Kitabı oku: «Blutherbst», sayfa 5

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»Wenn der Wald verderbt ist«, ertönte die klare und tragende Stimme von Tasheili, »dann können es auch seine Geschöpfe sein. Ebenso wie sein Geist oder sein Wille. Nichts ist vor diesem Übel gefeit, selbst die alte Magie nicht.«

Feragen kam beim Klang ihrer Stimme aus dem Tritt und blieb stehen. Erneut drehte er sich um. Hinter ihm war die Dryade bei den Worten der Hirtin zum Leben erwacht. Sie hob ihre Wurzelbeine aus dem Waldboden und machte einen erschreckend raschen Schritt in die Richtung des einsamen Waldläufers vor ihr. Ihre lange, schmale Gestalt trat mit einer fließenden, kraftvollen Bewegung vor und eine halbe Sekunde darauf traf einer ihrer Arme den Mann mit einer spielerisch wirkenden Geste im Rücken. Er flog wie ein Blatt im Wind zur Seite, prallte ein Dutzend Schritte weiter gegen den Stamm einer Silberbuche und blieb reglos liegen.

»Schießt«, schrie Lendir, riss den Bogen hoch und folgte seinem eigenen Befehl. Während er den nächsten Pfeil auflegte, warf er einen schnellen Blick über die Schulter.

»Thei, fort von hier, nimm die Schwangeren und flieh.«

Zahllose Pfeile schlugen in schnellem Stakkato in den knorrigen Körper der Dryade. Die meisten von ihnen prallten ab oder zerbrachen. Selbst die wenigen, die in der rindenartigen Haut des Baumgeistes steckenblieben, waren scheinbar völlig wirkungslos.

Die Hirtin machte einen Schritt zur Seite und schüttelte den Kopf.

»Sie hat mich gehört«, sagte sie ruhig und hob die Hände.

Lendir sah, wie die Luft vor ihren Handflächen auf die Art zu flimmern begann, wie sie es über einem Feuer tat. Ein matter, orangefarbener Glanz erfüllte die Luft vor ihrem Körper. Noch immer schlugen Pfeile in den Körper der Dryade. Im Sekundentakt trafen die tödlichen Geschosse mit einer Präzision, die von der jahrzehntelangen Übung der Schützen zeugte. Es wirkte, als wenn ein paar Kinder einen Baum mit Kieselsteinen bewarfen.

Lendir ließ den Bogen fallen und zog seine beiden Klingen, während die Dryade auf die Hirtin zukam. Die Bewegungen des Geschöpfes, ein wiegendes Gleiten, als berühre es nicht einmal den Waldboden, ließen ihn schaudern. Als es nur noch zwei seiner langen Schritte von Tasheili entfernt war, sprang er vor. Er schlug mit der längeren der Waffen zu, wobei er sein Körpergewicht hinter den Schlag legte. Der Treffer erschütterte seinen Arm bis zur Schulter hinauf, doch er ignorierte den Schmerz und glitt ansatzlos in eine Hechtrolle. Um Haaresbreite entkam er dem zischenden Hieb eines Wurzelarmes, und entging damit dem Schicksal, zerschmettert zu werden. Sein eigener Konter, der einem erwachsenen Mann eine Gliedmaße abgetrennt hätte, prallte ebenso wirkungslos ab, wie zuvor die Pfeile der Waldläufer. Er kam auf die Beine und griff erneut an, doch die Dryade wischte ihn mit dem anderen Arm beiseite wie ein lästiges Insekt.

Er spürte, wie der verdrehte, knorrige Arm des Baumgeistes ihn traf, ein Gefühl, als wenn ein Riese ihn mit einer gewaltigen Weidenkeule geschlagen hätte. Verzweifelt versuchte er, dem Schlag etwas von seiner Wucht zu nehmen, indem er sein Gewicht verlagerte. Trotzdem brachen einige Rippen wie dünne Äste und die Schulter wurde aus der Pfanne gestoßen, als er aufschlug.

Der Aufprall auf dem Waldboden presste ihm die Luft aus den Lungen und seine Sicht wurde für einen Moment dunkel und verschwommen. Er richtete sich dennoch langsam auf, kam in eine sitzende Position und wurde von einer Schmerzwelle überrollt, während er noch gegen Übelkeit und Schwindel kämpfte. Der linke Arm war ein nutzloses Anhängsel seines Körpers geworden, jeder Atemzug ein Dolch in der Brust. Er konnte nichts tun, als dazusitzen und gegen die Schwärze anzukämpfen, die sich von allen Seiten in sein Sichtfeld zu schieben versuchte.

