herauszuhelfen. Das Team kam rasch zusammen und ging weiter über den Pfad, der an einer Schlucht entlangführte. Vor ihnen gab es in einiger Entfernung eine Brücke, die beide Seiten der Schlucht miteinander verband. Ein unendlicher Strom jiāngshī zog darüber. Selbst über diese Distanz erfüllten ihr Stöhnen und die Geräusche, die ihre Schritte verursachten, die Luft. Ab und zu fiel ein jiāngshī von der Brücke und landete mit einem Krachen auf den Felsen darunter. Es klang wie Hagel, der ein Blechdach traf. Die Geräusche hallten durch die Schlucht und ihr Echo klang noch lange nach.
Sie gingen rasch, aber vorsichtig weiter und traten schließlich in den Schatten der Brücke. Der Boden war voller Leichen: jiāngshī, die von der Straße, die über ihnen verlief, gestolpert waren. Die meisten waren beim Sturz zerquetscht worden und kaum noch zu erkennen, aber einige regten sich noch und streckten ihre verdrehten und gebrochenen Gliedmaßen nach dem Windteam aus. Hengyens Leute erledigten alle, die sie im Vorbeigehen sahen, mit militärischer Präzision.
Noch vor sechs Monaten hätte sich Hengyen bei diesem furchtbaren Anblick der Magen umgedreht. Doch nun war das sein Alltag, wenn er die Gegend östlich des Lichtblicks erkundete. Einer der ersten Ratschläge, die Hengyen neuen Rekruten der Windteams gab, war, sich bei der Beutesuche immer in Richtung der untergehenden Sonne zu halten. Wer nach Osten ging, forderte den Tod heraus. Dort lagen die großen Städte, in denen die Seuche ausgebrochen war und in denen es mehr jiāngshī gab als Sterne am Himmel.
Nur sein Team durfte in diese Richtung gehen, denn ihre Aufgabe war wichtiger als die Erfüllung einer Quote. Hengyen war einer der wenigen verbliebenen Berufssoldaten und er kümmerte sich ausschließlich darum, die Sicherheit des Lichtblicks zu gewährleisten. In den letzten Wochen hatte die Zahl der jiāngshī, die aus dem Osten heranströmten, stark zugenommen. Nur er und sein Expertenteam verfügten über die Erfahrung und das Können, die nötig waren, um sich auf das Territorium der jiāngshī zu begeben und nach der Ursache dafür zu suchen.
Seit dem Ausbruch der Epidemie kämpfte Hengyen an der Front gegen die Toten. Er war Hauptmann bei der bewaffneten Volkspolizei gewesen, genauer gesagt, hatte er eine der Eliteeinheiten des Falkenkommandos in der Volksbefreiungsarmee angeführt. Er und seine Leute hatten zu den ersten Soldaten gehört, die die Stadt Hangzhou betreten hatten, als dort Chaos und Panik ausgebrochen waren. Man hatte sie kaum mit Informationen ausgestattet, es gab nur einige Berichte über Menschen, die von einem schrecklichen Virus infiziert worden seien, durch den sie den Verstand verloren hätten und nun andere Menschen angriffen.
Anfangs hatte die Regierung von einer Krankheit gesprochen, deshalb hatten Hengyen und seine Leute versucht, die »Kranken« zu neutralisieren, ohne sie zu verletzen. Das war ihr erster Fehler gewesen. Erst als Hengyen mit eigenen Augen gesehen hatte, wie ein sechsjähriger Junge seiner Mutter die Kehle herausriss und seine Zähne anschließend einem seiner Soldaten in den Arm schlug, hatte er begriffen, gegen was er kämpfte. Sein Soldat war gestorben, hatte sich ein paar Stunden später wieder erhoben und die Hälfte der Leute auf seiner Krankenstation umgebracht.
