Kitabı oku: «Blutherbst», sayfa 6

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»Aye, er ist mehr oder weniger wach. Wie das bei ihm halt so ist«, antwortete Griselda und ihr Lächeln erblasste, verschwand aber nicht völlig. »Geht wie immer. War schon besser, war schon schlechter. Der Kirchenmann soll heute Nachmittag wiederkommen. Manchmal geht es ihm danach für zwei oder drei Tage etwas besser, manchmal bringt es überhaupt nichts.«

Die grobschlächtige Frau zuckte mit den knochigen Schultern, wand sich um und ging wieder in den großen Raum im Westen. Ginevra folgte ihr ein Stück und sah, dass sie einen bauchigen Topf mit Getreidebrei von der Feuerstelle nahm, während sie den Inhalt umrührte.

»Ist mir bei dem Geschwätz doch beinahe die Lumpenmatsche angebrannt«, murmelte sie kopfschüttelnd.

Die Prinzessin biss sich auf die Zunge, um nicht zu kichern. Die Zofe befleißigte sich ohnehin eines drollig klingenden Dialektes, den sie nicht einzuordnen vermochte. Es war eine Art Kauderwelsch aus der gebräuchlichen Hochsprache und der Mundart der Ostmark, enthielt aber auch Brocken von anderen Kulturen, wie das norselunder »aye« und »nay« zum Bejahen und Verneinen. Alles in allem war es einfach amüsant ihr zuzuhören, weil ihr Mund außerdem lustige Dinge mit den Vokalen anstellte. Es war fast, als singe sie manche Worte. Eigenwillige Bezeichnungen, wie Lumpenmatsche für Haferbrei oder rückwärts Frühstücken, wenn der Prinz sich ab und an erbrach, setzten der blumigen Ausdrucksweise die Krone auf.

»Geh ruhig einen Moment zu ihm, kann nicht schaden, wenn er ein bisschen wach und abgelenkt ist. Werd gleich, wenn es abgekühlt ist, wieder versuchen, soviel wie möglich von dem Zeug hier in ihn reinzustopfen und hoffen, dass es drin bleibt. Immer eine echte Freude, mit dem Prinzen zu frühstücken«, fügte sie augenzwinkernd hinzu.

Mit zuckenden Mundwinkeln ging Ginevra hinaus, öffnete die andere Tür und schlüpfte in das halbdunkle Gemach ihres Bruders. Griselda war heute eindeutig in ihrer ganz speziellen Stimmung, einer Art grimmiger Ausgelassenheit, die sie ab und an befiel. Als ihr Blick den auf dem Bett liegenden Körper des Prinzen traf, verwehte Ginevras Anflug von guter Laune wie Nebel im Wind.

Benjamin war angekleidet, er trug Hose, Hemd und Schuhe aus dunkelblau gefärbtem Leinen. Er lag auf den sauber gefalteten Laken, die Hände über dem kaum vorhandenen Bauch zusammengelegt. Sein Kopf lag auf der Seite, das Gesicht der Tür und damit der noch unerkannten Besucherin zugewandt. Das braune Haar, einst von so strahlendem Kastanienbraun wie das ihre, war sehr kurz geschnitten worden und erschien auf seltsame Weise dünn und farblos. Seine Haut spannte sich blass und fleckig über das Gesicht und wirkte beinahe durchscheinend. Von dem etwas feisten Jungen, der gerne aß und zu Übergewicht neigte, war nichts mehr zu sehen.

Über sein Gewicht braucht sich Vater keine Sorgen mehr zu machen, dachte sie bitter. Ein dicker, kleiner Thronfolger, diese Schande wird ihm erspart bleiben.

Sie schritt leichtfüßig und lautlos über den dichten Wollteppich zum Bett hinüber. Für einen Moment schaute sie in das blasse, erschöpfte Gesicht ihres Bruders. Er würde im Oktober zwölf Jahre alt werden, sie selbst im kommenden Januar fünfzehn. Wie sie so auf ihn herabschaute, stieg die unweigerlich die klamme Frage in ihr auf, ob er diesen Geburtstag noch feiern würde. Doch natürlich sah er so schon seit vielen Wochen aus. Im Grunde schon seit den ersten Tagen, nachdem ihn die missgebildete Katze gebissen und mit irgendetwas Schrecklichem angesteckt hatte.