Die Dryade hatte mit ihren langen, weidenartigen Armen zwei weitere Männer niedergestreckt, die sich ihr in den Weg gestellt hatten, um die Hirtin zu schützen. Es wurde nicht mehr geschossen, doch floh auch niemand. Zu gebannt waren die Anwesenden von dem Anblick der uralten Inkarnation des Geistes des Mutterwaldes. Diese stand jetzt direkt vor Tasheili und hielt beim Klang ihrer Stimme erneut inne. Knarrend bog sich der Wurzelhals, als sich der Kopf dem Boden näherte, um den Blick auf die zierliche Silvalum zu senken. Vor der Frau waberte eine bernsteinfarbene, flimmernde Blase, ein Schild aus reinster Waldmagie.

»Halte ein, alte Schwester«, intonierte Tasheili, »um deiner Kinder willen beschwöre ich dich.«

Sie hatte die Hände jetzt in der Höhe ihres Bauches erhoben, wo ihr ungeborenes Kind schlief. Die Handflächen noch immer nach außen gewandt, stand sie aufrecht da, den Kopf weit im Nacken, um in das Ungesicht der Dryade blicken zu können.

»Wir sind die Kinder des Waldes, alte Schwester, wie wir es immer waren. Um unseres Schwures und unseres Blutes willen ...«

Einer der Weidenarme glitt mit einer fast zärtlichen Bewegung nach vorne und in den Bauch der Silvalum. Er drang ohne jeden Widerstand durch den nutzlosen Schild und dann weiter nach oben in das Fleisch der Hirtin. Er hob den zarten Körper vom Boden, als wäre er ein Sack voller Federn.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Tasheili von dem Weidenarm an ihrem Leib hinab wieder und zurück. Ihr Gesicht war eine Fratze aus Unglauben und Grauen. Das knorrige Ding stecke tief in ihren Rippen und was immer in ihrem Bauch gelebt hatte, musste zerquetscht worden sein wie ein Insekt. Langsam aber unerbittlich hob sie sich weiter vom Boden. Sie richtete den brechenden Blick ein letztes Mal in das schreckliche Antlitz des Baumgeistes. Das war leicht, weil sie sich jetzt auf gleicher Höhe befand. Die Hirtin öffnete den Mund, doch es drang nichts daraus hervor als ein gutturales Gurgeln und ein Schwall dunklen Blutes.

Für einen Augenblick war es bis auf das leise Knarren des wiegenden Körpers der Dryade völlig still. Dann schleuderte sie die Sterbende achtlos fort. Ein Stimmengewirr erscholl und Lendir sah in der ihn zunehmend umfangenen Dunkelheit, wie die Silvalum auseinander stoben.

Zwei Frauen und ein Mann griffen die Dryade mit ihren Klingen an, die Gesichter in Wut und Wahnsinn verzerrt. Sie wurden geschlachtet wie Vieh. Andere ergriffen blind die Flucht und rannten, so schnell sie die Beine trugen, in den Wald. Hier und da entstand kurz ein Gerangel, dann flogen wieder Pfeile durch die Luft. Viele schossen jetzt vorbei, doch auch die wenigen Treffer blieben so wirkungslos wie zuvor.

Mühsam drehte Lendir seinen Körper, um sich weiter umzusehen. Er hoffte inständig, Uniro nicht in der Nähe des Baumgeistes zu finden. So schön es auch gewesen wäre, sie noch einmal zu sehen, bevor er starb. Doch sie jetzt zu sehen würde bedeuten, dass sie dem mordenden Alptraum, der soeben ihre letzte Hoffnung zerstört hatte, viel zu nahe war. Auch wollte er nicht erleben, wie sie in diesem Chaos niedergetrampelt wurde. Obwohl all das natürlich im Grunde keine Rolle mehr spielte.

Mit, wie es ihm vorkam, unendlicher Langsamkeit drehte er seinen Kopf erneut in die Richtung, in dem sich die Dryade befand. Verwirrt sah er, wie der dünne Weidenkörper an Geschwindigkeit aufnahm und loslief. Drei dieser furchtbaren, gleitenden Schritte, und das Geschöpf schien zu rennen. Drei weitere, und es bewegte sich so schnell, dass es vor den Augen verschwamm. Dann ertönte wieder dieser langgezogen, wimmernde Schrei, als es mit voller Wucht eine Silberbuche traf. Der Körper verschmolz mit der dunklen, silberdurchwobenen Rinde, als würde er in eine Flüssigkeit eintauchen.

