Kitabı oku: «The Walking Dead: Taifun», sayfa 5

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DIE BEGRÜSSUNG

Zhus Augenlider flatterten. Er stöhnte zweimal. Das erste Mal, als er wieder zur Besinnung kam und sich auf einmal so fühlte, als hätte man ihm eine Eisenstange ins Gehirn getrieben. Das zweite Mal, als er den Mund öffnete, um diesem unangenehmen Gefühl Ausdruck zu verleihen, und die Bewegung seines Kiefers eine neue Schmerzwelle über ihn hereinbrechen ließ.

Zhu schloss fest die Augen und biss sich auf die Lippe, während er darauf wartete, dass die Schmerzen nachließen, dann analysierte er seine Lage. Sein Kopf pochte und sein Kiefer schmerzte, aber es fühlte sich nichts gebrochen an. Allerdings hatte sich möglicherweise ein Zahn gelockert. Seine ganze linke Seite war taub und nass. Seine Handgelenke waren aufgeschürft und hinter dem Rücken gefesselt. Abgesehen davon war er sehr durstig. Und hungrig. Wie lange war er bewusstlos gewesen?

Zhu öffnete ein Auge und blinzelte. Er lag mit dem Gesicht nach unten auf der Seite. Seine Wange lag in einer Pfütze. Er sah nichts außer Schlamm und dem Stamm eines alten Baums. Er drehte den Kopf in Richtung Himmel. Es war Nacht. Er schien auf einem von niedrigem, größtenteils zertrampeltem Unkraut bedeckten Feld zu liegen. Panik ergriff ihn. Nachts ungeschützt draußen zu sein, während die Toten umherzogen, war praktisch eine Todesstrafe.

Dann fiel ihm ein, was passiert war. Die beiden verhüllten Gestalten. Überlebende. Der Knüppel. Sie hatten ihn geschlagen … aber wieso hatten sie ihn nicht umgebracht? Das Blut gefror ihm in den Adern, als er die Antwort darauf fand.

Geier. So nannte man die Leute, die sich der Revolution der Lebenden nicht anschließen wollten, sondern es stattdessen vorzogen, unabhängig vom Lichtblick zu überleben. Es gab ständig Gerüchte über Kannibalismus bei den Geiern. Sie bewahrten ihn wohl für ihre Vorratskammer auf.

Die Angst krampfte Zhus Magen zusammen. Dass er möglicherweise jiāngshī zum Opfer fallen und selbst zu einem werden würde, hatte er längst akzeptiert. Doch die Vorstellung, von anderen Menschen gegessen zu werden, zu Nahrung zu werden, war um ein Vielfaches schlimmer. Die jiāngshī waren Wesen ohne Verstand, eine Naturkatastrophe wie ein Waldbrand oder ein Erdbeben. Aber Menschen, die wissentlich das Fleisch anderer Menschen aßen … das waren Ungeheuer.

Zhu musste fliehen. Er drehte sich auf den Rücken und setzte sich auf. Er war in einer Art Lager. Ein Feuer brannte knapp außerhalb seiner Sichtweite. Er sah das Leuchten und die dünne Rauchfahne, die in den Himmel stieg. Es war dumm von seinen Entführern, ihr Lager auf offenem Gelände aufzuschlagen. Das machte sie zu einer leichten Beute für die Toten.

Er widmete sich seinen Fesseln und stellte überrascht fest, dass sie nicht aus Seilen, sondern aus Stoff bestanden. Je stärker er daran zog, desto tiefer schnitten die Fesseln in seine Handgelenke. Schon bald erkannte er, dass seine Bemühungen vergebens waren. Er sah sich am Boden nach etwas Scharfem um, einem Stein, einem abgebrochenen Zweig, irgendetwas. Dann beschloss er, einfach zu fliehen. Er zog das Risiko, mit hinter dem Rücken gefesselten Händen den jiāngshī zu begegnen, einem Verbleib unter Kannibalen vor.

Zhu zog seine Knie unter sich und kam auf die Beine. Er lief los und schaffte ungefähr fünf Schritte, bevor er das Klirren einer Kette hörte. Etwas riss so kräftig an seinen Handgelenken, dass er sich beinahe die Schultern ausgekugelt hätte, als er brutal zu Boden geschleudert wurde. Er keuchte wie ein Fisch auf dem Trockenen.

Etwas raschelte hinter ihm. Schritte. Gehörten sie zu Kannibalen oder jiāngshī? Zhu wusste es nicht, aber es spielte auch keine Rolle. Beides sprach gegen sein Überleben. Er schloss die Augen und regte sich nicht.

