Kitabı oku: «Verbergen und Suchen», sayfa 31
Sechstes Kapitel – Mariens Grab
Matthias Grice war ein energischer und entschlossener Reisender; aber weder Energie noch Entschlossenheit sind mächtig genug, die unerbittlichen Gesetze der Zeit umzuändern und den speziellen Absichten der Individuen dienstbar zu machen. Obgleich Mat Rubbleford in weniger als einer Stunde nach seiner Ankunft verließ, so erreichte er dennoch nur den halben Weg bis Bangbury in der Nacht und musste dann auf einer Zwischenstation warten, um mit dem ersten Morgenzuge weiterfahren zu können. Er erreichte sein Ziel noch am Vormittage und ging sogleich zu Dawson’s Buildings.
»Mrs. Peckover ist just ausgegangen, um einen Mund voll frische Luft zu atmen, denn Mr. Randle ist diesen Morgen ein klein wenig besser. Sie wird in einer halben Stunde wieder hier sein«, sagte die Magd, welche Randles Tür öffnete.
Mat kam jetzt auf den Glauben, es sei mehr als bloßer Zufall, dass er die Mrs. Peckover nicht gleich angetroffen habe. »Ich werde in einer halben Stunde wiederkommen«, sagte er – dann fragte er, eben als die Magd die Tür zumachtet: »Welches ist der Weg zur Kirche?«
Bangburys Kirche war dicht zur Hand und der Weisung, die er empfing, war leicht zu folgen. Als er auf den Totenhof kam, sich ängstlich umblickte, um seiner Schwester Grab zu suchen, – ach! da ward es ihm so wehe ums Herz, da verdüsterte sich sein Geist zu kummervoller Schwermut.
Bangbury ist eine große Stadt, daher füllten auch zahlreiche Reihen Leichensteine den Gottesacker. In geringer Entfernung von ihm war ein Mann mit dem Ausgraben eines älteren Grabes beschäftigt; an ihm wandte sich Mat wegen Auskunft des Grabes seiner Schwester, indem er sagte, dass sie als Fremde hier vor mehr als zwanzig Jahren beerdigt worden sei. Aber der Mann war stupid und mürrisch, wollte oder konnte keinen Aufschluss geben, außer, dass es vergeblich sei, hier zu suchen, denn hier ruhten nur lauter respektable Personen aus der Stadt.
Mat ging auf die andere Seite der Kirche. Hier lagen die Gräber viel näher zusammen als auf jedem andern Platze. Es war dies die Stelle, wo die Armen beerdigt lagen, der sogenannte Armenplatz. Er ging durch dieselben, seine Augen suchten und blickten nach den Bäumen, welche den Kirchhof begrenzten. Dann suchte er nach einem Platze, wo die Gräber weniger dicht lagen, um dort mit seiner Nachforschung zu beginnen, ohne konfus zu werden. Solch einen Platz fand er in einer dumpfen, feuchten Ecke unter den Bäumen. An dieser Stelle lag das dünne Gras schmachtend auf der Erde und der Kot destillierte in Wasserpfützen; Brombeersträucher und Baumblätter verfaulten im Sumpf. Kann sie vielleicht hier begraben liegen? War dies Mariens letzter Zufluchtsort nach ihrer Flucht aus der Heimat?
Einige dieser Grabhügel waren mit modernden Grabsteinen besetzt; er fand aber nur fremde Namen auf denselben. Sich zu andern Hügeln wendend, fand er halb verwitterte Holzkreuze. Er hob ein abgefallenes Stück empor, um die unleserlich gewordene Aufschrift zu entziffern. Während dem ward er durch das Geräusch annähernder Schritte gestört. Er blickte auf und gewahrte eine alte Frau, welche sich dem Platze näherte, auf dem er stand.
Es war Mrs. Peckover selbst. Sie hatte ein Rezept für ihren kranken Bruder in die Apotheke getragen, ihm einige Kleinigkeiten eingekauft und sich nun ein paar Minuten gestohlen, um das Grab von Madonnas Mutter zu besuchen, bevor sie wieder an das Krankenbett zurückkehren wollte. Denn es waren viele, viele Jahre vergangen, seitdem Mrs. Peckover ihren Besuch auf Bangburys Totenhofe abgestattet hatte.
Sie stockte und zauderte, als sie zuerst Mats Gesicht erblickte, aber nach einigen Momenten ging sie wieder vorwärts und hielt nicht eher inne, als bis sie an demselben Grabe Mat gegenüber stand.
Er begann zuerst zu sprechen. »Wissen Sie, wessen Grab dies ist?«
»Ja, Sir«, antwortete Mrs. Peckover, ärgerlich auf das zerbrochene Kreuz blickend. »Ja, Sir, ich kenne es, und was mehr, ich weiß, dass es eine Schande für die Pfarre ist. Doppeltes Geld ist bezahlt worden, um es in einem anständigen Zustande zu erhalten, und sehen Sie nur, wie verwildert hier alles ist!«
»Ich fragte Sie, wessen Grab es ist?« wiederholte Mat ungeduldig.
