Kitabı oku: «Historisches Lernen mit schriftlichen Quellen», sayfa 6
Die reflexive Auseinandersetzung mit wissenschaftlicher Methode (z. B. Quellenkritik), mit erkenntnistheoretischen Grundsätzen von Geschichte (z. B. Belegbarkeit oder Perspektivität), mit historischer Urteilsbildung und Orientierungsmöglichkeiten für die Gegenwart und Zukunft im Kontext der Quellenarbeit führen zum Erwerb von Fähigkeiten und Fertigkeiten, für welche eine Bedeutsamkeit weit über den schulischen Unterricht hinaus geltend gemacht werden kann.261 Dass diese Prozesse im Unterricht fachkundig angeleitet werden müssen, steht außer Frage.
IV.2.1 Exkurs zur Primarstufe
Bevor sich der nächste Abschnitt diesem Thema widmet, soll noch auf den Quelleneinsatz in der Primarstufe im Rahmen des Sachunterrichts eingegangen werden.
Denn was Irmgard Hantsche bereits im Jahr 1980 attestiert, gilt z.T. noch heute: Der Einsatz von Quellen in der Primarstufe erscheint auf den ersten Blick ungewöhnlich262, und dies trifft v. a. auf schriftliche Quellen zu. In aktuelleren Werken wird zwar der feste Bestandteil von Quellenarbeit im Sachunterricht seit den 1970er-Jahren betont263, jedoch noch immer festgestellt, wie wenig Quellen sich trotz ausdrücklicher Empfehlung der Nutzung in Lehrplänen in den Schulbüchern fänden264. Dies muss erstaunen, zumal eine wiederholt vorgebrachte Kritik265 nach fast 40 Jahren noch heute Gültigkeit besitzt.
Da historisches Lernen266 nur über historisches Denken initiiert werden kann, werden heute, und das ist nicht neu267, die Schritte der historischen Methode – Heuristik, Kritik, Interpretation – auch in der Primarstufe als selbstverständlich vorausgesetzt.268 Besondere Bedeutung wird der fachspezifischen Quellenkritik im „Sinne der Förderung wissens- und erkenntniskritischen Denkens“269 beigemessen. Auch auf den Transfer der domänenspezifischen Fähigkeiten und Fertigkeiten auf gegenwärtige mediale Konstruktionen und ihre kritische Erschließung (Infragestellung, Prüfung) im Sinne einer allgemeinen Medienkompetenz wird verwiesen.270
Quellenkritik und Quelleninterpretation – eine Kurzvorstellung 271
Zentrale Fragen sind:
Ist die Quelle echt? Von wem und von wann stammt sie? Handelt es sich bei der vorliegenden Fassung um eine originalgetreue? usw. Diese Fragen sind bei Quellen, die wir Quellensammlungen oder Schulbüchnern entnehmen, in der Regel bereits geklärt worden – bei Quellen aus dem lokalen Archiv gilt dies allerdings nicht!
Wer ist der Autor/die Autorin der Quelle? (möglichst viele Informationen über Person, Alter, Funktion, Einstellungen etc.)
Um welche Quellenart handelt es sich? (Eine Rede ist eine deutlich andere Gattung als ein Brief, ein Zeitungsartikel eine andere als ein Aktenvermerk usw.)
Was ist aus einer Quelle zu erfahren? Zentrale Aussagen, zentrale Begriffe (zeitgenössischer Sinn!)
An wen richtet sich die Quelle?
Was könnte der Verfasser wissen, was nicht? Sind die Aussagen glaubwürdig? Auch hier benötigt man zur Urteilsbildung zusätzliche Informationen aus anderen Informationsquellen.
Welchen Zweck hatte der Text (wahrscheinlich)? (Information, Manipulation, Meinungsbildung usw.)
Einordung in den historischen Zusammenhang
Schließlich: Was nützt uns die Quelle für unsere historische Frage?
Abb. 8: Quellenkritik im Sachunterricht der Primarstufe (Reeken 2015, 93)
Quellenkritik wird schwerpunktmäßig v. a. in der Erfassung der Perspektivität272 und des Nachdenkens darüber gesehen. „Dass schriftliche Quellen, auch Augenzeugenberichte und autobiographische Berichte, keine ‚Wahrheiten‘ überliefern, sondern das, was der Autor für wahr hielt oder als wahr glauben machen wollte, ist eine für Kinder schwierige Einsicht, die frühzeitig angebahnt werden muss, um einer blinden Quellen- und Schriftgläubigkeit vorzubeugen und Kinder für das Leben in der Medienwelt vorzubereiten.“273 Dies ist besonders durch den Einsatz multiperspektivischer Quellen möglich.