Für einen Wimpernschlag sah Lendir, wie die zerfließende Gestalt der Dryade unförmig in die Buche hineinwaberte, dann war die Kreatur verschwunden. Ein flimmernder Umriss sprang aus der anderen Seite des Stammes heraus und flitze rasend schnell zum nächsten Baum. Dort wiederholte sich das Schauspiel, nur dass die Dryade jetzt nur noch als Schatten zu erkennen war. Sie flimmerte blitzartig von Baum zu Baum. Es dauerte nur einen kurzen Moment, bis sie Lendirs brechendem Blick entschwunden war.

Während die Schmerzen in langsamen, krampfartigen Wellen über ihn herfielen, fragte er sich, ob die anderen sich nun wieder sammeln würden. Erschöpft sank er auf den Waldboden und erzitterte unter dem nächsten Krampf. Er sah in der Ferne den verdrehten und verstümmelten Körper von Tasheili. Was von ihr übrig war, hing auf einem der bodennahen Äste einer Silbereiche, in die der Baumgeist sie geworfen hatte. Die Hirtin war nur noch blutiges Fleisch, ausgeweidet wie ein Stück Waid.

Selbst wenn es ihr gelungen sein sollte, ihre schrecklichen Jäger abzuhängen, war sie doch die einzige Hoffnung gewesen, einen Weg aus dem Wald und in eine neue Zukunft zu finden. Dahin, zerschmettert, verloren. Die Schwärze wurde dichter und Lendir spürte, wie die Bewusstlosigkeit mit jeder Welle der Pein näher rückte.

Ein Teil von ihm wollte dagegen ankämpfen, wollte seine Uniro noch einmal wiedersehen, sie in den Armen halten. Wollte kämpfen und dafür Sorgen, dass all ihre Verluste nicht umsonst waren.

Der andere sah immer und immer wieder das Bild vor sich, wie der knorrige Arm der Dryade beinahe zärtlich in den Körper der Hirtin geglitten und ihr das ungeborene Kind am eigenen Brustkorb zerquetscht hatte.

Dieser Teil wollte einfach nur in die Dunkelheit gleiten und vergessen. Dieser Teil siegte.

5. Kapitel 4

Sighold

Die Flure des nördlichen Teils des Schlosses waren zu dieser frühen Morgenstunde menschenleer. Die Dienerschaft war natürlich bereits seit Längerem auf den Beinen und ging ihrer Arbeit nach. Herren und Gäste hingegen, die sich jederzeit frei bewegen konnten, schliefen zumeist noch. Oder aber sie waren damit beschäftigt, sich auf das Frühstück vorzubereiten.

Ginevra hatte diese ersten Stunden des Tages schon in Kindertagen für sich entdeckt. Im Laufe der Zeit war zwischen der Kronprinzessin und ihren Eltern eine Art stilles Einvernehmen entstanden. Sie ging früh zu Bett und kam den lästigen Pflichten ihres Standes ohne zu murren nach. Damit erkaufte sie sich freie Stunden wie diese. Und darüber hinaus ein Maß an Freiheit, von dem andere Kinder der Aristokratie des Reiches nur träumen konnten.

Kurz nach ihrem zehnten Geburtstag, also seit inzwischen über vier Jahren, hatte sie mit diesem außergewöhnlichen Tagesablauf begonnen. Sie holte sich ihr Frühstück zumeist in der Küche oder ließ es ganz ausfallen. Oft genügten ihr auch ein oder zwei Äpfel. Außerdem war es ihr gestattet, an Tagen, an denen sie sonst keine Verpflichtungen hatte, mit dem Mittagessen zu beginnen, wann sie mochte. Gemeinsame Mahlzeiten der gesamten königlichen Familie gehörten ohnehin in eine Zeit, an die sie sich kaum noch erinnern konnte.

Wenn sie das Schloss am frühen Morgen hinter sich gelassen hatte, begannen die Stunden, die für sie die allerkostbarsten waren und die jenes eine Gut darstellten, für das es sich für sie zu leben lohnte. Sie beeilte sich an jedem Tag, so schnell wie möglich zu den Stallungen zu kommen. Zeit mit den Pferden und Hunden des Hofs zu verbringen, war seit jeher die liebste Beschäftigung des kleinen Wildfangs, der sie schon mit sechs Jahren gewesen war.