»Das Grab einer armen, unglücklichen, verlassenen Kreatur, welche nach großen Erdenschmerzen zur himmlischen Ruhe gegangen ist, wenn irgendeine tief betrübte, reuige Seele dorthin gelangen kann«, erwiderte Mrs. Peckover mit schmerzlicher Wehmut.
»Verlassen? Unglücklich? Ein Frauenzimmer?« stammelte Mat zerstreut.
»Jawohl, verlassen und unglücklich«, rief Mrs. Peckover, ihn nur halb anhörend. »Sagen Sie ihr nichts Böses nach, wer Sie auch sein mögen. In meiner Gegenwart soll niemals schlecht von ihr gesprochen werden; arme Seele!«
Mat blickte plötzlich auf. »Wie ist Ihr Name?« fragte er.
»Mein Name ist Peckover, und ich schäme mich dessen nicht«, war die prompte Antwort. »Und so darf ich wohl so frei sein, nach dem Ihrigen zu fragen?«
Mat nahm das Haarbracelet aus seiner Tasche, hielt es mit der Inschrift vor ihre Augen, fixierte sie scharf und fragte: »Kennen Sie dies?«
Mrs. Peckover neigte sich vorwärts und prüfte einige Augenblicke; das Bracelet. »Gott behüte uns!« rief sie aus und starrte ihn mit bleichen Wangen vor Schreck und Erstaunen an. »Der Herr behüte uns! Wie sind Sie dazu gekommen? Und um der Barmherzigkeit willen, wer sind Sie?«
»Mein Name ist Matthias Grice«, antwortete er schnell und ernst. »Dies Bracelet gehörte meiner Schwester Marie Grice. Sie flüchtete aus der Heimat, starb und ward auf Bangburys Kirchhofe beerdigt. Wenn Sie ihr Grab kennen, so zeigen Sie’s mir – ist es dies?«
Atemlos und bestürzt stammelte Mrs. Peckover eine schwache bejahende Antwort mit der Hinzufügung, dass die Initialen »M. G.« wahrscheinlich noch auf dem abgebrochenen Stückchen Kreuze sichtbar sein müssten, das zu seinen Füßen liege. Sie versuchte dann noch einige Fragen zu stammeln, aber die Worte erstarben ihr in schwachen Ausrufungen des Erstaunens auf den Lippen. »Zu denken, mit Ihnen zusammenzutreffen! —« war alles, was sie sagen konnte, »– ihr leiblicher Bruder noch dazu! – Oh, das zu denken! – nur das zu denken!«
Mat blickte auf das welke Gras, auf die Brombeersträucher und auf den kleinen Hügel, unter dem ein unglückliches Menschenherz ruhte. Der gefährliche Glanz sprühte wieder aus seinen Augen, kalte erdfahle Blässe überzog seine Wangen und die Narben der alten Pfeilwunden begannen immer roter und röter zu brennen, als er für sich selbst flüsterte: »– Ich werde auch den Mann noch finden, Marie, der Dich hierher führte!«
»Weiß Mr. Blyth, wer Sie sind, Sir?« fragte Mrs. Peckover, zitternd und zaudernd. »Gab er Ihnen das Bracelet? – Haben Sie und er —«
Sie stockte. Mat hörte nicht auf sie. Seine Augen starrten auf das Grab; dabei redete er in flüsternder Stimme mit sich selbst.
»Ihr Bracelet ward vor mir in eines andern Mannes Bureau verborgen – ich habe es aufgefunden; ihr Kind ward vor mir in eines andern Mannes Hause verborgen – aber ich habe auch ihr Kind gefunden. Ihr Grab ward auf einem fremden Kirchhofe verborgen – ich habe es aber aufgefunden. Der Mann, welcher sie hierher gebracht hat, ist zwar jetzt noch vor mir verborgen – aber ich werde auch ihn auffinden.«
»Beliebt’s, mich einen Augenblick anzuhören?« fragte Mrs. Peckover aufgeregter als vorher. »Kennt Sie Mr. Blyth? Und die kleine Marie – oh, Sir, was Sie auch tun mögen, bitte, bitte nehmen Sie sie nicht weg, wo sie jetzt ist! Sie können das wohl nicht tun, Sir, obgleich Sie ihr leiblicher Mutterbruder sind? Sie können nicht, sicherlich? —«
Er blickte plötzlich auf zu ihr, und aus seinen grauen Augen sprühten Wut und Zorn, dabei hatten sie eine Art Schlangenglanz, dass Mrs. Peckover einige Schritte scheu zurückwich; dennoch wartete sie mit desperater Beharrlichkeit auf eine Antwort.