Van Dahlenbrugge, der Erzbischof von Sigholm, den Griselda nur den alten Kirchenmann nannte, hatte ihr erklärt, dass Benjamin nicht in akuter Gefahr sei. Stabil, und so der Herr wollte, auf dem steinigen und langen Weg der Besserung, wie er sich ausgedrückt hatte. Ginevras Meinung nach war das nichts als dummes Geschwätz. Wenn der alte Mann, dessen Können ihr wohl bekannt war, wirklich etwas über das, was mit ihrem Bruder vorging, gewusst hätte, so wäre die Sache längst vorbei gewesen. Überhaupt sah Benjamin gar nicht mehr aus wie ein Kind oder Heranwachsender. Er sah aus wie ein sehr kleiner, sehr alter Mann, obwohl seine Haut keine Falten hatte. Sein Haar war so dünn, dass es schütter zu werden schien, die Haut blass und graufleckig. Er war fast einen Kopf kleiner als sie und mochte vielleicht noch siebzig Pfund wiegen. Und selbst dieses Gewicht verdankte er nur der rigorosen Fütterung durch Griselda.

Ich stopfe soviel davon in ihn rein wie möglich, hatte die Zofe gesagt, und die Prinzessin konnte sich diesen Vorgang nur zu gut vorstellen. Benjamin hatte überhaupt keinen Appetit mehr und musste sich zu jedem Bissen zwingen. Dabei spielte es keine Rolle, um welche Art von Nahrung es sich handelte, ob um Haferbrei oder um Braten. Daher wählte man das, was für den Magen am bekömmlichsten war.

Vorsichtig nahm Ginevra auf der Bettkante Platz. Wie zerbrechlich er wirkte. Die Brust war eingefallen, die Arme und Beine zeichneten sich wie dünne Stöcke unter dem Stoff der Kleidung ab. Sie legte sanft eine Hand auf seine Stirn und fragte sich, nicht zum ersten Mal in den vergangenen Wochen, ob es nicht besser für ihn gewesen wäre, wenn man den Bischof später gerufen hätte. Ob es nicht eine Gnade dargestellt hätte, wenn er einfach in den ersten Tagen gestorben wäre.

Die Haut unter ihrer Handfläche war merkwürdig rau, aber kalt und frei von Schweiß. Kein Fieber, kein Schwitzen, im Grunde fühlte es sich so an, wie sie sich das Gefühl vorstellte, wenn man einen Leichnam berührte. Dann schlug Benjamin langsam die Augen auf. Es waren große Augen von haselnussbrauner Farbe, die früher ein weites Spektrum von Emotionen auszudrücken vermocht hatten. Oft hatte es sich dabei um Wut, Enttäuschung oder Verwirrung gehandelt, wie Ginevra in diesem Moment bewusst wurde. Doch ebenso oft war es Freude, Liebe und Dankbarkeit gewesen. Nun war sein Blick verschleiert und die Augen bewegten sich nur langsam, irrten im Halbdunkel umher, bis sie schließlich auf ihr zur Ruhe kamen. Ein schwaches Lächeln überzog das kleine, weiße Gesicht und erreichte tatsächlich auch die müden, jungen Greisenaugen.

»Guten morgen, große Schwester«, sagte er mit einer Stimme, die zu hoch war, und dazu brüchig klang wie Papier. Auch dieser Klang passte eher zu einem sehr alten Mann, als zu einem Kind. »Es ist lieb von dir, dass du mich trotzdem noch besuchen kommst.«

Sie runzelte die Stirn und nahm seine kraftlosen Hände in die ihren. Er erwiderte den Druck, aber schwach, so schrecklich schwach.

»Was meinst Du mit trotzdem, Benny, hast du etwas angestellt, vom dem Griselda mir nichts erzählt hat? Habe ich etwas verpasst?«

Sein Lächeln wurde nicht breiter, aber es verblasste auch nicht sofort wieder, wie es sonst der Fall war. Oft hatte man den Eindruck, dass Lächeln und Sprechen zugleich ihn zu sehr anstrengten.

