Kitabı oku: «Verbergen und Suchen», sayfa 23
Achtes Kapitel – Der Koffer mit Briefen
Als Mr. Marksman in seiner Wohnung ankam, war es seine erste Beschäftigung, die Pfeife zu füllen und anzuzünden. Dann setzte er sich auf seine Kalmuckröcke, zog den aus Dibbledean mitgebrachten Koffer dicht vor sich und fiel sogleich in ein langes, tiefes Nachdenken. Obgleich die Maschinerie von Mats Gemüt aus rohem barbarischen Material konstruiert war, und obgleich es weder Bücherstudium noch die Lehren weiser Männer beseelt und zur Tätigkeit angefeuert hatten, so trieb es ihn dennoch zu fortwährender Aktivität; er musste stets Beschäftigung haben, einmal in düsterer melancholischer Stimmung, ein andermal wild und schlau, oftmals alles radikal umkehrend und in ein Chaos werfend, aber dennoch stets zu einem praktischen Resultat zurückkehrend. Die Wüsten und Gefahren sind strenge Schulmeister für gute und böse Menschen, die Felsen und Wüsten des großen amerikanischen Kontinents waren es demnach auch für Mr. Marksman gewesen.
Manche Pfeife hatte er geleert und wieder gefüllt, manch düsterer Gedanke war über sein finsteres Antlitz gezogen, als er lang und mühsam jedes der Worte erwog, die er mit Zack gewechselt hatte. Aber dennoch konnte man hiervon nicht fünf Minuten im wahren Sinne des Worts als Zeitverschwendung betrachten. Er hatte sich bei seiner ersten Pfeife mit dem Entschluss niedergesetzt, um, soweit es einem Menschen möglich ist, zu erforschen, wie das junge Mädchen, das er in Mr. Blyths Hause gesehen, dorthin gekommen und wer sie eigentlich sei. Als er sich endlich erhob und die Pfeife in die Ecke stellte, hatte er alles vom Anfang bis zum Ende durchdacht, seine Entschlüsse gefasst und seinen Plan für die Zukunft festgestellt.
Sein langes Sinnen und Denken hatte ihn in dem Entschluss bestärkt, seinem ersten Antriebe zu folgen und das vor keinem Menschen aufgeklärte Dunkel über den Ursprung der Adoptivtochter Mr. Blyths dadurch zu lichten, dass er in den Besitz des Haarbracelets komme, welches er in der geheimen Schublade des Bureaus gesehen hatte. Hierfür fand er einen hinreichenden Grund sowohl in Bezug auf das Haarbracelet zu Madonna als durch Zacks Winke hinsichtlich der befremdenden Worte, welche Mrs. Peckover in Mr. Blyths Halle gesprochen hatte; und das Resultat dieser Winke ward noch bestärkt durch die Erinnerung an jenen Brief, Johanna Holdsworth unterzeichnet, den er unter dem Viehschuppen bei Dibbledean gelesen und worin von eingeschlossenen Haaren die Rede war.
Diesem Brief zufolge war ein Haararmband das Eigentum der Marie Grice gewesen, welches, wenn es noch existierte, leicht an den im Briefe eingeschlossenen Haaren erkennbar sein würde. Und nach Zacks Äußerungen lag augenscheinlich ein Vorfall, ein unbegreifliches Misstrauen in Verbindung mit einem Haarbracelet und dem jungen Fräulein, dessen außerordentliche Ähnlichkeit mit Marie Grice in ihrer Jugendzeit ihn zu einem Plan angespornt hatte, den er jetzt verfolgen wollte. Endlich, in Übereinstimmung zu dem was er selbst wusste, lag wirklich ein Haarbracelet in der geheimsten Schublade von Mr. Blyths Bureau. Dieses letzte Fragment der Beweise zu den andern gerechnet, war für ihn von außerordentlich großer Wichtigkeit. So unbestimmt dies alles auch noch sein mochte, die Übereinstimmung in einigen Punkten war hinreichend, ihn mit der größten Neugierde und Spannung zu erfüllen und zu einem wahrhaft desperaten Unternehmen anzutreiben. Wie er, ohne Mr. Blyths Wissen und ohne in der Familie des Malers den leisesten Verdacht zu erregen, in den Besitz des Haarbracelets gelangen wollte, hatte er noch nicht bestimmt. Aber fest entschlossen war er, es zu erlangen, und in der Wahl seiner Mittel war er durchaus nicht skrupulös – Auch fühlte er schon zuversichtlich, dass er den ersehnten Gegenstand erlangen werde. Wie und wodurch das Objekt ihm zugeführt werden sollte, darüber machte er sich nicht die geringste Sorge. Das furchterregende Antlitz aus der Jugendblüte jener toten Frau, das durch die lebende Kopie wieder in seinem Gedächtnis erstanden war, schien ihn rastlos in unbekannte Finsternis zu treiben, um daraus endlich Licht zu bekommen. Dieser in ihm arbeitende Einfluss trieb ihn unwillkürlich zur Tat.