»Sagen Sie mir nur, Sir, dass Sie nicht beabsichtigen, Marie dort wegzunehmen, und ich will Sie dann nicht um das Geringste weiter fragen! Mr. Blyth war jedes Mal betrübt, sobald er ihren Verlust befürchtete; und ich sagte ihm stets, es würde nicht geschehen. Und jetzt – o Gott! o Gott! – jetzt könnte es sich ereignen! – Ach! Sie werden sie gewiss bei Mr. und Mrs. Blyth lassen, wollen Sie, Sir? Um Ihrer Schwester willen, lassen Sie das Kind bei der armen bettlägerigen Lady, welche so viele Jahre gleich einer Mutter für dasselbe gelebt und gesorgt hat! —Um Ihrer teurer verlorenen Schwester willen – bei der ich war, als sie starb —«
»Erzählen Sie mir etwas über sie!« sagte er mit höflicher Güte, was Mrs. Peckover gar nicht von diesem rauen Manne erwartet hatte.
»Ja, ja, alles, was Sie zu wissen wünschen. Aber ich kann nicht länger hier weilen. Mein Bruder – ach, ich habe einen Schwindel bekommen über das Unerwartete, doch er wird bald aus meinem Kopfe verschwinden – ich muss zu meinem Bruder zurück, um zu sehen, ob er noch schläft. Wenn es Ihnen beliebt, so kommen Sie mit mir; Sie warten unten im Zimmer, während ich hinaufgehe; und dann —« hier stockte sie in großer Konfusion; es schien ihr doch gewagt, einen solch finster blickenden Verwandten der Marie Grice mit in ihres Bruders Wohnung zu nehmen. »Und doch«, dachte Mr. Peckover, »kann ich sein Herz nur besänftigen, wenn ich ihm alles über seine arme unglückliche Schwester erzähle, es wird ihn geneigter machen, die kleine Marie zu lassen —«
Bei diesem Punkte wurde ihre Perplexität durch Mr. Marksman selbst abgeschnitten, welcher kurz bemerkte, dass er schon in Dawson’s Buildings gewesen sei, um sie zu sprechen. Als sie dies hörte, zauderte sie nicht länger.
»Kommen Sie mit und lassen Sie uns hier nicht länger warten. Ärgern Sie sich nicht über den schändlichen Zustand, in dem man ihr Grab hat kommen lassen«, fügte sie, um ihn zu versöhnen, hinzu, als sie sah, dass seine Augen immer noch auf die Brombeersträucher, das zerbrochene Kreuz und auf das welke Gras blickten. »Ich weiß, wohin zu gehen und zu sprechen —«
»Gehen Sie nirgends hin und sprechen Sie zu niemandem«, unterbrach er sie zu ihrem größten Erstaunen sehr streng, »alles, was hier zu tun ist, gedenke ich selbst zu tun.«
»Sie!«
»Ja, ich. Es war wenig, was ich für sie getan habe, als sie noch lebte; und es ist sehr wenig, was ich noch jetzt für sie zu tun vermag; – nur ihr Grab zu schmücken! – Das vermag ich selbst, und keine andre Hand soll mir helfen.«
So rauh dies auch gesprochen ward, so fühlte sich Mrs. Peckover dennoch hinsichtlich Madonnas Zukunft erleichtert. Der finster blickende Mann schien ihr doch nicht so hartherzig zu sein, als sie zuerst dachte. Demzufolge wagte sie auch wieder, ihn über Verschiedenes zu befragen, als sie zusammen nach Dawson’s Buildings gingen.
Er variierte sehr in der Art und Weise, wie er ihre Fragen anhörte – bei einigen antwortete er prompt und bei andern verweigerte er mürrisch jede Auskunft. Er gestand z. B. ganz willig ein, dass er ihre gegenwärtige Adresse in Bangbury von ihrer Tochter zu Rubbleford erfahren habe, verweigerte sich aber, denjenigen zu nennen, der ihm ihren Aufenthalt in Rubbleford mitgeteilt habe. Dann bekannte er wieder offen, dass weder Madonna noch Mr. Blyth wüssten, wer er eigentlich sei; sagte aber nicht, warum er sich ihnen nicht entdeckt und nicht gesagt habe, dass er der Bruder von Marie Grice sei. Ihre Frage, auf welche Art er in den Besitz des Haarbracelets gekommen, beantwortete er nur mit einem einzigen Blick, aber dieser Blick belehrte sie hinreichend, dass alles weitere Fragen danach fruchtlos sei.