»Ich bin inzwischen ein paar Stunden am Tag wach, auch wenn ich mich kaum bewegen kann. Zum Denken reicht es aber durchaus und mit meinem Kopf ist alles in Ordnung, obwohl ich immer so schrecklich müde bin.« Er räusperte sich kurz und schien gegen ein schmerzhaftes Husten anzukämpfen, bevor er weitersprach. »Ich könnte es verstehen, wenn du nicht mehr kommst. Oder noch seltener als jetzt. Ich glaube nicht, dass ich es ertragen könnte, dich so liegen zu sehen, Gin. Woche für Woche und Monat für Monat ohne eine Besserung.« Er suchte ihren Blick und hielt ihn gefangen. Die tiefe Resignation, die in seinen Augen lag gehörte zu einem Mann, der mindestens viermal so alt war wie er. Dass er in seiner Verzweiflung gleichzeitig eine Stärke ausstrahlte, die sie nie an ihm erlebt hatte, brach ihr fast das Herz.

»Das heißt natürlich nicht, dass ich mich nicht freue, dich zu sehen. Da es nicht besser zu werden scheint, sind deine Besuche und Griseldas Fürsorge das Einzige, über das ich mich noch freuen kann. Das heißt, wenn sie nicht gerade versucht, mir ihre Lumpenmatsche in den Hals zu schieben, bis ich beinahe kotze.«

Ginevra hatte sich gegen die Schwäche und das Leiden ihres Bruders gewappnet. Mit seiner Offenheit und dieser merkwürdigen, traurigen Reife hatte sie nicht gerechnet. Für gewöhnlich war er bei ihren Besuchen im Halbschlaf, oder schien es zumindest zu sein. Wenn sie ehrlich war, hatte sie nicht einmal gewusst, dass er so absolut klar bei Verstand war. Es war einerseits vermutlich ein gutes Zeichen, dass er nicht ständig im Fieber dahindämmerte. Andererseits erfüllte es sie mit Grauen zu erkennen, dass er sich seiner Situation so vollkommen bewusst war.

»Ich weiß«, fuhr er fort, als hätte er ihre Gedanken erraten, »dass du den frühen Tag draußen verbringst. Aber morgens bin ich meist noch schwach und irgendwie vernebelt. Deshalb habe ich oft kaum mitbekommen, dass du da warst. Gegen Nachmittag geht es mir seit ein paar Wochen für wenige Stunden etwas besser. Wenn man das so nennen kann. Schwach wie ein Baby, aber im Kopf ein bisschen ... weniger komisch.«

Er atmete tief und es war offensichtlich, wie sehr ihn das Reden anstrengte. Dennoch schwieg Ginevra und hielt nur weiter seine Hände, ohne ihn zum Schweigen aufzufordern. Zum einen wusste sie nicht, was sie auf seine Worte erwidern sollte, zum anderen spürte sie, wie wichtig es ihm war, mit ihr zu sprechen. Es verging eine ganze Weile, bis er leise weitersprach.

»Nachmittags fährt Griselda seit einiger Zeit für eine Stunde mit einem Zweispänner mit mir aus.«

Sie hob verwundert die Augenbrauen, aber er sprach schnell weiter.

»Nur langsam und nicht sehr weit. Mal bis zum Fluss, mal bis zum Waldrand im Norden. Dann stehen wir eine Weile dumm herum, damit ich etwas frische Luft bekomme und mal etwas anderes sehe als nur die Wände hier. Es war ihre Idee und es tut mir gut. Ich bin hinterher noch müder als sonst, aber ob ich nun hier vor mich hindämmere oder richtig schlafe, spielt wohl keine Rolle. Du glaubst gar nicht, wie wundervoll es sein kann, nach so langer Zeit wieder Bäume und Wiesen zu sehen.

Ich wollte Mutter fragen, ob du uns vielleicht ab und an begleiten könntest. Ich weiß ja, wie sehr du den ganzen Kram, den du nachmittags machen musst, verabscheust. Und, naja, ich dachte, meine Gesellschaft könnte weniger unerquicklich für dich sein, als das Stricken und das Tanzen. So wärst du ein bisschen mehr draußen und wir können noch etwas Zeit miteinander verbringen. Zeit, in der ich deine Nähe auch mitbekomme.