Sie liebte jeden Aspekt daran, den Umgang mit den Tieren und das Reiten selbst, wie auch das Gefühl von echter Freiheit, dass es ihr vermittelte. Die war freilich eine Illusion, was nichts daran änderte, dass sie die einzige Freiheit war, die sie höchstwahrscheinlich je erfahren würde. Sie hatte sich eine eigene kleine Welt innerhalb ihres goldenen Käfigs erkämpft und tat, was immer nötig war, um sie sich so lange wie möglich zu erhalten. Sogar an der Jagd hatte sie im letzten Jahr einige Male teilnehmen dürfen. Sie erlegte in der vergangenen Saison zwei Rehe und einmal sogar ein Wildschwein. Es war ihr nur darum gegangen herauszufinden, ob sie es fertigbrachte zu töten. Das tat sie, aber es bereitete ihr ebenso wenig Freude wie die Gesellschaft ihres gefühlskalten Vaters und seiner herzöglichen Stiefellecker. Denn nicht mehr als das waren die Vertrauten und die sogenannten Freunde des Königs in ihren Augen. Das galt ebenfalls für den Großteil vom Rest der Aristokratie des Reiches.

Sie kannte ihren Vater gut genug, um zu wissen, dass ein solcher Mann keine Freunde hatte. Und ebenso kannte sie, trotz ihrer Jugend, die Menschen gut genug, um zu wissen, dass jeder einen solchen Mann fürchtete. Das galt umsomehr, wenn er über die Macht eines Königs verfügte. Sie hatte die Adligen in der Nähe ihres Vaters auf den Jagdgesellschaften sehr aufmerksam beobachtet, wie sie es stets mit allem in ihrer Umgebung tat. Es gab das übliche bunte und unappetitliche Treiben auf der Jagd, das Fressen, Saufen und Prahlen. Kurzum genau das, worum es den feisten Schweinen ohnehin in erster Linie ging, gewiss. Ginevra entging jedoch nicht, dass selbst die Herzöge und ihre Söhne sich in der Nähe ihres Vaters nie wirklich gehen ließen oder entspannten. Dabei neigte der König weder zum Jähzorn, noch konnte man ihn als über die Maßen ungerechten Mann bezeichnen. Aber kalt war er, verschlossen und damit doch nie ganz berechenbar.

Sie selbst hatte früh gelernt ihn ebenso zu meiden, wie sie es inzwischen bei den meisten anderen Menschen von Stande tat. Sie hielt sich von all den Hofschranzen fern, so gut sie es vermochte. Überhaupt konnte sie sich nur dann entspannen, wenn sie entweder mit den Tieren allein war, oder sich in Gesellschaft einiger besonderer Diener befand. Der alte Stallmeister zählte dazu, ebenso der betagte Hufschmied. Diese Männer verkörperten für sie ein Leben, das ihr verwehrt war. Ein Leben mit einem Inhalt, einer Aufgabe und vielleicht so etwas wie einem Sinn. Das Treiben bei Hofe war ihr schon immer zutiefst zuwider gewesen. Die Arbeit mit den Pferden hingegen erfüllte sie, das Erkennen des Charakters eines Tieres und das selbstlose Erfüllen seiner Bedürfnisse. Oder eine so simple Freude wie das Bogenschießen. Ihr lag nichts an der Jagd an sich, aber der Umgang mit dem Bogen faszinierte sie. Die Mischung aus Kraft und Konzentration, die man benötigte, um mit einer ordentlichen Waffe ein weit entferntes Ziel zu treffen, war ebenso fordernd wie befriedigend. Diese einfachen, greifbaren und echten Dinge liebte sie über alles. Wenn sie zumindest ein paar Stunden am Tag auf diese Weise verbrachte, fühlte sie sich geerdet und halbwegs geborgen. Sie wusste nicht, wie sie die gekünstelte Welt der Aristokratie ohne einen solchen Ausgleich ertragen sollte.

Einmal, als ihr Vater erfahren hatte, dass sie selbst die Ställe ausmistete, hatte er abfällig bemerkt, dass sie sogar lernen würde, wie man den Tieren die Hufe beschlüge, wenn man sie gewähren ließe. Sie hatte ihm nur dieses dünne, eisige Lächeln geschenkt, das damals noch allein ihm vorbehalten war, und geflissentlich den Mund gehalten.