Auf einer Seite der Tür in Dawson’s Buildings war Mr. Randles Laden und auf der andern ein kleines Wohnzimmer. In dieses Zimmer ward Mat geführt, während Mrs. Peckover hinauf zu ihrem kranken Bruder ging. Sie fand, dass er noch ruhig schlief, arrangierte daher nur die Betttücher zu seiner Bequemlichkeit, stellte eine Handschelle neben ihn, damit er beim Erwachen klingeln konnte, und ging dann wieder zu ihrem Gast hinunter.
Sie fand Mat auf einem Stuhle sitzend, einen Ellenbogen auf dem Tische liegend und mit der Hand das Haupt stützend. Auf der Tafel lag neben dem Bracelet auch die Haarlocke aus Johanna Holdsworths Briefe, welche er aus der Tasche geholt und wieder näher betrachtet hatte. »Ei – Gnade mir«, rief Mrs. Peckover beim Anblick derselben, »sicherlich dasselbe Haar, das in das Bracelet gearbeitet ist! Wo haben Sie das her?«
»Niemals erfahren Sie das. Wissen Sie, wessen Haar es ist? Nein! – Sie wissen’s nicht? Blicken Sie es ein wenig näher an. Der Mann, dem dies Haar gehörte, gewann ihr Vertrauen – und führte sie nach großen Herzensqualen auf den Totenhof.«
»Oh! Wer war er? Wer war er?« fragte Mrs. Peckover ärgerlich.
»Wer er war?« wiederholte Mathias streng. »Was meinen Sie mit dieser Frage?«
»Ich meine nur, dass ich niemals ein Wort über den Schurken hörte – ich kenne nicht einmal seinen Namen.«
»Sie wissen nicht?« fuhr er auf und fixierte sie sehr stark und misstrauisch mit den Augen.
»Nein, so wahr ich hier stehe, ich kenne ihn nicht. Ach! ich wusste ja nicht einmal, dass Ihre arme Schwester Grice hieß, bis Sie es mir jetzt gesagt haben.«
Als er dies hörte, nahm sein misstrauischer Blick den Ausdruck des Erstaunens an. Er nahm das Bracelet und die Locke und steckte beides in die Tasche. »Lassen Sie mich hören, wie Sie mit ihr zuerst zusammentrafen«, sagte er. »Hernach habe ich mit Ihnen einige Worte über einen andern Gegenstand zu sprechen.«
Mrs. Peckover setzte sich neben ihn und begann nun die trauervolle Geschichte zu erzählen, welche sie schon vor vielen Jahren Mr. Blyth, dem Doktor und Mrs. Joyce berichtet hatte.
Aber bei dieser Gelegenheit konnte sie die tränenreiche Geschichte nicht ununterbrochen zu Ende führen, wie damals. Denn als sie in schlichten Worten erzählte, wie sie sich am Wege niedergesetzt hatte, um das halbverhungerte Kind der verlassenen und sterbenden Marie Grice zu säugen – da ergriff Mat krampfhaft zitternd ihre Hand und drückte sie so gewaltig, dass sie laut aufschrie. Obgleich ganz beherzt, rief sie doch: »Ah! Sie verwunden mich – es schmerzt!«
Mat ließ ihre Hand fahren und wandte sich weg von ihr. Sein Atem rang sich schwer und angstvoll aus der Brust, seine Finger erfassten krampfhaft den Stuhl, als ob ein unaussprechlich tiefer Schmerz ihm an das Leben griffe. Sie erhob sich ängstlich und fragte, was ihm wehe täte; aber in dem Augenblick, als diese Worte über ihre Lippen waren, bemeisterte er sich selbst mit jener eisernen Entschlossenheit, welche kein noch so harter Schicksalsschlag zu biegen und zu brechen vermocht hatte. Er bat sie, sich wieder niederzulassen und sagte: »Seien sie nicht besorgt um mich; ich bin alt und rauherzig, habe viel gelitten in der Welt und kann mich nicht so ausweinen wie Sie. – Unbesorgt – ’s ist alles vorüber. Reden Sie weiter.«
Sie willfahrte ihm, sprach aber anfangs ein wenig zaghaft; er unterbrach sie jedoch nicht wieder, sondern hörte ihr aufmerksam zu und blickte sie fortwährend starr an.
Nur zuweilen stampfte er ein- oder zweimal auf, wie ein Mann aufstampft, wenn ihn ein unerwarteter Schmerz erfasst. Besonders schmerzlich berührten ihn die Worte, welche die sterbende Marie auf dem Totenbett gesprochen hatte; sie musste sie ihm wiederholen. An diesem Punkte der Erzählung angelangt, fügte sie nur noch wenig hinzu und zum Schluss bemerkte sie: »Ich trug große Sorge um das Kind der armen Seele, wie ich es versprochen hatte. Ich tat mein Bestes und alles, was ich vermochte, gleich einer Mutter, bis sie zehn Jahr alt wurde, dann übergab ich sie Mr. Blyth – weil dies zu ihrem Glücke war.«
Wenn es irgend noch einer Bestätigung seiner Vermutung bedurfte, dass Madonna das Kind seiner Schwester sei, so hatte er sie jetzt vollständig. Aber seine Überzeugung über diesen Punkt stand schon früher fest.