Sein Entschluss hinsichtlich des Haarbracelets stand eben so fest als der, seine Gefühle gegen Madonna zu unterdrücken; dem jungen Thorpe, als seinem warmen Freunde, durfte er wohl trauen. Jedes von Zack fallengelassene Wort war für ihn von hoher Wichtigkeit hierin, und jedes fernere Wort, das er noch aus ihm herauslocken konnte, war von gleich großer Bedeutung für sein zukünftiges Unternehmen.
»Er bildet sich ein, ich sei in das Mädchen sehr verliebt, und macht seinen Scherz darüber, —« sagte Mr. Marksman für sich; »– mag er‘s denken. Je mehr er darüber denkt, desto mehr wird er sagen. Alles was ich tun muss, ist zurückhaltend und schweigsam zu sein. Wenn ich an mich halte, wird er sich umso sicherer auslassen.«
Während er sich über sein künftiges Benehmen gegen Zack schulte, dachte er auch an eine Person, welche zwar nicht nahe bei der Hand, aber sicher befähigt war, ihm näheren Aufschluss zu geben. Bevor er sich ganz entschieden zu einer Handlung entschloss, debattierte er erst mit sich selbst, ob er wohl nicht das Eigentum wieder nach Dibbledean besorgen und von der alten Johanna Grice ausführlichere Auskunft, als sie ihm gegeben hatte, erforschen sollte.
Nach einigem Nachdenken gab er aber dieses Vorhaben wieder auf und wollte diese Hilfsquelle zu seiner Untersuchung erst später benutzen, wenn ihm das Experiment mit dem Armbande missglückt sei oder ihm doch nicht den vollständigen Erfolg gewährt habe. – Für jetzt brauchte er nur einen vergleichenden Blick auf das Haar im Bracelet und auf das Überflüssige zu tun, welches der Juwelier nicht gebraucht und welches ihre Freundin ihr im Briefe wieder zurückgesandt hatte. Dies würde vorläufig hinreichende Aufklärung gewähren und das geheimnisvolle Dunkel aufhellen.
Dies war das Hauptresultat, auf das er nach langer, schwerfällig hin und her schwankender Überlegung gekommen war; denn schwer und mühsam ging sein Denkprozess vonstatten. Sein nächstes Geschäft war nun, die vielen Briefe zu lesen, die er in dem von Dibbledean mitgebrachten Koffer vorfand und bisher noch nicht geöffnet hatte. Denn er besaß hierdurch auch die in dem an Marie Grice gerichteten Briefe eingeschlossenen Haare, welche er nun für zunächst eintretende Ereignisse bereit hielt und womit er einen Vergleich an Mr. Blyths Bracelet anstellen wollte.
Bevor er an das Öffnen ging, machte er erst einige schnelle Gänge in seinem kleinen Zimmer ungeduldig auf und ab.
Nicht ein einziges Mal, seitdem er seine Rückreise in sein Vaterland angetreten hatte, um wieder in zivilisierte Gesellschaft zu kommen, von der er vor mehr als zwanzig Jahren ausgestoßen ward, hatte er nach seiner Ausdrucksweise so gefühlt, dass er sein eigener Herr wieder geworden sei, als eben jetzt. Ein Anklang jener alten, atemlosen, wilden Unschlüssigkeit aus den Tagen der tödlichen Gefahren durchzog wieder sein Gemüt, als er an das verbotene Geheimnis dachte, in das er eben eindringen und für dessen Entdeckung er jede Gefahr wagen und jedes Mittel gebrauchen wollte. »Es geht mir durch und durch, gleich wie im Kampfe ums Leben unter den blutgierigen Indianern«, murmelte Mat für sich hin, als er in seinem Käfige von Zimmer rastlos hin und her trabte und die Narben seines Gesichts rieb. Dies war seine Gewohnheit, wenn ein anderer Beweggrund die Oberhand über ihn gewann.
In demselben Augenblicke, als diese Stimmung Mr. Marksmams Gemüt bedeutungsvoll durchzog, erklärte Mr. Blyth abermals vor einem neuen Zuschauerkreise seiner Bewunderer die Kunstmystik und deren Sujets, wovon sein Columbus das malerisch exemplifizierte Beispiel sei. – Während dem war seine Frau im oberen Zimmer bemüht, der Madonna Zacks wilde Späße über seines Freundes Liebesfesseln zu erklären. Und alle drei mussten über eine schnell gezeichnete Karikatur laut auflachen, welche maliziöserweise den armen alten Mat als skalpierten, kahlköpfigen Cupido der Hinterwälder darstellte.