Er hörte zwei recht jung klingende Stimmen. Sie sprachen darüber, dass sie hungrig waren. Die Stimmen senkten sich zu einem Flüstern, als sie sich ihm näherten.

»Glaubst du, dass er ein Ungeheuer ist?«, fragte eine von ihnen.

»Nee. Er ist zwar genauso dürr, aber er sieht nicht tot aus.«

Die Schritte kamen näher.

»Was machst du da?«, fragte die erste Stimme alarmiert. » hat gesagt, wir sollen nicht mit ihm reden, nur den Teller hinstellen und gehen.«

Eine Erinnerung schoss durch Zhus Kopf. Er war sieben oder acht Jahre alt. Er hatte seine Arme und Beine um das Bein seines yéye geschlungen. Der hielt eine weiße Henne an den Füßen fest und schleppte ihn mit in die Küche. Zhu schluchzte und bettelte, seine Schreie hallten durch das Bauernhaus.

»Ich hatte dir doch gesagt, dass du ihnen keine Namen geben sollst«, knurrte sein Vater, während er Zhu wegzerrte.

»Nimm ein anderes«, schluchzte der kleine Zhu. »Báibái ist mein Lieblingshuhn.«

»Das sind alles deine Lieblingshühner. Stell dich hin und sieh zu.«

Der kleine Zhu war von tiefem Entsetzen ergriffen, als er sah, wie sein yéye das Huhn am Hals packte, es auf ein Küchenbrett legte und das Metzgerbeil hob. Da Schlimmste kam anschließend, nachdem Báibáis Kopf vom Körper getrennt worden war und das Blut dafür sorgte, dass die Hand seines yéye glitschig wurde. Das Huhn glitt aus seinem Griff, lief kopflos durch die Küche und spritzte alles mit Blut voll. Der Anblick hatte sich tief in Zhus Erinnerung eingebrannt.

Auf dem Waldboden pikste etwas Spitzes in seinen Rücken. Zhu regte sich nicht.

»Was machst du?«, fragte die Stimme.

»Ich glaube, er ist tot«, erwiderte die andere. Sie gehörte einem Jungen. Er pikste Zhu erneut.

Dieses Mal warf sich Zhu herum und trat dem Jungen die Beine unter dem Körper weg. Er war ein dürrer Teenager, vielleicht fünfzehn Jahre alt. Bei dem anderen Jungen handelte es sich offensichtlich um seinen rund zwölfjährigen Bruder. Der Ältere ging mit einem überraschten Schrei neben Zhu zu Boden und Zhu setzte sich auf ihn und presste ihm ein Knie auf die Brust und das andere auf die Kehle.

Er wandte sich dem Jüngeren zu. »Schneid mich los. Lass mich frei, sonst breche ich ihm das Genick.« Der kleinere Junge wich zurück und schien davonlaufen zu wollen. »Wenn du gehst, wird dein Bruder bei deiner Rückkehr nicht mehr leben«, warnte Zhu.

Der Jüngere zog ein kleines Messer. Seine Hände zitterten. »Wenn du ihm etwas antust, bringe ich dich um.«

»Vielleicht«, erwiderte Zhu. »Aber nicht, bevor ich deinen Bruder umgebracht habe. Wenn du mich befreist, werden wir alle überleben. Das verspreche ich.«

»Tu es nicht, Huangyi«, sagte der Junge unter Zhus Knie gurgelnd. »Lauf weg, hol Hilfe.«

»Wenn du gehst, stirbt dein Bruder.« Zhu hielt inne und warf einen Blick auf die Brüder. Alte Erinnerungen tauchten in seinem Kopf auf. Bei genauerer Betrachtung kamen ihm die beiden bekannt vor. Er runzelte die Stirn. »Moment mal. Heißt ihr Huangyi und Huangmang? Habt ihr eine Schwester?«

Huangmang, der Ältere, der unter Zhus Knien lag, sah ihn düster an. »Woher kennst du meine jiĕ

Zhu seufzte. »Ich bin Chen Wenzhu. Meiner Familie gehörte der Lebensmittelladen. Wir hatten Hühner im Garten.«

Huangyi, der Jüngere, wirkte unsicher. », was soll ich machen?«

»Ich habe das Dorf vor über fünf Jahren verlassen, um in der Stadt zu arbeiten. Huangyi erinnert sich vielleicht nicht mehr an mich. Ich weiß noch, er reichte mir damals kaum bis zur Hüfte.« Zhu nahm sein Knie vom Hals des Jungen und reduzierte den Druck auf dessen Brust. »Huangmang, du hast oft Nudelpackungen ins Geschäft gebracht, weißt du noch?«