»Ich darf wohl annehmen, Sie wissen alles, was Mr. Blyth für sie getan hat?« ergänzte die gute Frau »– und brauche auch wohl den Fall nicht zu erwähnen, durch welchen sie ihr Gehör verlor? – Ich brauche Ihnen gewiss nicht zu erzählen, wie sich das Unglück ereignete, nicht wahr?«
Er schien diese Frage nicht zu beachten. Das Bild des verlassenen Mädchens, allein am Wege sitzend, während ihres Kindes natürliche Nahrung, ihre Milch, vertrocknet ist und nicht mehr fließt – abgerissen, freundlos und der Verzweiflung hingegeben – oh! Dieser unendlich qualvolle Seelenschmerz hatte seinen Geist ganz umflort. Als er wieder zu sprechen vermochte, stammelte er nur Worte der Dankbarkeit für die Hilfe, welche Mrs. Peckover der armen Marie in ihrem größten und schmerzlichsten Elend geleistet habe.
»Existiert irgendeine lebende Seele, für die Sie zu sorgen haben und der mit einer Kleinigkeit Geld gedient wäre?« fragte er mit solcher Rauheit, dass sie wirklich stutzig darüber wurde.
»Gott behüte mich!« rief sie aus, »was meinen Sie damit? Was hat das mit Ihrer armen Schwester zu tun? Oder mit Mr. Blyth oder sonst jemand?«
»Es muss getan werden!« brach Mat aus und starrte auf den Erdboden. Die in ihm aufsteigenden Gefühle großer Dankbarkeit hatten Körper und Geist in Unruhe versetzt. »Sie haben meiner unglücklichen Schwester geholfen und standen ihr bei, als keine lebende Seele ihr Hilfe und Trost gewährte. Sie war stets meines Vaters Lieblingskind – aber der Vater konnte ihr nicht helfen, als sie ein Raub der Verzweiflung ward. Und ich – war weit weg – jenseits der See und konnte ihr nichts Gutes erweisen. Aber jetzt – bin ich hier – und meine Hilfe kommt zu spät. Wenn aber irgendeiner Ihrer Freunde, ob in Ost, Süd, Nord oder West, etwas Geld bedarf, hier mein alles! Nehmen sie es und geben Sie’s ihm.« (Er warf sein Biberfell mit den Banknoten in Mrs. Peckovers Schoß.)
»Hier sind meine zwei Hände, welche die Ihrigen zu zerquetschen vermöchten, (er ging im Zimmer herum und streifte seine Ärmel auf) – mit diesen beiden Händen kann ich arbeiten, wie selten ein Mann. Geben Sie mir etwas für sich zu arbeiten, das ist alles, was ich wünsche. Geben Sie mir zu tun, was Sie wollen, es ist mir alles gleich, so lange Sie —«
»Still! Still!« unterbrach Mrs. Peckover, »machen Sie nicht solch ein schreckliches Geräusch, oder Sie werden meinen Bruder aufwecken. Und außerdem, was hat es für Nutzen, dass Sie alles umrühren, was ich für Ihre Schwester getan habe? Jedermann, welcher die arme Seele in solchem Elend gefunden hätte, würde ebenso gehandelt haben wie ich! Hier —« sie rollte ihm sein Biberfell zurück »– hier ist Ihr Geld und ich danke Ihnen für Ihr gütiges Anerbieten. Stecken Sie alles wohlverwahrt wieder in Ihre Tasche. Wir arbeiten, um unsre Köpfe über dem Wasser zu halten, Gott sei Dank! und wünschen uns nichts Besseres, als eben nur zu arbeiten. Stecken Sie es wieder in Ihre Tasche und dann werde ich so frei sein und Sie noch um Etwas fragen.«
»Um was?« inquirierte Mat und, blickte ihr ärgerlich ins Gesicht.