Jede Gesellschaftssphäre im menschlichen Leben hat gleich dem Globus Antipodenpunkte; glänzt auf einem Teile der kleinen Miniaturwelt heiterer Sonnenschein, so herrscht in demselben Augenblick auf der entgegengesetzten schwarze Finsternis.
Mr. Marksmans Gesicht war plötzlich viel schwärzer geworden als je, während er im Zimmer auf und ab ging und die oben verzeichneten Worte sprach. Aber in einigen Minuten änderte es sich wieder zu jener eiskalten, erdfahlen Masse, die es in Dibbledean annahm; er ließ sich nun auf seine Kalmuckröcke nieder und begann die an Marie Grice gerichteten Briefe aus dem Koffer zu nehmen und zu eröffnen.
Zuerst nahm er den Brief mit den eingeschlossenen Haaren heraus und steckte ihn sorgfältig in die Brusttasche seines Rocks. Dann suchte er einige Augenblicke den überschriebenen und unterzeichneten Brief von Johanna Grice und breitete ihn neben sich auf dem Fußboden aus. Hierauf pausierte er einen Moment, blickte dann mit einer kuriosen mürrischer Traurigkeit in den Koffer, während seine Hand gedankenlos darin herumstöberte und die verschiedenen Gegenstände umherwarf, als da waren: Blumenblätter, ein Halsband, ein schön gebundenes Album und verschiedene andere weibliche Gegenstände, welche ehemals Marie Grice besaß.
Darauf begann er sämtliche Briefe im Koffer zu sammeln, – einige lagen zerstreut umher und andere waren in ein Paket gebunden, – dann breitete er sie vor seinen Knien aus, nahm sodann die Schlippe eines Kalmuckrockes auf seine Beine und legte die Briefe konventionell darauf. Jetzt begann er die Adressen zu lesen; sie waren alle in derselben akkuraten, klaren, scharf geformten Handschrift geschrieben und an »Marie Grice« gerichtet. Fast sämtliche Billetts enthielten kaum vier oder fünf Zeilen. Wenigstens fünfzehn bis zwanzig Briefe waren, mit wenigen Veränderungen, etwa in folgender Form abgefasst:
Meine teuerste Marie!
Ich bitte Dich, alles zu versuchen, um morgen Abend an dem bestimmten Platze mit mir zusammen zu treffen. Ich habe mich dieser Tage sehr nach Dir gesehnt, aber vergebens. O, meine Geliebte, wenn Du meiner so gedenkst, wie ich stets an Dich denke, so wirst Du gewiss erscheinen.
Ewig und einzig nur Dein
A. C.
Alle diese Briefchen waren in demselben Stile geschrieben, einige mit Initialbuchstaben. Sie enthielten kein Datum, sondern nur den Wochentag, an dem sie geschrieben. Auch befanden sich keine Poststempel darauf, mussten also durch Privathände befördert worden sein. Mat öffnete einen Brief nach dem andern, blickte hinein und warf ihn dann zur Seite. Dies Geschäft besorgte er ruhig und gleichsam methodisch; doch zuweilen strahlte ein befremdender Blick aus seinen Augen, der denselben einen melancholischen, meist wilden Glanz verlieh und wodurch sein ganzer Gesichtsausdruck ein wesentlich anderes Aussehen erhielt.
Andere, wenn auch etwas längere Briefe, erfuhren eine gleiche Behandlung von seiner Hand. Aus einigen fielen trockne Blätter, als er sie zur Seite warf, und aus andern kleine in Wasserfarben ausgeführte Bilder seltener Blumen. Schwierige botanische Namen, die er nicht buchstabieren, und Beschreibungen von Pflanzen, welche er nicht verstehen konnte, begegneten ihm hier und da in verschiedenen Briefen. Aber alle, ob lang oder kurz, trugen keine andere Unterschrift als die Initialen »A. C.« und in keinem einzigen war Jahr, Datum oder der Ort, an dem sie geschrieben waren, angegeben. Und dennoch warf Mr. Marksman sie alle ruhig und still zur Seite, ohne ein Wort zu sagen, nur jener düstere, blitzende Glanz erschien zuweilen in seinen Augen. Unter der sehr großen Zahl der Briefe waren es nur zwei, welche er mehr als einmal durchlas und dann unruhig darüber nachgrübelte, bevor er sie zu den andern warf.
