Kitabı oku: «Herz und Wissen», sayfa 28
Capitel LX
Da, ein Laut aus der gewöhnlichen Alltäglichkeit, das Anstreichen eines Streichholzes im Nebenzimmer, und der Zauber war endlich gebrochen.
Er erhob sich und tappte bis zur Thür. Teresa hatte sich nach oben gewagt und ein Licht angezündet. Instinktive Scheu vor ihm ließ sie schweigen, als er sie erblickte. Er stammelte und starrte verwirrt um sich, als er zu sprechen versuchte.
»Wo – wo —?« Er schien die Herrschaft über seine Gedanken verloren zu haben. Erschöpft hielt er inne, dann versuchte er es noch einmal. »Ich will allein sein,« war schließlich Alles, was er hervorbringen konnte.
Teresa nahm ihn bei der Hand, als wäre er ein Kind, und führte ihn die Treppe hinunter nach seinen Zimmern. Schweigend blickte er vor sich hin, während sie die Lichter anzündete »Kann ich sonst noch etwas für Sie thun?« fragte sie endlich. Er schüttelte den Kopf. Ihr Mitleiden gab ihr Muth, und: »Versuchen Sie zu beten,« sagte sie, bevor sie das Zimmer verließ.
Er sank auf die Knie; aber noch immer versagte ihm die Stimme. Vergebens suchte er Ruhe für seine Seele in heiligen Gedanken. Nein! Die dumpfe Qual in ihm vermochte keine Erleichterung zu finden. Nur noch Schatten von Gedanken kreuzten seinen Sinn, seine Augen brannten ihm von einer glühenden Hitze. Er begann sich vor sich selbst zu fürchten. Die Gewohnheit des Wanderlebens, das er in letzter Zeit geführt, trieb ihn gleich dem Instinkt eines Thieres hinaus in den freien Raum und die frische Luft. Ohne zu wissen und ohne sich darum zu kümmern, wohin sein Weg ihn führte, eilte er weiter und weiter, bis die gedrängten Häuser sich zu vereinzeln begannen, schließlich ganz aufhörten, und er sich allein fand auf einer einsamen, vom Monde beschienenen Landstraße Er folgte derselben, bis er ihrer müde war, und wandte sich dann seitwärts auf einen gewundenen Fußpfad. Das Licht des Mondes im Wechsel mit den Schatten der Bäume erfreute und beruhigte ihn. In der Bewegung hatte er die Erleichterung gefunden, die ihm in der Ruhe versagt geblieben war. Er konnte wieder denken, er konnte wieder fest wollen, seine geliebte Braut entweder zu retten oder mit ihr zu sterben. Jetzt endlich war er Mannes genug, der schrecklichen Gefahr, die ihn mit seinem Liebsten bedrohte, unerschrocken entgegenzutreten und den Kampf seiner Kunst, seiner Wissenschaft und seiner Liebe gegen die Macht des Todes aufzunehmen. Jeder Augenblick – das erkannte er jetzt – jeder Augenblick war kostbar; unverzüglich mußte er zu ihr zurückeilen. Er blieb stehen und blickte um sich, aber er wußte nicht wo er war. Und hier auf dem einsamen Fußpfade würde er zu später Stunde schwerlich Jemandem begegnen, der ihm Auskunft geben könnte – so wandte er sich denn zurück nach der Landstraße.
In demselben Augenblick trug ihm die stille Nachtluft ein Wölkchen stark riechenden Tabakrauches zu – Jemand, der rauchte, mußte in seiner Nähe, auf oder dicht bei dem Fußpfade sein.
Sorgfältig folgte er der Richtung bis zu einem Gitterthor mit einem unbestellten Feld dahinter. Dort stand der Mann, dessen Tabaksrauch er gerochen hatte, an die Thürpforte sich anlehnend, die Pfeife im Munde.
Das Mondlicht fiel voll auf Ovids Züge, wie er sich jenem näherte, um ihn nach dem Wege zu fragen. Der Mann trat ihm plötzlich einen Schritt entgegen, starrte ihn an und rief: »Halloh! sind Sie es selbst oder Ihr Geist?«
Sein Gesicht war im Schatten, aber seine Stimme machte ihn kenntlich. Es war Benjulia.
»Wollen Sie mich besuchen s« fragte er.