»Ja, der Lebensmittelladen. Ich erinnere mich daran, shūshu«, sagte Huangmang, der ihn nun endlich erkannte. Er wand sich unter Zhu hervor, kam auf die Füße und wich zurück. »Schön, dich zu sehen.«

»Es ist alles in Ordnung.« Zhu versuchte, nicht bedrohlich zu wirken. »Heutzutage ist es hier draußen gefährlich. Kannst du mir die Fesseln abnehmen?«

»Ja, shūshu

Zhu stand auf und streckte die Arme aus. »Sind noch andere aus dem Dorf hier?«

Der erste Schlag auf den Hinterkopf ließ ihn taumeln. Beim zweiten knickte er ein. Er krachte mit dem Gesicht nach unten auf den Boden. In seinem Kopf dröhnte es. Er drehte sich auf den Rücken, sah die beiden Jungen an und wollte etwas sagen. Ihm kam jedoch kein Wort über die Lippen.

»Huangyi, hol jiĕ und die Ältesten«, sagte der ältere Junge.

»Was ist denn los? Du hast doch gesagt, dass du ihn kennst. Wie heißt er noch gleich?«

Huangmang zuckte mit den Schultern. »Mir egal. Ich will kein Risiko eingehen.«

»Ich …«, setzte Zhu an.

»Halt den Mund, húndàn!« Huangmang trat ihm in die Rippen. Zhu krümmte sich zusammen. »Du hast meinen kleinen Bruder bedroht. Ich werde dich erschlagen!«

Zhu beschloss, sich weitere Verletzungen zu ersparen, und schwieg. Huangyi kehrte einige Minuten später zurück. Er hatte einige Erwachsene dabei, die unterschiedliche landwirtschaftliche Werkzeuge in den Händen hielten. Einer hatte sogar ein Jagdgewehr dabei. Sie zogen Zhu auf die Füße. Ein Tritt in den Hintern ließ ihn losstolpern.

Die Gruppe führte ihn durch ein spärlich bewachsenes Gebiet mit hohem Gras und einigen Bäumen. Die Nacht war bewölkt, mond- und sternenlos. Das einzige Licht stammte von einer Taschenlampe, die der Mann ganz vorn in der Hand hielt. Jeden Moment konnte ein jiāngshī aus der Dunkelheit treten und sie angreifen, bevor jemand etwas merkte. Doch anscheinend befanden sie sich auf einem gesicherten Gelände. Zhu sah sich um. Die Menschen wirkten entspannt. Sie schienen zu glauben, dass sie in keiner Gefahr schwebten, aber wie konnte das sein? Selbst der Lichtblick, der einer Festung glich, war von Mauern umgeben. Sein forschender Blick wurde mit einem harten Schlag auf den Hinterkopf belohnt.

Sie betraten eine große Lichtung, die von Zelten und primitiven Holzverschlägen gesäumt wurde. In der Mitte brannte ein Lagerfeuer herunter. Es war von etwas umgeben, das wie ein öffentlicher Sitzbereich wirkte. An einer Seite gab es einen Stall mit einigen Dutzend Schweinen, Gänsen und einer einsamen, mageren Kuh. Auf der anderen sah Zhu einen großen, gepflegt aussehenden Gemüsegarten.

Einige Leute, die am Feuer und am Tisch saßen, standen auf und folgten ihm mit ihren Blicken, als man ihn ins Lager hineinführte. Zwei Männer und eine Frau, vermutlich die Dorfältesten, erwarteten ihn schon. Alle drei sahen so aus, als wären sie gerade geweckt worden, worüber sie sich zu ärgern schienen. Man stieß Zhu auf einen der Stühle.

Der Älteste zu seiner Linken, ein kahler Mann mit einem deformierten Kopf, gähnte und sagte genervt: »Ich dachte, wir wollten morgen früh über das Schicksal des Eindringlings entscheiden.«

»Richtig«, bestätigte der Mann in der Mitte. Im Gegensatz zu seinem Kollegen hatte er lange weiße Haare und einen dazu passenden Bart. »Aber er hat zwei unserer Jungen angegriffen, als sie ihm etwas zu essen bringen wollten.«

»Das erleichtert uns die Entscheidung«, erwiderte der Glatzkopf. »Jagt ihm eine Eisenstange in den Kopf und dann ist Ruhe.«

»Wieso hat Jincai ihn überhaupt in den Hain gebracht?«

»Weil er mit seinem Lieferwagen bis zum Eingang gefahren ist. Jincai wusste nicht, was er mit ihm machen soll.«