Ich würde mich wirklich sehr freuen. Ich meine, du weißt schon, im Moment geht es ganz gut, aber es weiß ja niemand wie lange ...«, er zuckte mit den Schultern und lächelte sie müde an.

Sie schluckte schwer und musste ihre ganze Selbstbeherrschung aufbringen, um die Tränen niederzukämpfen, die in ihr aufstiegen. Eine abgrundtiefe Traurigkeit ergriff sie so plötzlich, dass sich ihr Magen zusammenkrampfe. Sie drückte seine Hände etwas fester und war überrascht, wie ruhig ihre Stimme klang.

»Natürlich begleite ich euch, wenn Mutter es erlaubt. Ich wusste ja gar nicht, dass du überhaupt hinauskannst.«

Und wenn Mutter es nicht erlaubt, dann zur selben Hölle mit ihr wie mit Vater, fügte sie in Gedanken stumm hinzu.

»Nein, wie auch, nachmittags quälen sie dich ja mit dem Lernen«, sagte Benjamin. »Und morgens bin ich für gewöhnlich noch nicht ganz da. Griselda hatte angeboten, dich zu fragen. Aber ich wollte es selbst tun. Es gibt so wenig Dinge, die ich noch selbst tun kann. Es ist schön, dass ich es jetzt endlich geschafft habe. Wenn es dir wirklich nichts ausmacht, würde ich mich ehrlich freuen. Es wäre schön, ein wenig von der Zeit, die mir noch bleibt, mit dir zu verbringen.«

»Nun hör aber auf«, sagte sie sanft und jetzt war ihre Stimme nicht mehr ganz so fest wie zuvor. »Dahlenbrugge sagt, dass es dir irgendwann wieder gut gehen wird. Und selbst wenn er das schon so lange sagt, dass es schwerfällt, ihm das zu glauben, sind sich alle sicher, dass du das Schlimmste hinter dir hast.«

Im müden Blick ihres Bruders blitze eine Spur von Spott auf.

»Schlimmer als das hier wird es nicht mehr, Gin. Ich mag ja immer der Faule von uns beiden gewesen sein, aber nach drei oder vier Schritten erst einmal ein paar Atemzüge ausruhen zu müssen, ist doch zu viel des Guten. Oder eher des Schlechten. Glaub mir Schwesterchen, schlimmer als das hier, kann nichts sein, nicht einmal der Tod.

Ich möchte wieder gesund werden, wirklich. Es gibt nichts, das ich mir mehr wünschen würde. Wenn ich wieder gesund werde, lerne ich alles, zu was ich vorher keine Lust hatte. Ich werde mit dir Reiten, wenn du möchtest, und Fechten trainieren. Scheiß auf das, was unsere Eltern davon halten, wir schleichen uns einfach für eine Weile fort. Ich habe nie gewusst, was für ein Geschenk es ist, wenn man laufen und springen kann.«

Sein Blick wurde glasig und er atmete dreimal tief ein und aus.

»Ich möchte das wirklich alles wieder können, aber wenn ich morgens einfach nicht mehr aufwache, ist das auch schon besser als das hier.«

Es folgte ein Schweigen, das sich unangenehm lange hinzog. Ginevra wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Sie traute sich auch nicht zu sprechen, weil sie die Tränen spürte, die sie nicht vergießen wollte. Nicht vergießen durfte, denn wenn die Dämme jetzt brachen, gab es vielleicht kein zurück mehr. Und Schwäche war etwas, dass man sich in diesen Mauern, in der Familie des Königs, nicht leisten konnte.

»Aber wie dem auch sei«, fuhr der sichtlich erschöpfte Prinz schließlich fort, »ich freue mich wirklich, dass du uns bei den Spazierfahrten begleiten magst. Ich werde Mutter fragen, oder vielleicht lasse ich das auch von Griselda machen, das ist nicht so wichtig. Sie kommt gut mit Mutter und Melina aus, besser als du oder ich wahrscheinlich. Vielleicht können wir dann nächste Woche schon das erste Mal zusammen raus.