»Nein.«
»Nun, geben Sie mir wenigstens die Hand.«
»Nein.«
»Was ist Ihnen denn in die Quere gekommen?«
Ovid hatte von Miß Minerva Alles gehört, was Teresa derselben über die Konsultationen zwischen Benjulia und Mr. Null erzählt, sowie was sie selbst bei den Besuchen Benjulia’s beobachtet hatte. Nachdem er seinen aufsteigenden Jähzorn unterdrückt, antwortete er:
»Ich habe Carmina gesehen.«
Benjulia rauchte gelassen weiter und meinte: »Ein interessanter Fall, nicht wahr?«
»Sie wurden von Mr. Null konsultiert,« fuhr Ovid fort, »und Sie billigten seine unwissende, wirkungslose Behandlungsweise, trotzdem Sie es doch besser wissen mußten.«
»Natürlich wußte ich es besser —«
»Mit offenen Augen leisteten Sie dem unwissenden Manne Vorschub, ließen Sie das arme Mädchen, ohne helfend einzugreifen, kränker und kränker werden – zu irgend einem nichtswürdigen, selbstsüchtigen Zwecke —«
»Das nichts« berichtigte ihn Benjulia gelassen. »Vielmehr zu einem sehr guten Zwecke, um der Wissenschaft willen, zur Bereicherung meines Wissens.«
»Wenn es mir nicht gelingt, die Gefahr, welche jetzt nur durch Ihre Schuld dem Leben Carmina’s droht, noch abzuwenden —«
Benjulia nahm seine Pfeife aus dem Munde und unterbrach ihn mit lebhaftem Interesse: »Wie gedenken Sie sie zu behandeln? Haben Sie eine neue Idee, haben Sie ein neues Mittel gefunden?«
»Rette ich sie nicht,« wiederholte Ovid, »so tragen Sie allein die Schuld an ihrem Tode. Erbarmungsloser Schurke, so wahr der Mond jetzt über uns scheint, so wahr soll mir Dein Leben für das Carmina’s bezahlen.«
Staunen – maßloses Staunen – versiegelte Benjulia’s Lippen. In wortloser Verwirrung blickte er Ovid nach, wie derselbe den Weg hinab von ihm forteilte. Die einzig mögliche Erklärung für solch unvernünftige Reden eines gelehrten Mitgliedes seines eigenen, des ärztlichen Standes, war die alte Alternative. »Wahnsinnig oder betrunken?« fragte er sich, während er seine Pfeife wieder anzündete. Auf dem Wege nach seinem Hause überkam ihn noch einmal sein altes Mißtrauen gegen Ovid, und so beschloß er, morgen oder übermorgen sich nach Teresa’s Wohnung zu begeben, um dort von der Wirthin und dem Apotheker Erkundigungen einzuziehen, wie Carmina behandelt würde.
Als Ovid auf die Landstraße zurückgelangte, begegnete er einem nach London zu fahrenden Lastwagen. Der Kutscher bot ihm höflich an, ihn bis zum ersten Droschkenhalteplatz mitfahren zu lassen.
Sowohl die Wirthin als auch Teresa waren noch aus, als er zu Hause anlangte. Ihr Bericht über Carmina’s Befinden während seiner Abwesenheit bot keinen Grund zu neuer Beunruhigung, und so bot er ihnen gute Nacht, voll eifrigen Verlangens nach ungestörtem Alleinsein in seinem Zimmer.
In und außer dem Hause herrschte jetzt die lautlose Stille der Nacht, in der man am besten zu denken und zu überlegen vermag. Seine Gedanken waren klar; seine Erinnerung ließ ihn deutlich alle Erfahrungen aus seiner früheren Praxis überblicken, die ihm in seiner Noth von Nutzen sein konnten. Aber wo es sich um Carmina’s Leben handelte, wagte er es nicht, sich allein auf sich selbst zu verlassen. Er hatte die Möglichkeit, eine höhere Autorität als seine eigene zu befragen. Aus seinem Koffer nahm er jenes kostbare Manuskript, das Vermächtniß des unglücklichen Arztes, dem er während seiner letzten Stunden in Montreal hilfreich zur Seite gestanden hatte.