»Wir sind keine Mörder«, mischte sich die Frau nun ein. Sie war die Älteste und hatte einen krummen Rücken und dünne graue Haare, die sie zu einem Dutt zusammengebunden hatte. »Einer der Jungen sagte, dieser Mann behauptet, er stamme aus dem Dorf.«

Der haarige alte Mann kniff die Augen zusammen. »Ich kenne ihn nicht.«

»Ich bin vor fünf Jahren nach Changsha gezogen«, sagte Zhu rasch. »Ich bin der Sohn vom alten Chen.«

Die drei musterten ihn leidenschaftslos. Der Glatzkopf verschränkte die Arme vor der Brust und sah die anderen an. »Hatte Chen einen Sohn? Ich dachte, er hätte zwei Töchter gehabt.«

»Du meinst Chen, den Metzger. Der hatte drei Töchter«, erklärte die Frau. »Aber es gab auch noch den Chen, dem der Laden gehörte.«

Die drei stritten miteinander, als würden sie Mahjong spielen.

»War Chen nicht der mit dem illegalen Glücksspiel?«

»Nein, das war Jiurang.«

»Wer ist dann Chen?«

Der Glatzkopf zuckte mit den Schultern. »Spielt es eine Rolle, ob er aus dem Dorf stammt oder nicht? Jincai sagt, er würde zum Lichtblick gehören. Wenn wir ihn gehen lassen, wird er Soldaten zu uns führen.«

Darin schienen die drei sich einig zu sein. Sie dachten noch immer über sein Schicksal nach, als jemand auftauchte und ihnen die Entscheidung beinahe abgenommen hätte. Eine junge Frau, die einen der Jungen am Handgelenk hinter sich herzog, stürmte ins Zelt. Ihre Augen funkelten wütend, als sie mit dem Finger auf Zhu zeigte. »Huangyi, ist er das?«

Der Junge, der aussah wie ein erschrockenes Kaninchen, nickte nur stumm.

Bevor Zhu den Mund öffnen konnte, stürzte sich die Frau auf ihn. Er erstarrte, als eine kalte Klinge seine Kehle berührte und die Haut verletzte. »Du wolltest meinem kleinen Bruder etwas antun? Ich bringe dich um!« Sie wollte gerade zustoßen und all seine Probleme beenden, als sich ihre Augen weiteten. »Moment. Ich kenne dich.«

In dem trüben Licht dauerte es einen Moment, bis sich alles in Zhus Kopf zusammenfügte. Die großen Augen, der leicht schräge Mund, das schmale, ovale Gesicht. Ihm fiel die Kinnlade herunter und er brachte kein Wort hervor, obwohl sein Leben davon abhing. Schließlich kam ihm aber doch noch eines über die Lippen: »Meili?«

6
DER LICHTBLICK

Elena winkte und die bunt gekleideten Männer und Frauen winkten zurück. Die Himmelsmönche standen auf einigen Felsen nahe dem Waldrand und führen eine Gruppe zusammengebundener jiāngshī auf eine Lichtung. Sie gehörten einem taoistischen Orden an, der sich aus den Trümmern der alten Welt erhoben hatte. Der Orden operierte rund um den Lichtblick und trieb oft jiāngshī wie Vieh vor sich her. Niemand wusste, was die Mönche mit ihnen machten, aber solange sie dafür sorgten, dass es da draußen weniger jiāngshī gab, war es auch allen egal.

Einer der Mönche, vermutlich ihr Anführer, legte die Hände zusammen und verbeugte sich. Elena erwiderte die Verbeugung. In dieser Gegend gab es drei oder vier Himmelsmönchgruppen. Elena war sich ziemlich sicher, dass sie dieser hier schon einmal begegnet war. Zhu kannte alle vom Sehen und wusste sogar die Namen ihrer Anführer. Er war zu allen freundlich und fand schnell Freunde.

Überlebende, die sich der Kontrolle der Regierung entzogen, waren theoretisch illegal, aber der Lichtblick tolerierte die Himmelsmönche, weil sie dabei halfen, die markierten Wege von jiāngshī freizuhalten. Einmal, als ein besonders schwerer jiāngshī-Sturm von Süden über sie hereingebrochen war, hatte der Lichtblick sogar seine Tore geöffnet und den Mönchen Schutz gewährt.

Elena und Bo gingen weiter über die rund zwei Meter fünfzig hohe Mauer, die einige Kilometer lang die Straße säumte. In dieser Gegend stieß man auf deutlich weniger jiāngshī, ein klares Zeichen dafür, dass sie sich ihrem Zuhause näherten. Ein paar Tote schlurften zur Mauer und griffen nach ihnen, aber die Mauer war so hoch, dass sie niemanden, der auf ihr stand, erreichen konnten. Und es gab hier nicht genügend Tote, um sie einzureißen.