»Das fände ich wirklich schön«, erwiderte sie sofort und lächelte. Sie freute sich aufrichtig über diese Entwicklung, nicht nur, weil ihr dadurch unter Umständen die eine oder andere Stunde lästiger Pflicht erspart bleiben würde. Es war auch ein gutes Zeichen, dass Benjamin überhaupt wieder aufstehen konnte.

Und letztendlich hatte er völlig recht, ganz gleich, was der Erzbischof oder sonst jemand sagen mochte. Wer wusste schon, wie viel gemeinsame Zeit ihnen noch blieb? Ihr Bruder war der Einzige in der Familie, von dem sie aufrichtig behaupten konnte, dass sie ihn liebte. Sie hatten beide mehr von diesen Stunden, wenn er kräftig genug war, sich mit ihr zu unterhalten.

»Gut«, sagte er mit einem müden Lächeln, bei dem sich seine Augen halb schlossen. »Dann scher dich jetzt zu deinen Pferden und den bellenden Flohfängern. Ich muss noch lange genug wach bleiben, damit Griselda mich mit ihrer Lumpenmatsche vollstopfen kann. Das nennt sie Frühstück, weißt du? Und ich will dabei nicht einschlafen, ich habe Angst, dass sie mich dann mit einem Schlauch stopft wie eine Gans.«

Sie erwiderte sein Lächeln, nickte und erhob sich. Bevor sie ging, beugte sie sich behutsam über das Bett und gab ihm einen sanften Kuss auf die Wange. Es war das erste Mal seit über drei Jahren, dass sie das tat. Als sie die Tür leise hinter sich anlehnte, hörte sie seinen tiefen, leicht rasselnden Atem.

Griselda stand in der offenen Tür zu dem anderen Raum und sah ihr erwartungsvoll entgegen.

»Hat er es endlich geschafft, dich zu fragen?«, wollte sie wissen. »Ich hätte es schon vor zwei Wochen getan, aber er wollte es nicht. Er wollte es unbedingt selbst tun. Ich erwarte, dass er in neun von zehn Fällen tut, was ich ihm sage, was er bei Gott auch tut. Da musste ich mich in dem Fall auch mal nach seinen Wünschen richten. Ich wusste ja, wie wichtig es ihm war.«

»Ja, das hat er«, bestätigte Ginevra, »und ich habe natürlich zugestimmt. Ich weiß nicht, ob er es Mutter selbst sagen möchte oder es dir überlässt, aber das wird er dir bald sagen, glaube ich.«

»Aye«, stimmte die Frau zu, »das wird er. Es freut mich, dass du uns begleiten willst. Es bedeutet ihm wirklich sehr viel. Wenn wir da draußen sind, ist er manchmal beinahe wieder wie ein richtiger kleiner Junge. Ich meine, er kann natürlich nicht herumrennen, aber trotzdem, vom Kopf her, meine ich.«

»Ich danke dir, dass du dich so gut um ihn kümmerst«, sagte die Prinzessin.

»Nay, sowas brauchste nich«, meinte die Zofe. »Ist meine Arbeit, und die habe ich immer gern gemacht. Und nun sieh zu, dass du zu deinen Tieren kommst, sonst frühstückst du gemeinsam mit deinem Bruder. Die alte Griselda hat genug Lumpenmatsche für beide hochherrschaftlichen Sprösslinge der königlichen Familie.«

»Ich bin schon weg«, erwiderte Ginevra grinsend und machte drei Schritte auf die Tür zu. Als sie fast angekommen war, drehte sie um, war im Nu bei Griselda und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf eine knochige Wange. Dann fuhr sie herum und huschte aus der Tür, bevor die Zofe reagieren konnte.

Während sie zu den Stallungen ging, anfangs ob ihres kindischen Verhaltens mit vor Scham gerötetem Gesicht, atmete sie tief und langsam, um sich wieder zu sammeln. Noch immer spürte sie, wie ob des Besuchs bei Benjamin die Tränen hinter ihren Augen lauerten.