Als klar geworden war, dass man die Seuche nicht eindämmen konnte, hatten die chinesischen Behörden versucht, die Stadt zu evakuieren, anstatt Luftangriffe anzuordnen, mit denen man die Toten vernichtet hätte. Das war ihr zweiter Fehler gewesen. Eine Eindämmung war unmöglich. Die Städte waren zu dicht besiedelt. Die Infektion hatte sich zu leicht ausgebreitet. Nach wenigen Tagen hatten die Toten und verzweifelte Überlebende die meisten Quarantäneposten in den Bevölkerungszentren überrannt. Nach wenigen Wochen hatte die Regierung den Kontakt zu sämtlichen Großstädten in Ostchina verloren. Danach hatte sich dieses Kommunikationsloch weiter nach Westen ausgebreitet und eine Stadt und eine Provinz nach der anderen verschlungen, bis das Militär schließlich nicht mehr gewusst hatte, was es eigentlich noch beschützen sollte. Mittlerweile wusste Hengyen nicht einmal mehr, wie viel vom Militär übrig geblieben war.
Das Windteam eilte unter der Brücke hindurch und dann weiter, wobei alle darauf achteten, den herabfallenden Leichen auszuweichen. Sie blieben dicht an der Felswand, bis sie einen leicht ansteigenden Pfad fanden, der sich an der Ostseite der Schlucht nach oben wand. Unmittelbar über ihnen befand sich eine Felsformation, die so hoch wie ein mehrstöckiges Haus war und von der aus man die Umgebung bis hin zur Großstadt Changde überblicken konnte. Hengyen war bei seinen zahlreichen Erkundungen auf den Pfad und den Aussichtspunkt gestoßen. Anfangs hatte er die jiāngshī, die aus der Stadt hierher unterwegs waren, allein überwacht, doch in den letzten Wochen waren es so viele geworden, dass das zu gefährlich geworden war.
Hengyen befahl allen außer seinem Leutnant, Wangfa, am Boden der Schlucht zu bleiben. Der Pfad war so schmal, dass man ihn nur seitwärts und mit dem Rücken zur Wand entlanggehen konnte. Und selbst dann ragten die Zehen noch über den Abgrund hinaus. Er hatte bereits einen Mann durch einen Sturz verloren. Der Tod war auch so schon allgegenwärtig. Er wollte nicht noch mehr Leben verschwenden.
Die beiden Männer gingen den Pfad hinauf. Wangfa stieg zum ersten Mal auf den Aussichtspunkt. Hengyen war es wichtig, dass sein Stellvertreter sich daran gewöhnte, für den Fall, dass ihm etwas zustieß. Wangfa war der einzige andere Überlebende aus dem Falkenkommando. Sie waren oft unterschiedlicher Meinung, aber er war ein guter Soldat und ein kompetenter Offizier. Hengyen vertraute ihm. Ob er ihn mochte, war irrelevant.
In seinem früheren Leben wäre Wangfa für eine Führungsposition nicht infrage gekommen. Man hatte sogar wegen übermäßiger Gewaltanwendung und Brutalität eine Untersuchung gegen ihn eingeleitet, doch seit der Epidemie krähte kein Hahn mehr danach. China hatte seine besten und klügsten Leute verloren. Die Überlebenden hatten die leeren Ränge irgendwie auffüllen müssen, deshalb hatte Wangfa eine zweite Chance bekommen und seinen Dienst wieder aufnehmen dürfen.
Sie hatten die Schlucht fast verlassen und die Ebene erreicht, als der schmale Pfad endete. Den Rest des Weges mussten sie mit Seilen und Haken bewältigen, die Hengyen bei einem früheren Ausflug dort angebracht hatte. Er hörte das Murmeln der jiāngshī, die auf der anderen Seite der Felsformation vorbeizogen. Vor zwei Monaten hatte es auf dieser Seite der Schlucht so gut wie keine jiāngshī gegeben. Doch das hatte sich geändert. Hengyen kam als Erster oben an und zog Wangfa hoch. Auf dem Bauch krochen sie zum Rand der Felsformation und blickten ins Tal hinab. Wangfa keuchte, doch Hengyen brachte keinen Laut hervor, sondern atmete nur stumm durch zusammengebissene Zähne aus.
Die jiāngshī drängten sich nicht nur auf der Ebene unter ihnen. Sie bedeckten das ganze Land bis zum Horizont. Es waren mehr, als Hengyen sich in seinen kühnsten Träumen hätte vorstellen können. Und was noch schlimmer war, sie schlurften auf die Straße und die Brücke, die über die Schlucht führte, zu.