»Nur um dies: dass Sie versprechen, die kleine Marie nicht von Mr. Blyth zu nehmen. Bitte, versprechen Sie mir das! Wollen Sie nicht?«
»Ich habe noch nicht daran gedacht, sie wegzunehmen«, antwortete er. »Wo sollte ich sie hinbringen? Was kann ein alter einsamer Vagabund, wie ich bin, für sie tun? Wenn sie glücklich ist, wo sie jetzt weilt, – mag sie bleiben.«
»Gott segne Sie für diesen Ausspruch!« rief Mrs. Peckover eifrig, lächelte mit unaussprechlicher Erleichterung ihres Herzens und plättete ihr Kleid auf den Knien. »Ich bin befreit von meiner großen Furcht und atme wieder frei, was ich nicht mehr zu tun vermochte, seitdem mein Blick zum ersten Mal auf Sie fiel. Ah! Sie blicken rau und finster; aber Sie haben eben solche Gefühle wie andere Menschen. Fragen Sie mich jetzt über alles, was Ihnen beliebt und —«
»Für was?« unterbrach er düster. »Sie wissen doch nicht, was ich zu wissen bedarf. Ich kam hierher, nur den Mann zu finden, dem einstmals diese Locke gehörte – (er holte sie wieder aus der Tasche) – und Sie können mir hierbei doch nicht helfen. Ich glaubte es anfangs nicht, als Sie es sagten, jetzt aber glaube ich’s.«
»Wohl! ich danke Ihnen für dies Bekenntnis, obgleich Sie es höflicher sagen konnten —«
«Sein Name war Arthur Carr. Haben Sie niemals über jemand mit diesem Namen reden hören?«
»Nein, niemals – niemals bis auf diesen Augenblick.«
»Der Maler wird’s wissen«, sagte Mat mehr zu sich selbst als zu Mrs. Peckover. »Ich muss zurück und es vor allem mit dem Maler versuchen.«
»Maler?« erwiderte Mrs. Peckover. »Maler? Sicherlich meinen Sie doch nicht Mr. Blyth?«
»Ja, den meine ich.«
»Warum! Was in aller Welt denken Sie von ihm? Wie soll Mr. Blyth mehr wissen als ich? Er hat die kleine Marie vor ihrem zehnten Jahre niemals gesehen, und weiß nicht das Geringste mehr über das trauervolle Schicksal ihrer armen Mutter, als was ich ihm erzählt habe.«
Diese Worte schienen ihn ganz zu betäuben, sie kamen ihm höchst unerwartet. Er hatte niemals daran gezweifelt, dass Valentin alle Geheimnisse kenne, über welche er Aufschluss haben wollte.
Er hatte schon überlegt, auf welche Art der Maler wohl animiert und nötigenfalls gezwungen werden könnte, ihm das Wichtigste zu sagen, auf das er sich dann zu verlassen vermöchte. Und jetzt ergab sich diese eingebildete Sicherheit als die größte Täuschung, die je einen Mann treffen konnte. Welche Hilfsquelle blieb ihm nun? Zurück nach Dibbledean, um durch gesetzliche Hilfe des Mr. Tatt in Besitz der von Johanna Grice hinterlassenen Schriften zu kommen? Dies schien ihm, als ob er sich an ein gebrochenes Rohr anlehne; und doch blieb nichts weiter zu tun übrig.
»Ich werde ihn finden, wo er sich auch vor mir verborgen haben mag! Ich finde ihn dennoch«, dachte Mat, indem er noch mit mürrischer und desperater Hartnäckigkeit an seiner ersten vorgefassten Meinung festhielt, trotz der neusten widersprechenden Tatsachen.
»Aber warum quälen Sie sich noch über die Auffindung Arthur Carrs?« fuhr Mrs. Peckover fort, als sie sein perplexes niedergeschlagenes Gesicht betrachtete. »Der Unglückliche ist tot, höchstwahrscheinlich, in dieser Zeit —«
»Ich bin nicht tot!« erwiderte Mat ungestüm; »Sie sind nicht tot, und Sie und ich sind so alt als er. Sagen Sie mir nicht wieder, dass er tot sei! Ich sage er lebt! und bei Gott! ich werde mit ihm quitt werden!«
»Oh, reden Sie nicht so, tun Sie es nicht! Es ist anstößig, das von Ihnen zu hören«, sagte Mrs. Peckover, als sie vor seinem Blick so zurück bebte, wie damals an Marias Grabe. »Gesetzt, er lebt noch, warum wollen Sie mit eigenen Hände Rache nehmen, nach so vielen Jahren?«
»Die Schmerzenstränen Ihrer armen unglücklichen Schwester sind in himmlischer Seligkeit getrocknet, und das Glück ihres Kindes ist durch die besten Menschen auf der Welt begründet. Warum wollen Sie noch mit ihm quitt machen? Wenn er nicht in dieser Welt seine Strafe schon erhalten hat, so wird sie ihn sicherlich nach seinem Tode im Jenseits treffen. Reden und denken Sie nicht mehr darüber; das ist ein guter Mann, der verzeiht und vergisst. Lassen Sie uns freundschaftlich und vergnügt zusammen sein, um Mariens willen. Sagen Sie mir, wo Sie so viele Jahre gelebt haben, und warum Sie früher nicht einmal hierher gekommen sind? Das ist’s, was ich ganz besonders zu wissen wünsche. Kommen Sie und erzählen Sie mir’s. —«
Sie sagte das in einem solch liebevollen Tone, womit sie ein widerspenstiges Kind beruhigt und besänftigt haben würde. Ihr weiblicher Instinkt führte sie sicher, indem sie es wagte, kleine Beziehungen zu Marie einzuflechten. Dies beruhigte ihn und brachte seinen Gedankenlauf in andere, bessere und friedlichere Richtungen. »Redete sie niemals zu Ihnen über einen Bruder, der zu Schiffe auf der See sei? —« fragte er ängstlich.