Ovid schlug sogleich den Theil der Arbeit auf, welcher von den Krankheiten des Gehirns handelte und durch folgende Ausführung eingeleitet wurde:
»Da ich nicht weiß, in wessen Hände dieses Manuskript fallen wird, oder in welch unerwarteter Weise sich nach meinem Tode eine Gelegenheit zur Nutzbarmachung demselben bieten mag, so enthalte ich mich bei Darlegung der folgenden Thatsachen absichtlich aller technischen, dem Laien unverständlichen Ausdrücke.
»Bei der medizinischem wie überhaupt bei aller menschlichen Forschung wird das angestrebte Resultat häufig auf indirekten und völlig unerwarteten, überraschenden Wegen gewonnen. Was ich hier über die Krankheiten des Gehirns zu sagen habe, darauf ward ich in erster Linie durch die praktischen Erfahrungen bei zwei Krankheitsfällen hingeführt, welche ursprünglich nicht die geringste Aussicht auf eine Bereicherung meiner Kenntnisse in diesem Felde zu bieten schienen. Beide Fälle waren die junger Mädchen, deren durch heftige seelische Erschütterung herbeigeführte hysterische Affektion schließlich in scheinbare Paralysis auslief. Den einen dieser Fälle behandelte ich mit günstigem Erfolge. Bei dem anderen wandte ich dieselbe Behandlungsweise an, aber ein verhängnißvoller Zwischenfall führte plötzlich den Tod der Kranken herbei und machte die Sektion der Leiche nothwendig. Von diesen beiden Ausgangspunkten gelangte ich auf dem jetzt darzulegenden Wege zu Schlußfolgerungen und Entdeckungen, welche ein völlig neues Licht auf das Wesen und die Behandlung der Gehirnkrankheiten werfen.«
Stunde auf Stunde studierte Ovid die jetzt folgenden Seiten, bis sein Geist völlig eins war mit dem Geist des Autors. Dann wandte er sich wieder zu gewissen Andeutungen über die erste vorläufige Behandlung der beiden Mädchen – von unendlichem Werthe für ihn wegen des augenblicklichen Zustandes Carmina’s. Die Morgendämmerung fand ihn in jeder Hinsicht vorbereitet, nur darauf wartend, daß der Anbruch des Tages ihn in den Stand setzen sollte, die nothwendigen Medikamente zu beschaffen.
Aber ehe er sich zu kurzer Ruhe niederlegte, mußte er sich zuvörderst noch persönlich überzeugen, wie es oben stand.
Er zog sich die Schuhe aus und schlich in Strümpfen die Treppe hinauf vor Carmina’s Thür. Die treue Teresa war schon wach und suchte dringend die Kranke zu überreden, wenigstens einige Löffel Suppe zu genießen. Der Laut ihrer Stimme, wie sie ihrer Amme antwortete, ließ sein Herz sich krampfhaft zusammenziehen – so schwach und leise war dieselbe. Aber wenigstens vermochte sie noch zu sprechen, und noch galt das alte Wort, das so Viele getröstet und so Viele betrogen – so lange noch Leben da ist, so lange ist auch noch Hoffnung.
Capitel LXI
Nach einer kurzen Unterredung mit seinem Stiefsohn, kehrte Mr. Gallilee zu seinen Töchtern nach Schottland zurück.
Gerührt durch seine väterliche Sorge um Carmina, versprach Ovid, ihn über die etwaigen Fortschritte, die sie zur Genesung machen würde, unterrichtet zu halten. Falls sich aber seine Erwartung, sie zu retten, als traurige Täuschung der Liebe und Hoffnung erwiese, dann sollte Schweigen ihm andeuten, was keine Worte auszusprechen vermochten.
Binnen zehn Tagen kam die quälende Ungewißheit zu einem glücklichen Ende. Die langsame Rekonvaleszenz mochte sich noch bis Ende des Jahres hinziehen, aber für Carmina’s Leben drohte jetzt keine Gefahr mehr.
Befreit von der schrecklichen Angst, die ihn bis dahin niedergedrückt, war Ovid jetzt im Stande, einige Tage später ausführlich an Mr. Gallilee zu schreiben und dabei auch eingehend über eine scheinbar so geringfügige Sache wie das Verhalten des Dr. Null zu berichten.