Der eine lautete:
»Ich werde diesen Abend die getrockneten Farnkräuter und die Passionsblume für Dein Album mitbringen. Du kannst Dir nicht einbilden, meine Teuerste, wie glücklich und wie stolz ich darauf bin, Dich zu einem enthusiastischen Botaniker, wie ich bin, gemacht zu haben. Seitdem Du ein Interesse an meinem Lieblingsstudium genommen hast, ist mir das Leben so höchst schätzenswert, wie es Worte nicht zu sagen vermögen. Ich glaube, dass ich niemals wirklich wusste, wie man zarte Blätter zärtlich berührt, als eben jetzt, wenn ich sie mit dem süßen Gefühl sammle, dass sie Dir alle gezeigt und alle in Deiner Hand platziert werden.
Weißt Du, meine einzige Liebe, dass ich gestern Abend eine Alteration an Dir zu erblicken glaubte. Niemals sah ich Dich so ernsthaft. Deine Aufmerksamkeit schweifte oft irre umher und außerdem blicktest Du mich einige mal sehr befremdend an, Marie – ich meine befremdend, weil Deine Gesichtsfarbe, wie es schien, durch einen inneren Beweggrund wechselte. Als ich nach Hause ging, bildete ich mir wirklich ein – und ich glaube es noch – dass Du mir etwas zu sagen hattest und es nicht wagtest. Sicherlich, meine Liebe, Du kannst kein Geheimnis vor mir haben! – Aber wir werden uns diesen Abend treffen und dann wirst Du mir alles sagen (wirst Du nicht?) ohne Reserve. Leb wohl, meine Teuerste, bis sieben Uhr.«
Mat las den unteren Satz des Briefes zweimal langsam durch, flocht dann das Papier zwischen die Finger und strich seinen stachligen Bart damit. In den wenigen Zeilen lag ganz sicher etwas verborgen, worüber er grübelte und was ihn halb traurig und halb verwirrt machte. Was hierin auch verborgen sein mochte, er gab seine Nachforschungen auf und wendete sich mürrisch zu dem andern Briefe, welcher den übrigen gegenüber eine Ausnahme bildete, indem er eine Postmarke trug. Dies übersah er ganz, aber beim Lesen des Inhalts fand er, dass er ganz anders datiert war als die vorigen. Unter dem Wochentage befand sich das Wort: London – diesen Brief las er mit anscheinender Angst und Bangigkeit. Sein Inhalt war folgender:
»Ich schreibe, meine teuerste Geliebte, in der größten Aufregung und Verzweiflung. Alle meine Hoffnungen, welche ich fühlte und zu Dir aussprach, dass meine Abwesenheit nicht länger als einige Tage dauern, und dass ich nicht genötigt sein würde, weiter zu reisen, als von Dibbledean nach London, sind vereitelt worden. Ich bin absolut gezwungen, nach Deutschland zu reisen, und werde wahrscheinlich drei oder vier Monate abwesend sein. Du siehst, ich sage Dir das Schlimmste von Allem, Marie, weil ich Deinen hohen Geist und Deinen Mut kenne, und fühle zuversichtlich, dass Du diese unvorhergesehene Trennung standhaft ertragen wirst. Ich bin sehr erfreut, dass ich Dir mein Haar zu Deinem Bracelet gegeben und das Deinige dafür empfangen habe. Es wird für uns beide ein Trost sein, wenn wir auf unsere Erinnerungszeichen blicken.
Wenn es nur von mir abhinge, zu gehen oder nicht, so würde mich keine irdische Gewalt zu dieser Reise zwingen. Aber die Rechte und Interessen anderer sind betroffen und erfordern meine Abreise; ich muss daher gehen auf Kosten meiner Wünsche und gegen meine eigene Glückseligkeit. Noch an diesem Tage reise ich und kann mir einige Minuten stehlen, um an Dich zu schreiben. Meine Feder fliegt eilig über das Papier, ohne auch nur einen Augenblick zu stocken – ich hoffe, meine Handschrift ist leserlich; aber ich bin so aufgeregt, dass ich kaum weiß, was ich an Dich schreibe.