Am Vormittag erreichten Elena und Bo das Ende der Mauer. Sie sprangen von ihr auf eine Reihe von Lastwagen und Lieferwagen und hüpften über die Dächer bis zu einem Strommast. Sie kletterten den Mast mithilfe von ins Holz geschlagenen Einkerbungen, die als Leiter fungierten, hinauf. Nun gingen sie auf Brettern, die man über die Kabel gelegt hatte, von einem Mast zum nächsten. Die Windteams hatten diesem Abschnitt den liebevoll gemeinten Spitznamen Blitzallee gegeben. Sie brauchten eine weitere Stunde, bis sie einen Hügel erklommen hatten, von dem aus sie eine flache Ebene und den Yuanjiang-Fluss sehen konnten.

Am Flussufer gab es eine Reihe hässlicher, mehrstöckiger Metallgebäude. Sie standen auf dem Gelände einer Wasseraufbereitungsanlage, die das Militär in den ersten Monaten der Epidemie übernommen hatte, um die Trinkwasserversorgung zu gewährleisten. Inzwischen war die Anlage zu einem regelrechten Militärlager geworden und zum Regierungssitz der Provinz Hunan. Oder dem, was davon übrig war. Dutzende aufeinandergestapelte Container bildeten die Grenze des Geländes.

Sie waren endlich am Lichtblick angekommen.

»Zu Hause ist es doch am schönsten«, murmelte Elena. Sie waren noch nicht in Sicherheit. »Komm.«

Der letzte Teil des Weges führte sie über das Niemandsland, das den Lichtblick umgab. Sie mussten einen großen Sendemast hinaufklettern und von dort mit einer improvisierten Gondel ins Lager fahren. Elena schwieg während der zehnminütigen Fahrt über das Areal, das man passenderweise Verbrannte Felder nannte.

Unter ihr lag ein verbranntes Stück Land, das man mit tiefen Gräben durchzogen hatte. Es sah aus wie ein Schlachtfeld vor den Toren zur Hölle, der Schauplatz des Krieges zwischen den Lebenden und den Toten, der scheinbar niemals enden wollte.

Jiāngshī, die von den Geräuschen und Lichtern der Siedlung angelockt wurden, strömten Tag und Nacht aus allen Richtungen zum Lichtblick. Sie stießen auf Barrikaden und mit Speeren ausgerüstete Teams, die die Toten in die Gräben lockten, in denen man sie gefahrlos von oben erledigen konnte. Sobald die jiāngshī neutralisiert waren, riegelte man Teile des Grabensystems ab, damit Teams die Toten auf Karren abholen und zu einem der Scheiterhaufen bringen konnten, die man überall auf dem Areal sah. Das musste man von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang machen und man bestrafte damit oft Kleinkriminelle, Leute, die nicht loyal genug zur Revolution der Lebenden standen, und solche, die ihre Quote nicht erreichten. Letzteres war auch für Elena von Bedeutung. Zhus Windteam hatte die Karren bisher vermeiden können, doch in den letzten beiden Monaten hatten sie schon zweimal zum Speer greifen müssen.

Das verrostete Gatter der Gondel schwang auf, als Elena und Bo den Containerwall erreichten. Sie stiegen aus und betraten das Lager. Es war viel los auf dem Schutzwall aus Metall. Soldaten der Revolution der Lebenden bemannten ihn. Es sah aus, als würde eine mittelalterliche Burg gegen eine Belagerung kämpfen, was der Wahrheit recht nahekam.

Alle drei Meter stand ein Mann oder eine Frau auf der Mauer. Bei der Hälfte handelte es sich um Wächter, die mit einem Megafon auf jiāngshī aufmerksam machten, die den Gräben entkommen waren. Die andere Hälfte war mit einem Bogen bewaffnet. Kinder, manche gerade einmal sieben Jahre alt, fungierten als Boten, die Nachrichten, Wasser und Nahrung brachten. Einige Jugendliche und ältere Kinder wurden auf die Felder geschickt, um den Leichen Wertsachen abzunehmen und die verschossenen Pfeile einzusammeln. Jeder hatte in diesem menschlichen Bienenstock eine Aufgabe. Alles diente dem Wohl der Menschen.