Wenn es nach ihr ginge, würde sie sogar lernen, wie man die Hufeisen schmiedete. Sie hätte auch gerne richtig zu fechten gelernt, ein wenig konnte sie es schon, aber das hatten beide Elternteile abgelehnt. Und wenn selbst Mutter gegen sie stand, lagen die Dinge denkbar schlecht. Sie wusste, dass die Damen, wenn man sie so nennen wollte, bei den Nordländern aus dem fernen Norselund ebenso selbstverständlich das Kämpfen lernten wie das Lesen und Schreiben. So hieß es jedenfalls. Das war jedoch kaum als Argument geeignet, denn jede Diskussion mit ihrem Vater war ohnehin eine zu viel, und die Belange der Insel in Nordmeer stellten immer ein schlechtes Gesprächsthema dar.

Sie beschränkte sich also darauf, ihr Können mit dem Bogen zu vergrößern, übte mit dem Jagdspeer und versorgte die Tiere. Sie hatte eine Zeit lang in Erwägung gezogen, heimlich jemanden zu bezahlen, damit er sie im Fechten unterrichtete, dieses Vorhaben aber bald wieder aufgegeben. Zu groß war die Gefahr, dass eine solche Sache aufflog. Und zu schrecklich die Folgen für den Unglücklichen, der ihr Zudiensten gewesen wäre.

Während die Nacht gerade begann, dem Morgen zu weichen, durchquerte sie mit schnellen Schritten die Flure und Gänge. Sie war auf dem Weg zu den Stallungen und trug ihre dafür übliche Aufmachung. Hohe Stiefel aus dunklem, abgenutzten Leder, enge Leinenhosen, ein ebensolches Hemd und eine dicke Wolljacke. Ihr lockiges, kastanienbraunes Haar hatte sie im Nacken mit einem Lederband zusammengebunden. Sie war groß für ihr Alter, schlank und trainiert, eine erblühende Schönheit, die umso natürlicher wirkte, da sie keinen Wert auf ihr Aussehen legte.

Im Gegenteil hätte sie gerne auf dieses Aufblühen ihrer Weiblichkeit verzichtet, und das aus mehr als einem Grund. Zum einen war da die widerliche Lästigkeit, die in ihren Augen die monatlichen Blutungen darstellten. Besorgniserregender aber gestalteten sich die Implikationen, die mit ihnen einhergingen. Eine Frau ihres Standes würde sich unter den gegebenen Umständen in Kürze mit Werbung und Heirat beschäftigen müssen. Oder vielmehr, und das war das eigentlich Schreckliche daran, fiel diese Aufgabe ihren Eltern zu. Ihr selbst blieb nicht viel mehr, als deren Entscheidungen zu ertragen. Wie gerne hätte sie auf die Rundungen an Hüfte und Brust verzichtet, auf die andere Mädchen ihres Alters so sehnlich warteten. Nicht nur, dass sie kein Interesse an dummen jungen Männern hatte. Dabei spielte es keine Rolle, ob es um einen dreckigen Stallburschen handelte, oder um die geleckten Bücklinge aus den Familien der herzöglichen Vasallen, deren Avancen sie zweifellos bald über sich würde ergehen lassen müssen.

Vor allem sah sie sich durch eine bevorstehende Heirat der Möglichkeit beraubt, ihr Leben so fortzusetzen, wie sie es gewohnt war. Die Balance zwischen Pflicht und Freiheit, die ihr Leben bestimmte und die sie so hart erkämpft hatte, würde zerstört werden. Sie empfand panische Angst bei dem Gedanken, ihre Tage nur noch mit Handarbeiten und Tanz zu verbringen. Besonders Letzteren verabscheute sie mit Inbrunst. Sie wollte ihren Körper spüren und sinnvoll benutzen, und nicht zu Musik, die sie lächerlich fand, herumhopsen wie eine Närrin. Ganz davon abgesehen, dass sie genau wusste, dass diese Übung nur zu bald irgendwelchen rotgesichtigen Jünglingen dazu dienen würde, ihren erblühenden Körper zu betatschen.