Wenn irgendetwas, teuerste Marie, das Gefühl meines Unglückes, Dich verlassen zu müssen, vermehren könnte, so war es die Vermutung, Dich ohne mein Wissen beleidigt zu haben, oder dass sich etwas ereignet hat, was Du mir nicht zu sagen beliebst. Seit ich vor zehn Tagen die Gemütsveränderung an Dir bemerkte, lebte ich stets in der ängstlichen Besorgnis, Du hättest etwas auf dem Herzen, was Du mir nicht anvertrauen wolltest. In der letzten Zeit schien es mir sogar, als hättest Du geweint, und wenn uns unsere Augen begegneten, blicktest Du unruhig seitwärts. Was war die Ursache? Beruhige meine Angst und sage mir in dem ersten Briefe, was sich ereignet hat. Sobald ich jenseits des Canals angekommen bin, werde ich Dir sogleich wieder einen Brief senden. Ich werde Dir öfters schreiben und bitte Dich ebenfalls darum. Liebe mich und behalte mich stets in der Erinnerung, bis ich wieder zurückkehre und, ich hoffe es, Dich nie wieder verlassen werde. —
A. C.«
Über diesen Brief dachte Mat lange nach, bevor er ihn zu den übrigen warf. Nachdem er ihn weggeschleudert hatte, blieben ihm nur noch drei Billetts, welche aber vor dem letzten geschrieben waren, zu lesen übrig. Als er hastig hineinblickt, suchte er lange im Koffer, fand aber keine Briefe mehr. Der eilig geschriebene mit der plötzlichen Anzeige der Abreise von England war der letzte in der Reihenfolge.
Nachdem er diese Entdeckung gemacht hatte, saß er eine Zeit lang regungslos und starrte gedankenlos zum Fenster hinaus. Das Gefühl eines nutzlosen Resultats nach langem Suchen schien seine Energie halb gelähmt zu haben. Er blickte einige Mal auf das Schreiben der Johanna Grice und las mechanisch die Überschrift: »Rechtfertigung meines Benehmens gegen meine Nichte«; er versuchte aber nicht, den Inhalt kennen zu lernen. Nur nach langem Zaudern und Zögern ermutigte er sich selbst mit den Worten: »Ich muss dies alles noch lesen und dann den Kram aus dem Wege räumen, bevor Zack kommt.« Er nahm den Haufen Briefe vor seinen Füßen und warf ihn mit einem Fluche in den Koffer.
Nachdem er ihn verschlossen hatte und den Strick darum binden wollte, horchte er aufmerksam, ob etwa sein junger wilder Freund kommen werde. Wie kurze Zeit er auch mit Zack verkehrt hatte, so kannte er ihn doch durch und durch, sowohl hinsichtlich seiner guten als bösen Eigenschaften. Er ahnte, dass sein sorglos wilder Stubengenosse sich sogleich als Feind benehmen und ihn ohne Zaudern verlassen würde, sobald er nur einen Wink von seinem Plane bekäme, Mr. Blyths ängstlich gehütetes Geheimnis unter der Hand und nötigenfalls sogar durch verräterische Mittel erforschen zu wollen. Mats Schlauheit hatte sich schon bei mehreren kritischen Ereignissen als eine unfehlbare Hilfsquelle bewiesen; jetzt lehrte sie ihm Vorsicht gegen Zack, um nicht von ihm verraten zu werden.
Für den Augenblick schien die Gefahr einer Störung nicht vorhanden zu sein. Er stellte den Koffer gemächlich an den gewöhnlichen Platz, nahm die Branntweinflasche vom Tische und öffnete Johanna Grices Schreiben – er horchte – es war still, man hörte nicht, dass irgendeine Person die Haustür öffnete. Bevor er zu lesen begann, trank er erst etwas Spiritus aus der Flasche. Überkam ihn eine unerklärliche Angst und Furcht schon beim bloßen Anblick des Schreibens, ohne auch nur dessen Inhalt zu kennen? Es schien dies wirklich der Fall zu sein. Seine Finger zitterten, wenn er damit auf den Zeilen des sehr eng bekritzelten Schreibens hinfuhr, das er eben entziffern wollte; er nahm noch einen zweiten Schluck, um sie zur Ruhe zu bringen. Und als er endlich anhaltend zu entziffern begann, las er einige Zeilen langsam, andere schnell und viele übersprang er; manche las er laut, etliche überblickte er nur flüchtig und wendete sich dann zu andern Sätzen der langen Erzählung; – jetzt grunzte er ärgerliche Bemerkungen über das Gelehrte, dann schlug er das Schreiben ungeduldig auf die Knie, mit wilden Ausbrüchen von Flüchen und Schwüren, welche er sich in der schrecklichen Fluch— und Schwurschule der kalifornischen Goldminen angewöhnt hatte.
Endlich begann er vollkommen regelmäßig oben zu lesen an; er setzte sich näher vors Fenster, breitete das Schreiben vor sich aus, um es nun beim spärlich einfallenden Nachmittagslicht entziffern zu können.