Über ihnen stieß ein Lautsprecher Durchhalteparolen und kaum verhohlene Drohungen aus, die Wachsamkeit und Verantwortung forderten. Das moderne China, das Elena kennengelernt hatte, hatte nichts mit dem aus ihren Schulbüchern zu tun. Es war fortschrittlich und aufregend und wurde von Innovationen und Kapitalismus angetrieben. Seit der Epidemie hatte sie jedoch miterlebt, wie die Regierung und das Volk sich hinter eine defensive Rhetorik zurückzogen: Sitten, die zur Geburt dieser Nation geführt hatten, wurden nun als Kontrollmechanismus eingesetzt.

Als die öffentliche Ordnung nicht mehr aufrechterhalten werden konnte, hatte die Regierung in Peking eine zweite Revolution ausgerufen, die Revolution der Lebenden. Es war die Pflicht eines jeden Bürgers, gemeinsam mit allen anderen gegen die jiāngshī und die Seuche, die das Land des Himmels bedrohte, zu kämpfen. Oder so etwas in der Art. Mandarin konnte manchmal schrecklich blumig klingen und Elena verstand die Sprache ungefähr so gut wie ein Zweitklässler. Zhu hatte die Botschaft, die der Lautsprecher verkündete, für Elena übersetzt.

Elena und Bo gingen über ein Baugerüst und stellten sich in die Schlange vor der Treppe, die zum Boden führte. Sie suchte mit Blicken nach Zhu, obwohl es unwahrscheinlich war, dass sie ihn unter all den Menschen dort unten finden würde. Trotzdem hoffte sie, ihn in der Schlange beim Quotenmeister oder in der Kantine zu entdecken.

Das Hauptlager im Inneren des Lichtblicks sah so aus, wie man es sich in dieser neuen, schrecklichen Welt vorstellen würde: ein Teil Militärbasis, ein Teil Flüchtlingslager, ein Teil Gefängnis und komplett trostlos und armselig. Es bestand größtenteils aus Zelten und Bretterverschlägen, die in die schlimmsten Slums der Welt gepasst hätten. Man nahm an, dass rund dreitausend Menschen auf einem Areal lebten, das so groß wie drei Fußballfelder war.

Bei den restlichen Gebäuden handelte es sich um Schiffscontainer. Nur an der Flussseite, dort, wo die Aufbereitungsanlage stand, gab es ein paar Betongebäude, die von der Regierung übernommen worden waren. Das Militär und der Provinzsekretär hatten diese zur Regionalhauptstadt von Hunan erklärt, nachdem die eigentliche Hauptstadt Changsha von jiāngshī überrannt worden war.

Elena verließ das Gerüst und bahnte sich auf verschlammten Pfaden einen Weg durch die dichte Menge. Es roch nach Rauch, Schwefel und Benzol. Menschen drängten sich um brennende Metalltonnen. In einem Block hörte man ein lautes Hämmern, als würde jemand auf ein Rohr schlagen, im nächsten das Zischen von Wasserdampf und das Schreien eines Säuglings.

Über dieser Kakophonie verkündete der Lautsprecher an die Gegenwart angepasste Maoismen, motivierende Botschaften und Redewendungen aus der glorreichen Revolutionszeit, die ununterbrochen und blechern durch das Lager hallten.

Lasst eine Millionen Blumen erblühen, damit unsere rastlosen Toten schlafen können.

Sich freiwillig zur Revolution der Lebenden zu melden ist eine heilige Pflicht.

Gebärt mehr Kinder. Jedes Leben, das ihr in diese Welt bringt, schadet den Toten.

In der Originalsprache klang das viel lyrischer. Elena hätte viele dieser Sprüche für poetisch, sogar schön gehalten, wenn sie nicht nonstop damit beschallt worden wäre. Nach einer Weile wurden sie zu Hintergrundrauschen, aber sie waren trotzdem effektiv. Sobald ein Spruch anfing, zitierte ihr Gehirn ihn automatisch mit. Deshalb hatte sie Zhu gebeten, sie in ein Windteam zu holen, damit sie nicht den ganzen Tag im Lichtblick bleiben und Aufgaben erledigen musste, die man für Ausländer als »angemessen« betrachtete.

Sie und Bo stellten sich vor dem Zelt des Quotenmeisters an. Vor ihnen warteten rund zwanzig Windteams. Wieder keine Spur von Zhu. Sie schloss die Augen und wippte ungeduldig mit dem Fuß, während die Schlange nach vorne kroch. Nach der tage- oder sogar wochenlangen Beutesuche in der Wildnis hatte niemand Lust, sich im Lichtblick beim Quotenmeister anzustellen und auf sein Urteil zu warten. Meistens bekam man weniger als erwartet und das obwohl alle ihr Leben riskierten, um Dinge aufzutreiben, die den Fortbestand der Siedlung sicherten. Elena wollte nur ihre Beute abliefern, etwas Warmes essen und endlich heiß duschen. Verdammt, sie wäre sogar mit einer lauwarmen Dusche zufrieden.