»Das müssen Hunderttausende sein. Oder eine Million«, flüsterte er und ein Schaudern überkam ihn. Zum ersten Mal seit den Anfängen dieses Krieges gegen die jiāngshī krampfte Hoffnungslosigkeit seinen Magen und sein Herz zusammen.
Gegen eine solch gewaltige Versammlung der Toten würde jede Streitmacht verlieren. Das Ende des Lichtblicks war gekommen.
In den Monaten seit Kriegsausbruch hatte Hengyen so gut wie alles erlebt und getan. Er hatte oft vor schier unüberwindlichen Hürden und unvorstellbaren Entscheidungen gestanden. In den ersten Tagen der Epidemie hatte er es gewagt, einen Soldatentrupp aus Changsha zu retten. Dann hatte er einen Luftangriff befohlen, obwohl er wusste, dass sich noch Zivilisten in der Stadt aufhielten. Er hatte alle verletzten Soldaten in einem Militärkrankenhaus zum Tode verurteilt, weil die jiāngshī die Barrikaden durchbrochen und sie keine Zeit für eine Evakuierung gehabt hatten. Hengyen hatte nie gezweifelt oder gezögert. Nur die Revolution der Lebenden zählte. Er wusste, wofür er kämpfte.
»Diese Straße führt zum Lichtblick«, sagte Wangfa leise. »Das sind so viele jiāngshī, sie werden alles, was ihnen im Weg steht, zerstören.«
»Wir müssen sie irgendwie ablenken.«
»Wie denn, Windmeister?«
»Ich weiß es nicht, aber wir werden einen Weg finden. Der Lichtblick und die Revolution der Lebenden hängen davon ab.«
Ein lauter, aus der Schlucht kommender Ruf erregte die Aufmerksamkeit der beiden Männer. Sie krochen zur anderen Seite der Felsformation und sahen, dass Linnang ihnen hektisch zuwinkte. Ein Blick in die Schlucht verriet ihnen, was los war. Über dreißig jiāngshī stolperten dort unten auf Hengyens Team zu. Wenn sie nicht sofort nach unten kletterten, würden sie hier oben in der Falle sitzen.
Er nahm das Seil in beide Hände und schwang die Beine über die Felskante. »Wir müssen weg.«
Hengyen seilte sich innerhalb von Sekunden zum Pfad ab, aber der Rest des Weges ließ sich nicht beschleunigen. Ruhig sah er zu, wie die Welle der Toten unter ihm durch die Schlucht rollte.
Die ersten jiāngshī wurden problemlos erledigt, aber die ersten machten einem selten Probleme. Hengyen und Wangfa hatten erst die Hälfte des Weges hinter sich gebracht, als das Gros der Toten den Pfad erreichte. Stöhnend und um sich schnappend wie ein sich windender, aus unzähligen Gliedmaßen bestehender Dämon stolperten sie den Pfad hinauf. Stolz überkam Hengyen, als er sah, wie sein Windteam mit seinen primitiven Waffen gegen sie kämpfte. Seine Leute ließen ihn nicht im Stich.
Er wollte unbedingt zu seinem Team zurückkehren, hatte es jedoch zu eilig und rutschte aus. Er fiel zur Seite und kopfüber dem Boden entgegen. Er konnte sich mit drei Fingern an der Felskante festhalten, doch dann verlor er den Halt und stürzte zwei Stockwerke tief hinab. Der Boden raste auf ihn zu und er spürte, wie etwas an einer Seite seines Körpers heftig knirschte. In seinen Ohren rauschte es dumpf und sein Bewusstsein setzte einen Moment wegen der Schmerzen aus. Die Welt stotterte, schien beinahe anzuhalten und beschleunigte dann, um die Realität einzuholen. Wangfa trat neben ihn und zog ihn hoch. Dann platzte das Rauschen wie ein Ballon und er wurde von einer wahren Kakophonie getroffen. Er gewann die Kontrolle über seine Sinne zurück und sah, dass um ihn herum ein Kampf tobte, durch den Wangfa ihn in Sicherheit zerren wollte. Hengyen schüttelte seinen Stellvertreter ab und übernahm das Kommando. »Die jiāngshī sind ungeschickt. Nutzt das Gelände. Lasst sie zu euch kommen.«
Er bellte noch einige Befehle, um sein Team zu einer Einheit verschmelzen zu lassen. Weizhen und Haihong mussten sich zurückziehen und der Rest des Teams rückte zusammen. Das unebene Gelände und die herumliegenden Felsbrocken und Abfälle behinderten die jiāngshī. Und es waren so viele, dass sie sich gegenseitig in die Quere kamen, als sie sich gierig auf die Menschen stürzen wollten und stattdessen zusammenprallten. Solange alle gelassen blieben und sich an ihre Befehle hielten, sollte es ihnen gelingen, die Gruppe nach und nach zu dezimieren. Die Hälfte der jiāngshī hatten sie bereits getötet.