Neuntes Kapitel – Die Erzählung der Johanna Grice
»Ich wünsche, dass dies Schreiben erst nach meinem Tode gelesen werden mag, und nenne es absichtlich eine Rechtfertigung meines Benehmens gegen meine Nichte. Nicht weil ich dachte, mein Benehmen bedürfte irgendeiner Entschuldigung, – ausgenommen über einen Punkt, ist mein Gewissen in der Hauptsache ruhig; – sondern weil andere, unbekannt mit meinen wahren Motiven, denken möchten, meine Handlungen bedürften der Rechtfertigung, und mich gottlos verdammen würden, wenn sie nicht folgende Tatsachen zu meiner Verteidigung erführen. Sollte irgend noch ein Mitglied von meines seligen Bruders Familie leben, so bin ich überzeugt, die Stimme desselben wird sich gegen meine Tat erheben. Ich muss daher sehr wünschen, dass, wenn diese Person noch am Leben, sie einst auch befähigt sein möchte, aufmerksam zu lesen, was ich hier geschrieben habe. Denn es ist sowohl an die heftigen maliziösen Ankläger gerichtet, als an die bedächtigen unparteiischen Untersucher. Die Verwandtschaft, zu der ich —«
Hier wurde Mat, der bis dahin aufmerksam gelesen hatte, sehr ungeduldig und heftig, stieß ein paar ärgerliche Worte heraus und fuhr mit dem Finger einige Zeilen weiter herunter und kam zu folgender Stelle:
»Es war im April 1827, als der Schurke, welcher der Ruin meiner Nichte und der Ehre unserer Familie ward, zuerst nach Dibbledean kam. Er mietete das kleine, vier Zimmer enthaltende Häuschen, genannt Jays Cottage, welches eine Viertelmeile außerhalb der Stadt lag und schön ausgeschmückt ward. Er nannte sich Mr. Carr, und die wenigen Briefe, welche an ihn kamen, waren adressiert »Arthur Carr, Esq.« Er war noch ganz jung, ich glaube, kaum vier- oder fünfundzwanzig Jahr alt, hatte sanfte Manieren und ein zartes, fast weibliches Aussehen. Seine Haare trug er lang über die Schulter und seine feine Haut und Gesichtsfarbe zeigten ebenfalls etwas Weibliches. Obgleich er ein Gentleman zu sein schien, so hielt er sich dennoch fern von den respektablen Familien Dibbledeans und machte gar keine Bekanntschaften. Es besuchten ihn keine Freunde, wie ich hörte, ausgenommen ein alter Gentleman, welcher sein Vater gewesen sein mag, aber auch kaum ein- oder zweimal dagewesen ist. Nach seiner Aussage kam er nach Dibbledean, um ruhig und zurückgezogen studieren zu können; er war sehr zurückhaltend und ließ niemanden zu sich, bis an einem miserablen Tage, wo er meinen Bruder Josua und meine Nichte Marie, welche seine Bekanntschaft gemacht hatten, in seiner Wohnung empfing.
Bevor ich zu den andern Verhältnissen übergehe, muss ich erst sagen, dass Mr. Carr das war, was man einen Botaniker nennt. An allen schönen Tagen war er auch stets außer dem Hause, sammelte Pflanzenblätter, welche er, wie es schien, in einer Zinnbüchse nach Hause trug, trocknete und aufbewahrte. Er mietete einen Gärtner für das Aufsuchen der Pflanzen rund um Jays Cottage, und derselbe sagte mir einmal, dass sein Herr mehr Blumen kenne und wüsste, wie sie wüchsen, als irgendjemand. Mr. Carr machte viele kleine Gemälde und setzte Blumen und Blätter zu Mustern zusammen. Diese Dinge hielt man für sonderbare Amüsements eines jungen Mannes, aber er war ihnen so zugetan, wie andere der Jagd und dem Schießen. Er brachte mehrere Bücher mit, las in denselben, aber seine größte Zeit widmete er, wie ich hörte, der Botanik, den Blumen.
Wir hatten in jener Zeit die zwei besten Laden in Dibbledean. Josua hatte Strumpfwaren und ich ein sehr gutes Putzmachergeschäft. Beide Laden befanden sich in einem Hause und waren nur durch eine Scheidewand voneinander getrennt. Eines Tages kam Mr. Carr in Josuas Laden und wollte etwas kaufen, was mein Bruder nicht gleich zur Hand hatte; er verlangte eins der gewöhnlichen Dinge, welche das Stadtvolk allgemein kauft. Josua bat ihn, sich einige Minuten niederzusetzen, aber Mr. Carr blickte, da die Tür des Ladens und der Zimmer geöffnet war, in den Garten, den er durch die Fenster sehen konnte, und sagte, dass er gern einen Gang darin machen wollte, um die Blumen zu sehen, während dessen würde wohl das Gewünschte für ihn ankommen. Josua war ganz außerordentlich hoch erfreut, dass ein Gentleman, welcher zugleich Botaniker war, von seinem Garten Notiz nahm; er führte den Herrn hinein und ging dann ins Warenhaus, um das Begehrte zu suchen.