Ein Stück vor ihnen wurden Leute plötzlich aufgeregt. Einige Windteams drängten sich zusammen und zeigten auf jemanden. Die Menge teilte sich und salutierte. Manche riefen »Dàgē!« Damit konnte nur eine Person gemeint sein. Ying Hengyen tauchte einige Sekunden später auf. Er wirkte grimmig und ausgezehrt und sein linker Arm steckte in einer einfachen Schlinge. Er schien gerade von einem schwierigen Ausflug in die Wildnis zurückgekehrt zu sein.

Der Rest seines Eliteteams sah noch schlimmer aus. Ihre Kleidung war zerrissen und blutig. Was auch immer sie durchgemacht hatten, es musste brutal gewesen sein. Da bemerkte Elena, dass alle um sie herum flüsterten. Ein Mitglied aus Hengyens Windteam fehlte.

»Linnang«, sagte Bo leise. »Er ist erst vor zwei Wochen ins Team gekommen.«

»Ich frage mich, wer seinen Platz einnehmen wird«, erwiderte sie.

Trotz seines Zustands blieb Hengyen alle paar Schritte stehen, um Leute, die er kannte, zu begrüßen, anderen auf die Schulter zu klopfen oder ihnen die Hand zu schütteln, wie ein Politiker, der eine Schlange abarbeitete.

Elena erwischte sich dabei, wie sie den Rücken durchdrückte. Hengyen schüchterte sie ein. Er hatte viele Windteamleiter ausgebildet und wurde von allen verehrt. Sie hatte ihn nur einmal getroffen, als Zhu sie zu ihm gebracht hatte, um ihn um die Erlaubnis zu bitten, sie für sein Team auszubilden.

Zu Elenas Überraschung blieb er vor ihr und Bo stehen. »Bo, du siehst gesund aus.«

Bo zog den Bauch ein und streckte sich. »Ein gut genährter Körper ist die Grundlage für einen starken Rücken, dàgē

Hengyen grinste und klopfte ihm auf die Schulter. »Wenn du ihn zu gut ernährst, schleppst du am Ende nur dein eigenes Gewicht mit dir herum.« Er wandte sich mit einem ganz passablen Englisch an Elena: »Und wie geht es Ihnen heute, Elena Anderson?«

»Mir geht es gut. Danke der Nachfrage.« Sie wechselte auf Mandarin. »Ich bin für meine Aufgaben bereit.«

Er nickte und warf einen Blick nach rechts und links. »Wo ist Wenzhu?«

Elena zögerte. »Das weiß ich nicht« schien ihr keine gute Antwort zu sein.

»Er kommt bald«, sagte Bo schnell. »Er musste sich draußen in der Wildnis noch um etwas kümmern.«

Hengyen schien mit der Antwort nicht zufrieden zu sein. »Es ist nie klug, sich zu trennen. Sagt ihm bitte, dass ich mit ihm reden möchte.«

»Ja, dàgē«, erwiderten beide.

Hengyen ging weiter an der Reihe entlang. Als er außer Hörweite war, rückte Bo näher an Elena heran. »Was meinst du, worüber er mit Zhu reden will?«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Ich wette, Hengyen will, dass er Linnangs Platz in seinem Team einnimmt«, sagte Bo.

»Gut für ihn.« Elena biss sich auf die Lippe. Das meinte sie nicht ernst. Sie hatte geglaubt, sie würde immer zu Zhus Windteam gehören. Deshalb hatte sie sich freiwillig gemeldet. Er würde sie doch nicht im Stich lassen, um sich Hengyen anzuschließen, oder?

Ying Hengyens Leute glichen im Lichtblick am ehesten dem, was man als Rockstars bezeichnen könnte. Sie galten als die Elite der Windteams und jedes Mitglied bekam sein eigenes Zimmer, die besten Waffen und unbegrenzt Nahrung. Am wichtigsten war jedoch, dass die Quoten für sie nicht galten.