»Dein alter Hausarzt hatte in seinem Briefe an Dich nur insofern Recht, als ich ihn allerdings seiner weiteren Bemühung um Carmina enthob. Aber seine lebhafte Einbildungskraft oder richtiger vielleicht sein übertriebenes Selbstbewußtsein hat ihn mit Unrecht Dir gegenüber behaupten lassen, daß ich ihn absichtlich beleidigt. Ich hatte mir vielmehr die größte Mühe gegeben, seine Gefühle auch nicht im Geringsten zu verletzen. Trotzdem schied er im Zorn.
»Einige Tage später empfing ich von ihm einen Brief, in dem er mich mit ironischer Höflichkeit fragte, ob ich ihm gestatten würde, die Kopien meiner Rezepte im Buch des Apothekers einzusehen. Trotzdem er alt genug wäre, um mein Vater sein zu können, schiene es doch, als ob die Erfahrung eines Lebens für nichts zu achten und es für ihn nothwendig sei, noch von einem jungen Manne, wie mir, zu lernen, u. s. w. u. s. w.
»Ja jener Zeit der Angst und Sorge hatte ich keine Muße, schriftlich zu antworten, und beschränkte mich deshalb darauf, ihm durch den Ueberbringer seines Briefes sagen zu lassen, er möge ganz nach seinem Gutdünken verfahren. Bevor ich Dir erzähle, welchen Gebrauch er von dieser Erlaubniß machte, muß ich Dir noch erst erklären, welche besondere Bewandtnis; es mit meinen Rezepten hatte. Fürchte Dich nicht vor langen gelehrten Auseinandersetzungen und glaube mir, daß ich nicht ohne gewichtigem zwingenden Grund Dich hiermit belästige.
»Eine Anmerkung in jenem Manuskript, dem ich nächst Gott die Erhaltung des Lebens meiner Carmina zu danken habe, warnte mich vor den Apothekern. die, wenigstens im Lande des Autors, die neuen, eigenartigen Medikamente, deren Rezepte das Manuskript enthielt, entweder anzufertigen sich geweigert oder sich eigenmächtig erlaubt hätten, die Wirkungsweisen und Quantitäten der Ingredienzien eigenmächtig zu verändern. Der erste Fall begegnete jetzt mir selbst, der Apotheker weigerte sich, meine Rezepte auszuführen, wenn ich nicht durch eine besondere schriftliche Erklärung selbst die volle Verantwortlichkeit dafür übernähme.
»Nachdem ich seine Gründe angehört hatte, nahm ich meine Rezepte wieder an mich und schrieb – mit einer reservatio mentalis – neue Rezepte, die ich in einer andern Apotheke anfertigen ließ. Mit der reservatio mentalis meine ich, daß ich bezüglich der Quantitäten und Mischungen mich einfach an die alten Vorschriften hielt und die nothwendigen Hinzufügungen und Aenderungen aus meinem eigenen Vorrath von Medikamenten nachträglich selbst noch machte. Dies Verfahren, das ich nur eingeschlagen, um die nothwendigen Arzneien schneller und ohne Aerger zu erhalten, hatte eine Folge, die ich auch nicht im entferntesten geahnt. Es machte den Besuchen ein Ende, die Benjulia Spionierens halber der Wirthin dieses Hauses abstattete.
»Der alte thörichte Mr. Null, der nichts Neues in meinen Rezepten entdecken konnte – es waren ja genau seine eigenen Verordnungen – wenigstens nach den Eintragungen im Buch des Apothekers – nahm in boshafter Absicht Kopien derselben.
»Ich habe dieselben (so schreibt er mir in einem zweiten Briefe) an Doktor Benjulia gesandt, damit auch er in der Lage sein möge, etwas so überwältigend Neues von dem jungen Meister unserer Wissenschaft zu lernen, der unsere Dienste verschmäht.
»Aber ich bin Doktor Null hierfür sehr dankbar; in der Absicht, mich zu ärgern, hat er mir einen großen Dienst erwiesen. Meine unvollständigen Rezepte haben den Argwohn des Mannes beseitigt, dem er sie sandte. Das Mißtrauen desselben hatte mich schon lange fälschlich in Verdacht, daß ich heimlich dieselben Forschungen verfolgte, wie er, und sein Nebenbuhler werden könnte! Ich weiß ja nicht einmal, welcher großen Entdeckung er eigentlich nachspürt. Dieses sein Mißtrauen äußerte sich auch in der Nacht nach meiner Ankunft in London, als ich ihm aus dem Wege vor seinem Hause begegnete. Jetzt, da er aus Doktor Nulls Mittheilung ersehen zu haben meint, was für ein thörichter, eingebildeter, also ungefährlicher Mensch ich thatsächlich sei, haben seine unverschämten Besuche aufgehört. Die Wirthin die einzige Person, welche er hier im Hause zu sehen bekam – wird nicht länger durch sein Fragen und Forschen gequält, das sich Alles darauf bezog, wie ich denn eigentlich meine Kranke behandele.