Dein prinzessinnenhaftes Geflenne würde niemandem weiterhelfen, also steck es dir sonst wohin und reiß dich zusammen, du dumme kleine Memme, fauchte sie sich innerlich an. Es dauerte nur einen Moment, dann hatte sie die Trauer und das Mitleid für ihren Bruder wieder weggeschoben. Die frische Luft und die Arbeit mit den Pferden würden ihr gut tun, wie es immer der Fall war. Vielleicht konnten sie nächste Woche schon ihren ersten gemeinsamen Ausflug machen, und das war etwas, auf das sie sich freute. Solche erfreulichen Dinge waren in ihrem Leben kostbar und selten. Von all den spärlichen Möglichkeiten, die sich ihr hier boten, waren Griselda und ihr Bruder mit die angenehmste Gesellschaft, die sie sich vorstellen konnte.

Der Gedanke an menschliche Gesellschaft brachte sie zwangsläufig auf die bevorstehenden Festlichkeiten. Wieder keine schöne Sache, die da auf sie zukam. Als Kind hatte sie diese Feste immer interessant, spannend und komisch gefunden. Die vielen fremden Lords und Ladys waren stets eine willkommene Abwechslung gewesen. Mit zunehmendem Alter waren allerdings zunehmende Pflichten für sie einhergegangen und ihre Faszination hatte sich schnell zunächst in Widerwillen, dann in Abscheu verwandelt. Zu einem Besuch von Markt und Gauklern war sie kaum noch gekommen. Die Lords und Ladys, einst exotisch und geheimnisvoll, waren bald nicht mehr, als ein lästiges Ärgernis, mit dem sie sich fast zwei Wochen lang auf die eine oder andere Art herumschlagen musste.

Nein, dass sie für das höfische Leben in irgendeiner Form gemacht war, konnte man wahrlich nicht behaupten. Sie hatte sich mit ihrem Schicksal und ihren Pflichten mit Müh und Not arrangiert, mehr aber auch nicht. Mit Hilfe von Kalkül und einer Entschlossenheit, die ihrem Alter weit vorausgriff, hatte sie sich ihren Platz erkämpft, gegen alle Widerstände und vor allem ihrem unbarmherzigen Vater zum Trotz. Bislang hatte das funktioniert, doch sie fragte sich, wie lange das noch der Fall sein würde. Schon in diesem Jahr mochte es so weit sein, das sich die Dinge änderten. Dass ihre Rolle über die der gastgebenden Tochter hinausging.

Sie war sich wohl bewusst, dass ihre Eltern die bedeutenden Feierlichkeiten früher oder später als Brautschau für sie nutzen würden. Wenn Benjamin nicht in diesem furchtbaren Zustand wäre, vielleicht sogar schon für ihn. Sie konnte nichts tun als zu hoffen, dass der Kelch in diesem Jahr noch einmal an ihr vorüberging. Obgleich auch das natürlich nur ein kurzer Aufschub wäre.

Es ist noch eine Weile bis zu dem dummen Fest hin, schalt sie sich, also hör auf, dich damit verrückt zu machen. Verheiraten will dich heute auch noch niemand, also konzentriere dich auf diesen Morgen, deine Pferde warten.

Sie war auf dem Weg durch den letzten langen Flur, von dem aus sie nach draußen gelangen würde. Sie lenkte ihre Gedanken auf den Wallach und die beiden Stuten und auf die Hunde. Der große braune Bloodhound von Hanston hatte letzte Woche einen Wurf Junge zur Welt gebracht, die ganz bezaubernd waren. Unförmige, flauschige Knäule aus strohfarbenem Fell.

Sie wollte nicht an ihre Zukunft denken. Ebenso wenig wie an die ihres so schrecklich kranken Bruders. Schlimmer als das hier kann es nicht werden, hatte er gesagt. Sie stellte sich vor, wie sie irgendwann an der Seite eines adligen Speichelleckers ihres Vaters lebte. Schlimmer kann es nicht werden.

Als sie hinaus in den Morgen trat, wischte sie sich abwesend mit dem Handrücken über das Gesicht. Es schien etwas zu regnen. Sie war sich sicher, dass sich keine Träne aus ihren Augen geschlichen hatte. Ganz sicher.

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