Aus dem Augenwinkel sah Hengyen, wie Linnang zurückfiel und seine Stellung verließ. Das neueste Teammitglied brüllte etwas Unzusammenhängendes, während sich die jiāngshī um ihn versammelten.
»Ihr Leichen seid nichts! Nur Haut und Knochen.« Er schlug seine Axt in einen Schädel. »Das ist für meinen bà.« Er schlug nach einem anderen jiāngshī und riss seinen Kiefer auf. »Das ist für meinen dì. Das ist für meine Freundin und meinen Scooter. Und meine Universität. Zwei Tage vor dem dämlichen Ausbruch bin ich in Fudan angenommen worden. Ich habe sechs Monate für die Aufnahmeprüfung gelernt!« Er setzte seine lange Beschwerdeliste fort.
»Linnang«, bellte Hengyen. »Reiß dich zusammen und zieh dich zurück.«
Linnang war so sehr in seinem Blutrausch gefangen, dass er die ihn langsam umzingelnden jiāngshī gar nicht bemerkte. Er fuhr einfach mit seinen Beschwerden fort, während er weiter um sich schlug. Blut und Gedärme durchnässten sein Hemd und bedeckten seine Arme. Er schwang seine Axt, holte weit aus und grub sie einem jiāngshī so tief in den Bauch, dass der beinahe in zwei Hälften gespalten worden wäre. Als Linnang die Axt zurückziehen wollte, blieb die Klinge im Knochen stecken. Der Stiel rutschte ihm aus der Hand und er stolperte zurück. Er wollte erneut danach greifen.
»Lass sie stecken!«, rief Hengyen, während er seine zwei Dolche in der Brust eines besonders fetten und widerstandsfähigen jiāngshī versenkte.
Linnang erkannte endlich die Gefahr, in der er schwebte. Die jiāngshī wandten sich nun vom Rest des Teams ab und näherten sich dem Nachzügler. Er hätte immer noch fliehen und die zwei, drei jiāngshī, die ihm den Weg versperrten, zur Seite stoßen können. Stattdessen geriet er in Panik und zog seine Pistole.
»Nein!«, schrie Hengyen. Er rannte auf den Jugendlichen zu, aber es war zu spät. Linnang feuerte die Pistole ein halbes Dutzend Mal ab und tötete mit jedem Schuss einen der jiāngshī, die ihn umzingelten. Die beiden Männer erstarrten, als der Lärm der Schüsse durch die Schlucht hallte. Hengyen suchte mit Blicken die Felskante über ihnen ab, während das Echo verklang. Nichts. Kein jiāngshī, noch nicht einmal eine Staubwolke. Anscheinend hatten sie Glück gehabt.
Hengyen stürmte zu Linnang und riss ihm die Pistole aus der Hand. »Was habe ich über das Abfeuern deiner Waffe gesagt, vor allem, wenn eine ganze Armee von denen in der Nähe ist?«
Linnangs Hände zitterten. Er kicherte nervös. »Es tut mir leid, Windmeister. Ich habe gesehen, dass ihr alle weiter vorn wart. Da bin ich in Panik geraten.«
Hengyen atmete erleichtert durch und tippte ihm mit dem Finger auf die Stirn. »Benutz nächstes Mal deinen Kopf. Zum Glück ist dieses Mal alles gut gegangen, aber …« Er ließ den Satz unvollendet. Ein dumpfes Dröhnen hallte durch die Schlucht, in das sich Stöhnen und Zischen mischte. Die Geräusche wurden immer lauter.