Auch der „Perspektivrahmen Sachunterricht“ sieht in der historischen Perspektive – eine von fünf grundlegenden Perspektiven des Sachunterrichts – bei den Punkten „Fragen nach Veränderungen menschlichen Zusammenlebens in der Zeit stellen (Historische Fragekompetenz)“, „Mit Quellen und Darstellungen umgehen und ihnen historischen Sinn entnehmen (Historische Methoden- und Medienkompetenz)“ und „Sinnhafte und intersubjektiv überprüfbare Erzählungen bilden (Historische Narrationskompetenz)“274 die Schritte der historischen Methode vor. In der ersten Version des Perspektivrahmens aus dem Jahr 2002 heißt es dazu, dass Schüler*innen erkennen sollen, „dass unser Wissen von der Geschichte von überlieferten Quellen abhängt und dass das bei der Auswertung der Quellen entstehende Wissen kein genaues Abbild vergangenen Geschehens ist, sondern immer nur eine vorläufige, begrenzte, perspektivische Annäherung an die damalige Wirklichkeit sein kann.“ Schüler*innen sollen dies „beim Umgang mit Quellen und Darstellungen berücksichtigen können.“275
Obwohl Irmgard Hantsche in den 1980ern davon spricht, dass keine Quellenkritik durch Schüler*innen im Volksschulalter zu erwarten sei276, plädiert sie dafür, durch entdeckendes Lernen problemlösendes Denken einzuüben. Die von ihr beschriebenen Schritte entsprechen dabei durchaus wesentlichen Aspekten der Quellenkritik: Zum einen fordert sie eine kritische Befragung von unterschiedlichen – auch kontrastierenden – Beschreibungen einer Begebenheit aus der Vergangenheit zum gleichen Sachverhalt, um sich auf diese multiperspektivische Weise der vergangenen Wirklichkeit anzunähern. Zum anderen erwartet sie die Förderung der Entwicklung eines kritischen Bewusstseins im Zusammenhang mit Quellenarbeit, was eine Quelle ist und was sie zu leisten imstande ist, um derart für die Belegbarkeit von Aussagen in Geschichtsdarstellungen und das Überprüfen von Quellen zu sensibilisieren.277
Angestrebt wird heute für das historische Lernen im Sachunterricht zwar fachliches und damit auch propädeutisches Lernen,278 allerdings keine an kanonisiertes lexikalisches, chronologisch geordnetes Daten- und Faktenwissen ausgerichtete Geschichtsvermittlung279, sondern eine Aufklärung der kindlichen Lebenswelt mittels einer spezifisch historischen Form der Wirklichkeitserschließung und die Vermittlung eines kritischen Umgangs mit uns umgebender Geschichtskultur280 mit dem grundlegenden Ziel, die Entwicklung eines reflektierten und reflexiven Geschichtsbewusstseins „als unverzichtbaren Teil des Identitäts- und Persönlichkeitsbildungsprozesses des Kindes“281 zu fördern. Die Kinder sollen historisches Denken im Sachunterricht als „integralen Teil der menschlichen Lebenswelt und Denkpraxis kennen lernen und nicht als ‚Selbstzweck‘ eines bestimmten ‚Fachgebietes‘ missverstehen, das auf bestimmte ‚Lehrbuch-Themen‘ begrenzt ist“.282 Die dabei genannten Vorteile der Quellenarbeit – Motivation und mehr Ertrag, Förderung historischen Denkens, Vermittlung von für historisch-politischen Lernen wesentlichen Erkenntnissen – decken sich über weite Teile mit den oben genannten.283 Eine Beschäftigung mit Quellen und eben auch Textquellen ist auch in der Primarstufe dringend geboten, wenn Lernende erkennen sollen, dass Wissen über die Vergangenheit „einzig aus Relikten, Zeugnissen und Traditionen gewonnen werden kann, die uns aus der Vergangenheit in die Gegenwart überkommen sind, und dass nur über diese historische Quellen ausschnitthafte, standortbezogene, interessengesteuerte und stets revisionsfähige Vorstellungen bzw. ‚Geschichten‘ über eine nicht mehr vorhandene, aber einst gewesene Wirklichkeit konstruiert werden können“284.
Als zentrales Problem bei der Arbeit mit schriftlichen Quellen im Sachunterricht wird allerdings die Auswahl geeigneter Quellen gesehen.285 Es kann sich als schwierig und zeitraubend gestalten, geeignete Quellen für den Einsatz in der Primarstufe zu finden. Auch wenn prinzipiell keine Gruppe von Quellen von vorneherein als ungeeignet eingestuft wird, werden v. a. erzählende Quellen als besonders gut geeignet betrachtet.286 Daneben ist es wichtig, Aspekte wie sprachliche oder inhaltliche Angemessenheit, Umfang, Lebensweltbezüge oder Anschaulichkeit zu berücksichtigen.287
IV.3 Wie mit schriftlichen Quellen umgehen?
Um oben bereits genannte Ziele im Unterricht (historische Methode der Erkenntnisgewinnung, Anbahnung von Re-Konstruktionskompetenz, Ausdifferenzierung erkenntnistheoretischer Basiskonzepte wie Perspektivität, Belegbarkeit, Konstruktivität oder Auswahl, Anregung zur eigenen Urteilsbildung, Selbsttätigkeit und eigenes reflektiertes und (selbst-)reflexives Denken) zu erreichen und damit Schüler*innen historisches Lernen zu ermöglichen, braucht es ein methodisch kontrolliertes Vorgehen, das im Folgenden näher erläutert werden soll.