Sie bewegte sich rasch, sicher und fast lautlos über den getäfelten Boden. Bevor sie sich die Freiheit, sich auf dem Land um das Schloss herum frei zu bewegen erkämpft hatte, waren die Gänge und Räume des Bauwerkes selbst die Welt gewesen, die sie erkundet hatte. Sie kannte jede Tür, jeden Raum und jeden Flur in Sighold. Ganz allein war sie in den frühen Jahren ihrer Kindheit herumgestreunt und hatte jeden noch so entlegenen Winkel ausgekundschaftet. Mit den anderen Mädchen war es im Grunde das gleiche Problem wie mit den Jungen. Entweder man hatte es mit duckmäuserischen, verängstigen Bediensteten zu tun, oder mit verwöhnten, affektierten Höflingen. Letztere pflegten sich für eben jene Dinge zu interessieren, die Ginevra verabscheute und die sie langweilten. Die Königin hatte immer geglaubt, dass ihre Tochter kaum Freundinnen habe. Die Prinzessin hatte es wohlweißlich verstanden, sie in diesem Glauben zu lassen. Die Wahrheit war, dass sie keine Einzige hatte. Sie kannte es nicht anders und vermisste so auch nichts.

Die einzige menschliche Wärme, die sie kannte, bestand in der tiefen Sympathie der betagten Stallmeister, Hufschmiede und Falkner. Die alten Männer respektierten sie für ihren liebevollen und kundigen Umgang mit den Tieren ebenso, wie für ihre Zuverlässigkeit und Disziplin. Sie selbst fand bei den einfachen, rauen Gesellen einen Hauch von Geborgenheit. Ein kümmerlicher Ersatz für die nie erfahrene väterliche Wärme, aber besser als gar keiner. Sie gab sich Mühe, nicht über solche Dinge nachzudenken, war sich aber durchaus der Tatsache bewusst, das sie ziemlich verdreht im Kopf war.

Rasch bog sie in einen Gang ein, der nur noch gelegentlich zu ihrem morgendlichen Weg gehörte. Eine Weile hatte sie diesen kurzen Umweg jeden Tag gemacht, doch nun besuchte sie die Gemächer von Benjamin nur noch einmal die Woche. Genau genommen, dachte sie schuldbewusst, ist das letzte Mal nun schon neun Tage her. Ihr Verhältnis zu ihrem kleinen Bruder war immer ein ungewöhnliches gewesen, obschon nie ein schlechtes. In der Hauptsache wurde es von ihrer eigenen Stärke und Unnachgiebigkeit geprägt. Der Prinz war ein aufgewecktes, munteres und unkompliziertes Kind. Doch er war eben ein Junge, und der versuchte irgendwann, seine Schwester zu drangsalieren. Dass sie zwei Jahre älter war, spielte dabei keine Rolle, schließlich war sie nur ein Mädchen. Zu seiner Bestürzung hatte der junge Thronfolger feststellen müssen, dass Ginevra stärker war als er und sich darüber hinaus mit einer Wildheit zur Wehr setzte, die ihm Angst machte.

Dieses Kräfteverhältnis, festgelegt als die beiden gerade sechs und acht Lenze zählten, war in den kommenden Jahren unverändert geblieben. Sie trugen ab und an ihre kleinen Kämpfe aus, körperlich wie mental, wie das bei Geschwistern eben der Fall war. Der Prinz musste jedoch schnell einsehen, dass er der älteren Schwester in allen Bereichen unterlegen war. Ein aggressiverer Geist hätte darauf vielleicht mit Zorn oder gar Hass reagiert, doch Benjamin war von tiefstem Herzen sanftmütig. Er resignierte einfach. Das tat er ohne große Bitterkeit, woran Ginevra ihren Anteil hatte.

Die Prinzessin trug zwar viel vom Eisen ihres Vaters in sich, glücklicherweise aber auch etwas von der Rationalität und Liebenswürdigkeit der Königin. Sie nutzte ihre Stärke, der sie sich sehr wohl bewusst war, nicht aus, um den kleinen Bruder zu drangsalieren, und sie zog ihn auch nicht mit seiner Unterlegenheit auf. Sie sorgte nur für klare Verhältnisse, wann immer sie es für richtig hielt. Dann jedoch mit einer Erbarmungslosigkeit, die dem König selbst zur Ehre gereicht hätte.