»Du wirst jetzt verstehen, weshalb ich Dich mit einer eigentlich so rein medizinischen Sache belästigt habe. Doch jetzt zu Dingen von höherem Interesse!
»Meine theure Carmina ist jetzt wieder wohl genug, um Dich und die Kinder herzlich grüßen zu lassen. Aber sogar der kleinen Anstrengung, die es ihr kostete, mir dies aufzutragen, war sogleich wieder Mattigkeit und Erschöpfung gefolgt.
»Ich meine nicht allein Müdigkeit des Körpers, das ist jetzt nur noch eine Frage der Zeit und der Pflege. Ich meine Müdigkeit der Seele – die sich in einer völligen Erschlaffung ihres Gedächtnisses dokumentiert.
»An dem Morgen, als sich die erste entschiedene Wendung zum Besseren zeigte, stand ich an Carmina’s Lager, als sie erwachte. Ueberrascht, erstaunt blickte sie mich an. »Weshalb benachrichtigst Du mich nicht vorher von Deiner plötzlichen Rückkehr?« fragte sie. »Heute erst schickte ich einen Brief für Dich an Deine Bankiers in Quebec. Weshalb kamst Du so plötzlich?« Ich that mein Bestes, sie zu beruhigen, und es gelang mir. Es ist eine vollständige Lücke in ihrem Gedächtniß – dessen bin ich nur zu sicher! An nichts erinnert sie sich, was während der letzten vier Wochen geschah, seit sie mir ihren letzten Brief schrieb – ihren Brief, den ich erhalten haben müßte, ehe ich Quebec verließ.
»Dies Vergessen der schrecklichen Prüfungen, die mein Liebling erdulden mußte, ist an sich ein Umstand, für den wir dankbar sein müßten; nur beunruhigte mich dabei anfangs die Furcht, daß es vielleicht das Symptom eines tieferen Leidens sei, welches sich mir bis jetzt noch verborgen hätte.
»Miß Minerva – was hätte ich thun können ohne den Beistand dieser besten und treuesten Freundin? – Miß Minerva hat Carmina’s Gedächtniß nach andern Richtungen hin und zwar so weit mit gutem Erfolge vorsichtig geprüft. Aber ich werde nicht eher völlig beruhigt sein, als bis ich noch weitere Versuche mittelst einer anderen Person angestellt habe, die nicht Miß Minerva’s gewaltigen Einfluß auf Carmina besitzt und deren Gedächtniß naturgemäß an solchen Dingen haftet, die wir älteren Leute für nichtige Kleinigkeiten erachten. Bringe also ja Zo mit Dir, sobald Ihr Schottland verlaßt. Meine liebe kleine Briefschreiberin ist gerade solch ein harmloses Kind, wie ich dessen für meinen Zweck bedarf. Küsse sie für mich, bis sie ganz außer Athem – und sage ihr, daß ich es dann noch einmal selbst thun werde, sobald wir uns wieder begegnen.«
Die Rückkehr nach London erfolgte in der letzten Woche des Oktober. Lord und Lady Northlake bezogen ihr Palais und nahmen Zo und Maria mit sich, während Mr. Gallilee, der keine Lust hatte, in seinem eigenen vereinsamten Hause von traurigen Erinnerungen sich quälen zu lassen, in Ovids jetzt unbewohntem Hause Absteigequartier nahm, um dort, wie er sich ausdrückte: »das Nest für seinen lieben Jungen warm zu halten.«
Die Erkundigungen, welche er in der Privatirrenanstalt über seine Gattin einzog, wurden hoffnungsvoll beantwortet. Soweit hatten sich die zur Wiederherstellung von Mrs. Gallilee getroffenen Maßregeln über alles Erwarten erfolgreich gezeigt. Aber ein ungünstiges Symptom war geblieben. Sie bewahrte ein ununterbrochenes Schweigen. Und wenn sie ausnahmsweise einmal einige Worte äußerte, schienen ihre Gedanken ausschließlich mit wissenschaftlichen Fragen beschäftigt zu sein – ihres Gatten oder irgend eines andern Mitgliedes ihrer Familie erwähnte sie nie. Zeit und Pflege würden dies aber hoffentlich noch beseitigen, und in zwei Monaten vielleicht würde sie völlig geheilt wieder zu ihrer Familie zurückkehren können.