Meine Nichte Marie arbeitete mit andern jungen Frauenzimmern in meiner Abteilung des Hauses. Das Arbeitszimmer lag nach der Gartenseite. Meine Nichte musste Mr. Carr von den Fenstern aus gesehen haben und schlüpfte, da ich eben nicht anwesend war, die Treppen hinab in den Garten, um den fremden Gentleman zu sehen und mit ihm bekannt zu werden. Als ich später in das Arbeitszimmer kam und sie nicht dort fand, blickte ich durchs Fenster und sah sie, Josua und Mr. Carr zusammen an dem Grasplatz stehen. Der fremde Gentleman hatte eine Blume in der Hand und schien recht intim und zärtlich mit ihr zu sprechen. Ich rief zu ihr hinunter, sie solle sogleich an ihre Arbeit heraufkommen. Aber sie blickte in ihrer kecken, unverschämten Weise lächelnd zu mir herauf und sagte: »Vater hat gesagt, ich solle hier bleiben, um zu lernen, was dieser Gentleman mir über mein Geranium zu lehren so gütig ist.« Ich konnte in Gegenwart des Fremden weiter nichts sagen. Nachdem er fort war, kam sie triumphierend, singend und lachend herauf, nicht wie ein junges sittsames Mädchen, sondern wie eine tolle Schauspielerin. Ich hielt alle ihre Neckereien ruhig aus, ging aber noch an demselben Tage zu meinem Bruder Josua hinunter, redete sehr ernst mit ihm und warnte ihn, seine Tochter strenger zu halten und ihr nicht ihre eigenen Wege gehen zu lassen; auch erbot ich mich, eine strenge Hand über sie zu halten, wenn er mich darin passend unterstützen wolle. Aber er wies mich sorglos ab und erging sich in scherzenden Worten, die er hernach sehr bitter bereuen musste.
Josua war ein guter, religiöser und respektabler Mann, aber sein Unglück bestand darin, dass er zu leichtsinnig und zu stolz auf seine Tochter war. Nachdem er seine Frau, seinen ältesten Sohn und eine Tochter durch den Tod verloren hatte, ward er noch zärtlicher gegen Marie und vermochte ihr nicht das Geringste abzuschlagen. Ein anderes Kind seiner Familie —«
Hier verlor Mat die Geduld wieder, murmelte ärgerlich für sich selbst und übersprang dann abermals mehrere Zeilen.
»Ich habe schon gesagt, dass sie auf ihr hübsches Aussehen eitel, dabei keck und leichtsinnig war, und muss noch hinzufügen, sorglos, lebhaft und leidenschaftlich. Sie hatte ihre geheimen Wege und niemand sah scharf genug hin, dies zu bemerken als ich. Wenn ich ihr strafende Vorstellungen über ihr Benehmen machte und ihrem Vater bewies, dass ich Recht hatte, so wusste sie ihn stets so schmeichelnd zu bearbeiten, dass er ihr vergab. Sie wusste jedermann gegen mich einzunehmen, und obgleich ich in dem Verhältnis einer Mutter zu ihr stand, so hatte sie dennoch nicht den geringsten Respekt vor mir, bezeigte mir niemals Dankbarkeit, stand stets in Fehde gegen mich und beleidigte mich bei jeder Gelegenheit. Anfangs benahm sie sich bezüglich Mr. Carr sehr verschlossen gegen mich. Es schmeichelte ihrem Stolz, von einem Gentleman und Kunden des Ladens beachtet und bewundert zu werden, als wäre sie eine geborene Lady. Noch an demselben Abend, zur Teezeit, machte sie vor meinen eigenen Augen die Wirkung des Rates, den ich ihrem Vater gegeben, zunichte. Sie schaukelte sich auf seinen Knien, küsste ihn, band ihm die Halsbinde um und ab, steckte ihm Blumen in ein Knopfloch und benahm sich mehr wie ein Kind als wie ein erwachsenes Frauenzimmer. Sie schmeichelte und liebkoste ihm das Versprechen ab, nächsten Sonntag mit ihr zu Mr. Carr zu gehen, um seinen Garten zu sehen; es schien mir, als ob der Gentleman sie eingeladen hatte, um seine Blumen in Augenschein zu nehmen. Als ich es hörte, bot ich alle meine Kräfte auf, um meinen Bruder dahin zu bringen, dass er die Einladung ablehne, und tadelte ihn, dass er nähere Bekanntschaft mit dem Fremdling machen wolle; aber alles, was ich sagte, war nutzlos.Sie wusste stets alles besser wie ich, und wenn ich redete, lachte sie keck und beleidigte mich mit ihren leichtsinnigen Antworten. Ihr Vater wunderte sich über mich, dass ich mich nicht über ihren hohen Geist erfreuen könne. Ich schüttelte mein Haupt und war still. Armer Mann! Er lebte und sah es noch, wohin ihr hoher Geist sie geführt hat.