Auf diese Weise hatte das königliche Geschwisterpaar die ersten gemeinsamen Lebensjahre auf gesunde und zu weiten Teilen respektvolle Art miteinander verbracht. Ginevra hatte damit gerechnet, dass sich zumindest die physischen Unterschiede mit den Jahren zugunsten von Benjamin verschieben würden. Sowohl sein Geschlecht als auch das Kampftraining, das dem Prinzen im Gegensatz zu ihr zuteilwurde, mussten auf ganz natürliche Art und Weise dafür Sorgen. Irgendwann würde er größer, kräftiger oder ganz einfach geschickter im Umgang mit seinem Körper sein als sie. Sie hatte dieser Aussicht gelassen entgegensehen. Ihre Dominanz war mit den Jahren so fundamental geworden, dass sie eine solche Verschiebung der Kräfte zwischen ihnen sogar begrüßte. Auf lange Sicht konnte sie eine gesunde Ausgeglichenheit in ihr Verhältnis bringen. Das mochte dafür sorgen, dass sie auch im Erwachsenenalter gut miteinander auskamen. Das war etwas, das sie sich wünschte, denn sie liebte ihren kleinen Bruder. Ebenfalls keine Selbstverständlichkeit in den Reihen der Aristokratie.

Wie es nun aussah, würde es jedoch nie dazu kommen. Die Entwicklung des Prinzen war, gelinde gesagt, rückläufig. Während sie zu den Gemächern ging, in welchen Benjamin seit einigen Wochen lebte, wappnete sie sich gegen seinen Anblick. Sie tat das auf die gleiche Art, wie sie sich jeden Tag, nachdem ihre Zeit bei den Pferden vorbei war, gegen das wappnete, was ihr der Tag bei Hof brachte. Es war ein innerer Panzer, eine bewusste Gefühlskälte, die sie heraufbeschwören konnte, wann immer sie wollte. Sie schuf damit die Distanziertheit zu ihrem Umfeld, die alles war, was sie der Welt entgegenzusetzen hatte.

Vor einer Tür aus rötlichem, feingemaserten Holz kam sie zum Stehen. In diesem Teil des Schlosses befanden sich unter anderem die Gästequartiere. Daher hatte man hier solch edles Material verbaut. Exotisches Edelgehölz aus dem fernen Haquadelaor war nur eine der verschwenderischen Kostbarkeiten, welche in diesem Flügel die einfachen Baustoffe ersetzt hatte. Zierholz, Gold und Seide, anstatt Eiche, Eisen und Wolle. Ein Grund mehr, aus dem Ginevra diesen Teil für gewöhnlich mied. Sie zog die Schlichtheit von grobem Stein und Eisenholz dem vermeintlichen Luxus vor. Ersteres vermittelte ihr wenigstens ein Hauch von Geborgenheit aus frühen Kindertagen. Letzteres stand symbolisch für alles, was sie an ihrem Leben verabscheute.

Sie stieß die polierte, auffallend leichte Tür auf und schlüpfte in einen geräumigen, größtenteils leeren Flur. Von hier gingen drei weitere Türen ab, ebenfalls aus dem feinen, rötlich schimmernden Holz gefertigt, aus dem die Eingangstür bestand. Wunderschön anzuschauen, kaum halb so schwer wie härtere Holzarten und mehr Zierde als Schutz. Sie führten in drei große, rechteckige Räume. Hinter der Tür im Westen erstreckten sich die größten Gemächer, die zugleich Küche und Waschraum darstellten. Nach Osten lag die Kammer ihres Bruders, auf die Ginevra nun zuging. Sie warf im Vorbeigehen einen Blick auf die zu zwei Dritteln geöffnete Tür im Süden.

Dort befand sich das Zimmer der Bediensteten, die ihre Mutter eingestellt hatte. Ihre Zofe Melina hatte die Frau namens Griselda vorgeschlagen, als klargeworden war, dass der Zustand des Prinzen ihn langfristig der Pflege bedürftig machte. Seit einigen Wochen kümmerte sie sich jetzt schon um Benjamin. Sie war eine Witwe von außerhalb, laut Melina aus dem westlichen Grenzland von Stennward. Sie hatte weder Verwandte noch Bekannte in Sigholm und war erst vor Kurzem in die Stadt gekommen. Eine alleinstehende Frau mittleren Alters, die nach dem Tod ihres Mannes noch einmal irgendwo neu anfangen wollte. Die Kammerzofe der Königin hatte schnell Vertrauen zu den Fähigkeiten der Fremden gefasst und, wie sich inzwischen gezeigt hatte, damit recht behalten.

Griselda war von kleinem Wuchs, hatte aber die Statur einer zähen Feldarbeiterin, sehnig und knochig. Schultern und Hüften waren gleichermaßen ausladend und kräftig, ihr Busen hing, frühzeitig erschlafft, über einem massiven Brustkorb. Das Gesicht passte zum Rest ihrer Erscheinung. Es war breit und trotz der hohen Wangenknochen völlig reizlos. Die Nase war groß und schief, so als ob sie vor vielen Jahren gebrochen und nicht ordentlich gerichtet worden war. Überhaupt gab es an dieser Frau keine Symmetrie, weder im Antlitz noch am Körper. Sie war ganz einfach nur hässlich. Jetzt strich sie sich eine Strähne graublonden Haares aus ihrem ungeschlachten Gesicht und schenkte der Prinzessin ein breites Lächeln.