Als Mr. Gallilee nach seinem Hause kam, um die für ihn in der Zeit seiner Abwesenheit etwa eingelaufenen Briefe sich zu holen, fand er dort ein lithographirtes Cirkular nebst einer Rolle von starkem weißen Papier. Die Unterschrift zeigte ihm den wohlbekannten Namen des Mr. Le Franc.
Dieses Cirkular legte dar, wie der Absender desselben sich als Pianist und Klavierlehrer einen wohlbegründeten Ruf und ein bescheidenes Einkommen erworben hätte. »Ein entsetzlicher Unglücksfall, meine Damen und Herren, hat nun aber meine rechte Hand verstümmelt und die Amputation zweier Finger nothwendig gemacht. Auf Lebenszeit unfähig gemacht, meinen Beruf auszuüben ist mir nur noch ein Weg geblieben, die Mittel zu meinem Lebensunterhalt zu finden – nämlich auf ein Lied meiner eigenen Komposition zu sammeln. NB. Der verstümmelte Musiker stellt die Höhe des Subskriptionsbetrages dem Ermessen seiner kunstliebenden Gönner anheim und wird sich die Ehre geben, in den nächsten Tagen persönlich vorzusprechen.«
Mr. Gallilee ließ in seiner Gutmüthigkeit einen Sovereign beim Portier, damit ihn derselbe dem armen Opfer eines so traurigen Schicksals gäbe, und machte sich dann auf den Weg nach Lord Northlake’s Residenz. Er und Ovid hatten nämlich verabredet, daß Zo heute zu Carmina gebracht werden sollte. Unterwegs begegnete ihm Mr. Mool, sein Rechtsanwalt und fragte ihn, auf die Notenrolle blickend, die er unter dem Arm trug: »Was tragen Sie denn da so sorgfältig? Es sieht ja wie Noten aus. Gewiß ein neues Stück für die jungen Damen?«
Als aber Mr. Gallilee ihm auseinandersetzte, wie er zu diesen Noten gekommen, da stieß Mr. Mool ärgerlich und erzürnt mit seinem Stock auf die Granitfliesen des Pflasters.
»Lassen Sie nie wieder einen Pfennig von Ihrem Gelde in die Taschen dieses Schurken wandern! Der Kerl hat sein Möglichstes gethan, um die arme, alte Italienerin, Miß Carmina’s Amme, in den Polizeibericht zu bringen.«
Nach dieser Vorrede erzählte dann Mr. Mool die nächsten Umstände, wie dem Mr. Le Frank ein Unglück widerfahren wäre. »Als er aus dem Hospital entlassen wurde,« fuhr der erzürnte Anwalt fort, »hatte er nichts Eiligeres zu thun, als gegen Teresa eine Vorladung vor den Polizeirichter auszuwirken. Glücklicher Weise zeigte sie mir die Vorladung. Ich begleitete sie als ihr Rechtsbeistand, legte dem Richter einen Situationsplan der Zimmer vor, der für mich selbst sprach und richtete an den Kläger nur zwei Fragen. Was hatte er in einem fremden Zimmer zu suchen, und wie kam seine Hand in einen fremden Schrank? Der Richter wies die Klage ab, der Schreiber hatte die Freundlichkeit, Teresa’s Namen, aus dem für die Presse bestimmten Protokoll fortzulassen, und als der Kerl von Kläger schließlich noch die Unverschämtheit hatte, draußen auf dem Korridor, Drohungen gegen die alte Frau auszustoßen, ließ ich ihn notieren und ein besonderes Protokoll hierüber aufnehmen. Ich habe mein Auge auf ihn – und er soll mich noch kennen lernen. Ich werde ihn fassen auf Grund des einen Paragraphen in der Vagabundenakte!«