Am nächsten Sonntag nach der Kirche gingen sie zu Mr. Carr. Obgleich auf diese Art meinem Rate getrotzt ward, so beschloss ich dennoch, in einer strengeren Wachsamkeit über meine Nichte fortzufahren. Ich fühlte, dass die Erhaltung des Ansehens und der Reputation der Familie allein auf mir lag, und entschied mich fest, alles Mögliche zu versuchen, um unsern guten Namen zu erhalten. Nach all den Ereignissen ist das Bewusstsein, dass ich stets das Äußerste getan habe, um diesen Entschluss auszuführen, ein wirklicher Trost für mich. Die Veranlassung zu unserer Schande liegt nicht vor meiner Tür. Ich misstraute Mr. Carr sogleich vom ersten Augenblick an und versuchte eifrig, auch die andern von meinem gerechten Verdachte zu überzeugen. Aber alles, was ich sagte und tat, half nichts gegen die schändliche Schlauheit meiner Nichte. So sehr ich sie auch bewachte und einschränkte, sie war sicher —«
Mat brach hier noch einmal in der Mitte des Satzes ab. Es war die Abendzeit herangekommen, wo man Licht anzuzünden pflegt. Der kurze Wintertag war beinah verschwunden und die herannahende Finsternis lagerte sich auf Johanna Grices Buchstaben. Als er das Licht angezündet hatte, wechselte er den Platz und begann dann mit abermaliger Überspringung einiger Zeilen weiter zu lesen.
»Die Verhältnisse waren nun so weit gekommen, dass sie, wie ich sicher fühlte, mit ihm geheime Zusammenkünfte hatte, jedoch konnte ich hier vor meinem Bruder keine überzeugenden Beweise liefern. Ich hatte keine Hilfe zur Hand, welche ich zur Besiegung dieser teuflischen Schlauheit, mit welcher man mich überlistete, anrufen konnte. Fremde Personen zur Bewachung zu nehmen, konnte ich nicht wagen, weil dadurch der Skandal in ganz Dibbledean aufgesprengt worden wäre, was ich natürlich ängstlich zu vermeiden suchte. Josuas Verblendung machte ihn gegen jede vernünftige Vorstellung taub. Er wollte durchaus keinen Verdacht in Mariens zunehmender Vorliebe für Botanik und Zimmerblumen erblicken. Er ließ ihr ihre Gemälde an Mr. Carr zum Kopieren verleihen, gerade als wären sie schon zeitlebens miteinander bekannt. Nächst dem blinden Vertrauen zu seiner Tochter, weil er sie gar zu zärtlich liebte, war sein Vertrauen in den Fremden ebenso blind, weil er sich von diesem durch seine eleganten Manieren und durch sein feines, artiges und ruhiges Benehmen gewinnen ließ, und Carr uns sehr oft seltene Blumen für unsern Garten sandte. Er wollte mir durchaus nicht erlauben, Maries Briefe zu öffnen oder ihr zu verbieten, allein spazieren zu gehen. Ja, er sagte mir einmal, dass ich nicht wüsste, wie man jungen Personen passende nachsichtige Vergünstigungen erlaube. Vergünstigungen!! Ich kannte meine Nichte und meine Pflicht für eine der anständigsten Familien besser, als ihr solche Vergünstigungen zu einer solchen Ausführung zu gestatten. Ich hielt sie unter der strengsten Hand, so gut ich konnte. Ich beratschlagte und stritt mich mit ihr, befahl ihr, teilte ihr die Zeit zu, bewachte und warnte sie, sagte ihr in den kürzesten Worten, sie solle mich nicht betrügen – weder sie noch ihr Gentleman. Ich war ehrlich und offen, sagte ihr im strengsten Tone, wie sehr ich ihren Umgang mit Mr. Carr missbillige, und ich würde denselben ganz sicher abbrechen, wenn es allein in meiner Macht läge. Ebenso einfach bemerkte ich ihr, dass, wenn sie einmal ins Unglück käme, es zu spät sein würde, ihr zu helfen. Aber sie antwortete in ihrer leichtfertigen buhlerischen Art, dass, wenn sie ins Unglück käme, es nur durch meine Einwirkung geschehen würde, und dass sie glaube, ihres Vaters Güte würde es niemals zu spät finden, ihr zu helfen. Dies war nur ein Beispiel ihrer gebräuchlichen Unverschämtheiten und Gottlosigkeiten, welche sie mir stets erwiderte.«