Aus dem Augenwinkel sah Hengyen, wie etwas von Himmel fiel. Er fuhr herum und sah gerade noch, wie nur wenige Meter von ihm entfernt ein Körper auf die Felsen aufschlug.
Haihong erbleichte und zeigte auf den Rand der Schlucht. Auf beiden Seiten tauchten massenhaft jiāngshī auf, die vom Lärm der Schüsse angelockt worden waren. Nun traten sie über die Kante und krachten auf die Felsen in der Schlucht. Weitere jiāngshī folgten ihnen, doch viele aus dieser zweiten Welle standen wieder auf, weil die, die vor ihnen heruntergefallen waren, ihren Aufprall dämpften.
Hengyen widerstand dem Impuls, diese Situation als Lehrstück zu nutzen, und befahl einen raschen, aber geordneten Rückzug. Er kämpfte sich in die Richtung durch, aus der sie gekommen waren. Die jiāngshī fielen um sie herum weiter vom Himmel. Viele, die zwischen den Felsen aufschlugen, erhoben sich nicht mehr. Doch ebenso viele standen wieder auf. Die Leichen stapelten sich inzwischen bereits am Fuß der steilen Felswände.
Ein jiāngshī, dessen Aufprall von einem Dutzend anderer, die vor ihm aufgeschlagen waren, gedämpft wurde, rollte von dem Leichenberg herab und landete irgendwie auf den Füßen. Mit ausgestreckten Armen und unnatürlich verdrehtem Hals schlurfe er auf Hengyen zu, der so mit seinen Befehlen beschäftigt war, dass er den jiāngshī erst bemerkte, als der gegen ihn prallte und nach seinem Arm griff.
Der Windmeister schob seine freie Hand unter dessen Ellbogen, blockierte den Arm, warf den jiāngshī zu Boden und trieb ihm mit einer geschmeidigen Bewegung seinen Dolch in den Schädel. Ein anderer kam aus seinem toten Winkel auf ihn zu. Hengyen trat ihm die Beine unter dem Körper weg, kam auf die Füße und gab dem Rest des Teams ein Zeichen, sich zurückzuziehen.
Ein jiāngshī bekam Linnang zu fassen und biss ihm mit seinen verrotteten Zähnen ein Stück Fleisch aus dem Arm. Linnang schrie und schlug auf den Kopf der verwesenden Kreatur ein. Einem zweiten jiāngshī gelang es, mit seinen schwarz verfärbten Händen das Bein des Mannes zu packen. Ein dritter krallte sich in seine Haare.
Dann begann der Fressrausch.
Linnangs Schreie gellten durch die Schlucht, als er unter den Körpern begraben wurde. Hengyen zog die Pistole und suchte in der Hoffnung, ihn durch einen Schuss von seinem Leid erlösen zu können, nach ihm. Doch er sah nur zuckende Gliedmaßen und spritzendes Blut. Er winkte den anderen zu. »Rückzug.«
Der Rest des Windteams gab den Kampf auf und floh. Hengyen führte die anderen an und schlug dabei immer wieder Haken, um den jiāngshī zu entgehen, die noch immer herabfielen. Ein Körper wäre beinahe auf Weizhen gelandet. Haihong stolperte und stürzte schmerzhaft, als ein anderer direkt vor ihr aufschlug.
Das Windteam rannte fast einen Kilometer weit durch die Schlucht. Erst dann befahl ihm Hengyen, anzuhalten. Er warf einen Blick in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Schon bald würden sich die jiāngshī in der Schlucht drängen. Es würde Wochen dauern und sie würden Leute einsetzen müssen, die anderswo gebraucht wurden, wenn er die Steinformation wieder als Aussichtspunkt nutzen wollte.
»Was machen wir jetzt, Windmeister?«, fragte Wangfa.
Hengyen schüttelte den Kopf. Um dieses Problem würde er sich später kümmern. »Wir kehren so schnell wie möglich nach Hause zurück. Lasst alles liegen, was ihr nicht unbedingt braucht. Wir müssen den Lichtblick warnen, dass sich ein Taifun nähert.«