»Nein, sie sprach kein Wort über ihre Verwandten und keine Silbe über Sie. Aber warum blieben Sie so lange weg? – Das ist’s, was ich zu wissen wünsche«, wiederholte Mrs. Peckover eigensinnig ihre Frage, teils aus Neugierde, teils in der Absicht, um ihn von dem gefährlichen Gedanken über Arthur Carr abzuhalten.
»Ich war stets ein verdammter Junge, ein schlechter Bursche«, sagte Mat gedankenvoll. »Ich war nicht in Ordnung zu halten, auf keine Weise. Ich lief aus der Schule – entsprang aus der Heimat – und desertierte vom Schiffe —«
»Warum? Weshalb?«
»Teils, weil ich ein verdammter Junge war, und teils in Folge eines Briefes, den ich nach einer langen Fahrt in einem Hafen Brasiliens empfing. Hier ist der Brief – aber ist nicht gut leserlich für Sie, das Papier ist beschmutzt und zerrissen, dass Sie kein Wort erkennen werden.«
»Wer schrieb ihn? Marie?«
»Mein Vater – er erzählte, was sich mit Marie ereignet hatte und sagte mir, dass ich nicht eher wieder zurückkommen sollte, bis die Verhältnisse wieder in Ordnung gebracht wären. Hier – hier unter dem großen Fettflecke steht es, was er mir sagte: Wenn Du dauernde Beschäftigung irgendwo jenseits der See finden kannst, so nimm sie an, anstatt zurückzukehren. Dann schrieb er noch – (hier auf der andern Seite, die Stelle ist zerrissen) – besser für Dich in Deinem Alter, solchen Gram und Kummer gar nicht mit anzusehen, wie wir ihn jetzt leiden und dulden müssen? – Sehen Sie? – hier steht! —«
»Ja, ja, ja, ich sehe es. Ach! der arme Mann! Er konnte Ihnen keinen bessern und weiseren Rat geben; und Sie —«
»Ich desertierte von meinem Schiffe. Der Teufel war in mir und trieb mich fort und meines Vaters Brief tat das Letzte. Ich wurde wild und fiel in Verzweiflung über den Gedanken, dass Marie jetzt unglücklich sei und sich bei meiner Rückkehr vor mir schämen würde. Als unser Schiff nach England segeln wollte, schlüpfte ich in der Nacht zuvor in ein Landboot und entkam.«
»Sie meinen doch nicht, dass Sie seit jener Zeit bis jetzt in fremden Landen gewandert haben?«
»O ja, ich tat es! Ich hatte die Überzeugung, dass ich als Deserteur erschossen werden würde, sobald ich in mein Vaterland zurückkam. Das bewog mich zum Wandern und hielt mich so lange in der Ferne. Dann kam das Trampfieber in meinen Kopf, dann hatte es ein Ende.«
»Trampfieber! Barmherzigkeit über mich! was meinen Sie damit?«
»Ich meine das: Wenn ein Mann auf seine eigne Rechnung zigeunerisch herum wandert, wie ich es tat, und trampt im Winter und Sommer trotz Hitze und Kälte durch alle Länder, – ein solches Wunderleben endet damit, dass man’s in den Kopf bekommt wie den Branntwein, nur dass dieser wieder herausgeht, jenes aber darin bleibt. Auch ich hab’s in meinen Kopf bekommen. Es ist noch drin. Das Trampfieber trieb mich durch die wildesten Länder; es wird mich wieder für lange – lange Zeit dorthin treiben. Das Trampfieber wird mich eines Tages in eine jener öden, einsamen Gegenden niederlegen – die Hand an der Büchse – und das Antlitz zum Himmel gewandt! – dann werde ich niemals wieder auferstehen – als bis die Krähen und Geier die Reste meines Leibes zu ihren Jungen empor tragen.«
»Gott behüte uns! Wie können Sie so über sich selbst in dieser Weise reden?« rief Mrs. Peckover, schaudernd über das grausige Bild, das Mats letzte Worte ausmalten. »Sie versuchen sich schlechter zu machen, als Sie sind. Sicherlich haben Sie auch einige mal Ihres Vaters und Ihrer Schwester gedacht – taten Sie’s nicht?«
»An sie gedacht? Versteht sich, hab ich es! Aber es kam eine Zeit, wo sie in meinem Kopfe ganz ausgelöscht waren – ausgelöscht wie man ein Rechenexempel auf der Schiefertafel auswischt.«
»O schämen Sie sich deshalb! Was Sie auch sonst immer vergessen mochten, – Sie durften nicht —«