Die eine Hälfte der Leute wollte sich unbedingt Hengyens Team anschließen. Die andere wollte nichts damit zu tun haben. Zum besten Windteam des Lichtblicks zu gehören hatte nämlich den Nachteil, dass man die schwierigsten Aufträge bekam, und deshalb war die Fluktuation hoch. Elena gehörte zum zweiten Lager, nicht dass sie auch nur annähernd für dieses Team qualifiziert gewesen wäre. Sich solchen Gefahren auszusetzen, nur um die besten Waffen und ein All-You-Can-Eat-Buffet zu bekommen, war es einfach nicht wert. Wenn sie allerdings unbegrenztes heißes Duschen hinzufügen würden …

Nach etwas über einer halben Stunde widmete sich Quotenmeister Ming endlich ihrer Beute. Elena und Bo sahen geduldig zu, während der ständig schwitzende, untersetzte Mann mit der hohen Stirn und dem großen Buch ihre Seesäcke öffnete und den Inhalt ordentlich auf dem Tisch stapelte. Während er die Öldosen und Batterien zählte, machte er mit den Fingern komplizierte Bewegungen, als würde er einen Zauber wirken wollen. Als Elena das zum ersten Mal gesehen hatte, hatte ihr Zhu erklärt, der Quotenmeister würde so mit einem imaginären Abakus Berechnungen durchführen. Als Ming die Tasche ganz ausgepackt hatte, wies er seinen Assistenten mit einer Geste an, einige Zahlen auf eine kleine Tafel zu schreiben.

Ming wandte sich als Nächstes Bos Tasche zu. Die Bohrmaschine beachtete er kaum, hob jedoch die Augenbrauen, als er das Multifunktionswerkzeug und die Lichtmaschine herausholte. Er kniff die Augen zusammen, hielt die Lichtmaschine einige Sekunden lang hoch und sah die beiden dann aus Knopfaugen, die sich hinter dicken Brillengläsern versteckten, an. Er fragte sich bestimmt, wo sie eine solche Beute gefunden hatten. Schließlich führte er weitere Berechnungen mit den Fingern durch und schrieb eine Zahl auf die Tafel. »Nicht schlecht«, sagte er mürrisch.

Zhu hatte sie ans richtige Ziel geführt. Die Ausbeute war besser als erwartet. Für die Gegenstände, die sie in der Autowerkstatt gefunden hatten, bekamen sie so viele Punkte, dass sie sich eine Weile lang keine Sorgen machen mussten. Vielleicht konnten sie sogar etwas Obst kaufen. Elena brauchte ein neues Paar Schuhe, beziehungsweise eines, das weniger abgetragen war und gegen das sie ihres eintauschen konnte.

Nach einer schnellen Mahlzeit, die Bo und Elena auf einer Bank in der allgemeinen Kantine einnahmen, trennten sie sich. In einer Stunde fing die Ausgangssperre an und sie hatten nicht genügend Punkte, um an einen der Orte zu gehen, die danach noch geöffnet waren. Elena ging ins Waschzelt und gab einige ihrer schwer verdienten Punkte für warmes Wasser aus. Sie genoss den vierminütigen Luxus, den sie ihr gewährten. Sie kostete die Zeit voll aus und wartete, bis der Aufseher ihr das Wasser abdrehte und die letzten kostbaren Tropfen aus dem Duschkopf fielen.

Als Elena sich angezogen hatte, war die Außentemperatur dramatisch gefallen. Während sie im Waschzelt war, musste es etwas genieselt haben, denn die Wege waren noch verschlammter als sonst. Die Regenzeit und die beengten Lebensbedingungen sorgten dafür, dass sie selbst auf dem kurzen Weg zwischen dem Waschzelt und ihrer Koje Dreck und Schlamm nicht entgehen konnte.

Elena eilte weiter, machte jedoch einen Umweg, der sie an den Grenzcontainern vorbeiführte, weil dort etwas weniger Menschen unterwegs waren. Sie ging an Kindern vorbei, die eine ordentliche Reihe bildeten. Jedes hielt einen stumpfen Besenstiel in den Händen. Vor ihnen standen fünf festgebundene jiāngshī, denen man die Unterkiefer abgerissen und die Hände hinter dem Rücken gefesselt hatte.

Ein Ausbilder, der einen Stock in der Hand hielt, ging hinter den Kindern auf und ab und bellte immer wieder: »Lān! Ná! Zhà!« Die zwischen sieben und zwölf Jahre alten Kinder stießen ihre Übungsspeere bei jedem Befehl ihres Ausbilders in die jiāngshī. Einer der jiāngshī, der intakter aussah als die anderen, warf sich auf einmal nach vorn und brachte einen kleinen Jungen dazu, aufzuschreien und vor Schreck seinen Besenstiel fallen zu lassen. Der jiāngshī bewegte sich so abrupt, dass Elena instinktiv nach ihrem Dolch griff. Der arme Junge bekam einige Schläge auf die Schulter, weil er seine Waffe verloren hatte. Elena schüttelte traurig den Kopf und ging weiter. Das war der neue Alltag, wenigstens in diesem Teil der Welt.

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