Ginevra erwiderte es unwillkürlich und hob die Hand zu einem kurzen, beinahe kindlichen Begrüßungswinken. Sie mochte die Frau, die ebenso gut vierzig wie fünfzig Jahre alt sein konnte. Sie erschien auf den ersten Blick verbraucht und verlebt, bewegte sich jedoch behände und strahlte Vitalität und Energie aus.

Die Art Frau, dachte sie im Stillen, die man noch in einem Alter auf dem Feld arbeiten sieht, in dem die feinen Damen sich beinahe schon zum Pissen tragen lassen. Die Zofe war eine einfache aber resolute Frau. Sie nahm die Aufgabe, sich um das Wohl des kranken Thronfolgers zu kümmern, ernst ohne vor der Verantwortung zurückzuschrecken. Es hatte nicht lange gedauert, bis man ihr die Obhut über Benjamin vorbehaltlos überlassen hatte. Sie sorgte dafür, dass er so viel aß, wie eben möglich war, kümmerte sich um seine Sauberkeit und ließ ihm Bewegung zukommen, soweit sein Zustand das zuließ. Auf der anderen Seite achtete sie darauf, dass er sich nicht überanstrengte und ihm kein Unbefugter zu nahe kam. Außer der Familie und dem alten Erzbischof ließ sie ohne vorherige Ankündigung niemanden in diese Räume.

Im Rahmen dieser Aufgabe hatte sie ihre absolute Unerschrockenheit bereits unter Beweis gestellt. Als der Bischof einmal verhindert war, und einen Priester als Vertretung geschickt hatte, war der Geistliche nach einigem Gezänk unverrichteter Dinge wieder abgezogen. Laut schimpfend und mit hochrotem Kopf kehrte er später mit einer schriftlichen Erlaubnis der Königin zurück. Es kam nicht oft vor, dass einem Diener Gottes von einer Kammerzofe die Tür versperrt wurde. Man munkelte, dass der Mann sogar mit körperlicher Gewalt gedroht habe, woraufhin die kleine aber kräftige Frau ihn nur auslachte. Eine Dienerin hatte den Streit offenbar belauscht. Ihr zufolge hatte die alte Zofe den Priester eingeladen sie anzufassen, damit sie ihm, so wörtlich, den Kopf in den Arsch stecken könne. Diese ebenso freche wie unflätige Unerschrockenheit war ein Wesenszug, den Ginevra bewunderte. Griselda war für gewöhnlich so höflich, dass man ihr den niederen Stand kaum anmerkte, aber sie hatte einen starken Hang zur Respektlosigkeit, mit dem sie ständig zu ringen schien.

Als sich ihre Blicke nun trafen, blitzen die verwaschenen grauen Augen der Alten fröhlich auf. Sie waren groß und wohlgeformt, wirkten alterslos und stets irgendwie verträumt. Sie sind das einzig Schöne an ihr, dachte Ginevra unwillkürlich.

»Ein kleiner Frühbesuch, bevor das Prinzesschen mit ihren Pferden herumtollen geht?«, wollte die Zofe mit einem schelmischen Grinsen wissen.

Sie hatte nicht laut gesprochen, damit niemand außerhalb ihrer Räume die flapsige Anrede hören konnte. Wie immer war ihre Stimme rau, schien beinahe belegt zu sein, und von so dunklem Klang, das sie unweigerlich sinnlich war. An dieser kleinen und hässlichen Frau wirkte diese Schlafzimmerstimme irgendwie obszön, wie ein normalgroßer Penis an einem Zwerg.

Ginevra konnte nicht anders, als das Grinsen zu erwidern. Es fühlte sich unglaublich gut an, weil sie es fast nie tat, doch wie leicht sie diese Frau um den Finger wickelte, erweckte auch immer ein gewisses Unbehagen in ihr. Hätte irgendjemand sonst in diesem Ton mit ihr gesprochen, ob Diener oder die Königin selbst, so hätte er sie sofort an den Rand eines Wutanfalls gebracht.

»Wie geht es ihm?«, wollte sie wissen, »ist er wach?«

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