»Warten Sie ein wenig. Meines Vaters Brief erzählte mir – ich zeigte Ihnen die Stelle, aber Sie können sie nicht lesen – dass er ausgehen, Marie suchen und ihr vergeben wollte. Er hatte das zweimal um mich getan, als ich weglief; ich zweifelte daher nicht, dass er’s auch um sie tun würde. Sie wird sich mit Vaters Hilfe aus ihrer Klemme reißen, just wie ich es tat – das war mein Gedanke. Und sie würde es getan haben – wenn nicht ihre eigene Verwandte gegen sie gewirkt hätte; wenn Vaters eigene Schwester nicht —«
»Hier stockte er; die Stirn runzelte sich und schreckliche Flüche entströmten seinen Lippen, als er an das schändliche Betragen der Johanna Grice dachte, wodurch Marias Unglück mit herbeigeführt und ihre Rückkehr ins Vaterhaus unmöglich gemacht wurde.«
»Jenseits! Jenseits!« unterbrach ihn Mrs. Peckover sanft. »Sprechen Sie über etwas anderes, über Vergnügteres. Lassen Sie mich hören, wie Sie wieder nach England kamen.«
»Ich kann den Zeitpunkt nicht mehr feststellen, wann Marie mir aus dem Gedächtnis schwand«, fuhr Mat fort. »Als ich dann über mein Rennen in den wilden Ländern stutzig wurde, dachte ich auch oft wieder an Marie. Es war die Zeit, merken Sie, wo ich wieder einen klaren Begriff über meine Rückkehr in die Heimat hatte. Ich hatte für sie einen Scharlachbeutel und einen Federfächer mitgebracht, da ich wusste, dass sie solchem seltsamen Spielzeug zugetan war, und glaubte sie sicher wiederzufinden. Freilich vergingen Jahre, bevor ich wieder auf den Gedanken kam, in die Heimat zu reisen. Da ich aber nach so langer Abwesenheit keinen Heller in der Tasche hatte, den ich meinem Vater hätte zeigen können, und außerdem auch noch das vollständige Aussehen eines Wilden hatte, so würde sich Marie mehr erschrocken als gefreut haben, mich wieder zu sehen. Ich will noch ein bisschen warten, sagte ich zu mir, und sehen, oh ich nicht durch anständige Arbeit etwas Geld verdienen kann, bevor ich nach Hause gehe. Ich war beinah über zehn Tagesreisen von irgendeinem Seehafen entfernt, wo, ich hoffte Beschäftigung für mich finden konnte. Ich entschloss mich, es zu versuchen, – versuchte es und bekam auf einem Schiffsbauhofe Arbeit. – Keine Ruhe. Das Trampfieber war in meinem Kopfe und in zwei Tagen war ich wieder auf und davon. Mit der Büchse auf der Schulter durchstreifte ich die wildesten Gegenden wie ein verdammter Vagabund.«
Mrs. Peckover hielt voll stummen Erstaunens ihre Hände empor. Matthias nahm hiervon keine Notiz und erzählte weiter, teils zu ihr, teils zu sich selbst sprechend.
»Es muss um jene Zeit gewesen sein, als Marie und mein Vater aus meinem Gedächtnis schwanden. Aber dennoch behielt ich stets die zwei Geschenke für sie – lange bevor ich an die Heimreise dachte; ich behielt sie – von damals bis jetzt – und kann kaum sagen, warum. Es war Gewohnheit geworden, sie mit mir herumzutragen, und ich hatte nicht das Herz, sie fallen zu lassen. Aber je älter ich ward, desto schlechter wurde mein Gedächtnis in Hinsicht Mariens und der alten Heimat. Es schien sich eine Art Nebel zwischen uns aufzutürmen. Ich konnte mich nicht mehr ihres Angesichts klar erinnern. Sie erschien mir einige mal in Träumen, als ich nach rauen Tagemärschen einsam an meinem Feuer schlief. Sie erschien mir so klar vor Dingen, dass ich vor Schreck in kaltem Schweiß erwachte und so verwirrt war, dass ich für den Augenblick nicht wusste, ob die glänzenden Sterne dort oben in meines Vaters Garten zu Dibbledean erschienen, oder über jenem einsamen Platze, viele hundert Meilen von einer menschlichen Seele entfernt. Aber das waren nur Träume. Wachend vermochte ich mir weder Vater noch Schwester deutlich vorzustellen. Je länger ich in den einsamen Wildnissen herumirrte, desto dichter wurde der Nebel in meinem Geiste, der sich zwischen mir und den Meinigen erhob. Und zuletzt ward es so dunkel – so dunkel, dass es keine Erinnerung zu lichten vermochte. Ich kreuzte endlich die See und ging in meine Heimat.«