Auf Auswahl und Tauglichkeit von Schriftquellen und vermeidbare Fehler im Einsatz wurde z.T. schon hingewiesen. Gerade die Auswahl von geeigneten Quellen hängt mit den meisten der oben genannten Kritikpunkte gegen Quellenarbeit im Unterricht zusammen. In Abgrenzung zu den Anforderungen der Fachwissenschaft hinsichtlich der Nutzung von Quellen muss für den Unterricht auf geschichtsdidaktisch gesetzte Erkenntnisziele verwiesen werden, welche für die Einschätzung des Werts einer Quelle relevant sind. Pandel postuliert als Auswahlkriterien zum einen den Bezug zum historischen Sachverhalt/Thema und zum anderen die Anschaulichkeit der Quelle, betont darüber hinaus für die Auswahl entscheidende geschichtsdidaktische, geschichtsmethodische und editorische Kriterien.288
Gerade im Zusammenhang mit den editorischen Kriterien sei zum einen auf die für kritische Quellenarbeit notwendigen editorischen Vorbemerkungen im Sinne von erläuternden Kommentaren, wie z. B. inhaltliche Hinführungen, Namens-, Sach- und Begriffserklärungen oder Erklärungen zur Textgattung, hingewiesen. Zum anderen muss vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Exaktheit auf Anmerkungen zur Herkunft und Textentstehung (Verfasser*in, Entstehungsort, -zeit, auch heutiger Fundort) – besonders die Zeitdifferenz zwischen Ereignis und Bericht darüber – und Textüberlieferung289 geachtet werden. Letztgenannte Informationen spielen nicht nur im Sinne einer Wissenschaftspropädeutik eine Rolle, sondern sind unerlässliche Grundlage für sinnvolle Interpretationen und müssen daher auch in der Auswahl der Quellen mitberücksichtigt werden.290 Schneider hebt ferner besonders die Zugänglichkeit und Attraktivität von für den Unterricht ausgewählten Quellen hervor: „Interessante Quellen sprechen für sich, animieren zur Auseinandersetzung mit ihnen, fordern die Schüler zur Kritik heraus, enthalten oft verblüffende Informationen, nötigen bei der Interpretation nicht selten zu Umwegen, lassen keine glatten, einsinnigen Antworten ‚auf die Schnelle‘ zu, sondern sind dort, wo in ihnen Behauptungen aufgestellt und Ansichten geäußert werden, oft vielfach ‚gebrochen‘.“291 Insbesondere im Sinne der bereits thematisierten geschichtsdidaktischen und -methodischen Aspekte gilt es, auf eine Auswahl zu achten, welche multiperspektivische Quellenarbeit ermöglicht, um die Perspektivgebundenheit historischer Wahrnehmung und Deutung aufzuzeigen.292 Das bedeutet, dass mehrere Quellen unterschiedlicher Verfasser*innen mit entsprechend unterschiedlichen „sozialen“ Standorten293 ausgewählt werden sollen. Durch die Behandlung kontroverser Überlieferungen bzw. den Vergleich mit anders gelagerten darstellenden Texten kann auch einer naiven Schriftgläubigkeit gegenüber historischer Quellen entgegengewirkt werden.294 Darüber hinaus sei noch einmal auf die sinnliche Qualität von Originalquellen hingewiesen, welche ohne den Vorgang der „Normalisierung“ in ihrer sprachlichen und formalen Andersartigkeit Motivation und einen reflexiven Umgang mit Alterität befördern können. Eine Beschäftigung mit Originalquellen könnte z. B. im Rahmen eines Archivbesuchs angeleitet werden.
Erweitert man die bereits genannten Kriterien mit der Vorgabe der Angemessenheit im Hinblick auf das (Lern-)Alter der Schüler*innen295, so kann man zu folgender verkürzten Zusammenfassung kommen, welche sowohl die historische Methode (historische Frage als Ausgangspunkt) als auch geschichtsmethodische, v. a. aber geschichtsdidaktische Voraussetzungen miteinschließt: „In der Regel kommen im Unterricht daher nur solche Quellen zum Einsatz, die Antworten auf die historische Frage bieten, die vom Schüler mit seinem Vorwissen bearbeitet werden können und subjektiv neue Einsichten liefern, d. h. Lernprogression fördern.“296
Quellen in Schulbüchern sind daher zuerst kritisch zu betrachten und zu prüfen, inwiefern sie den Kriterien zur Quellenauswahl entsprechen und sich für historisches Lernen und für die intendierten Ziele im Unterricht eignen. In vielen Fällen wird die Lehrperson nach eingehender Prüfung nicht umhin kommen, nach zusätzlichen Quellen zu recherchieren und Arbeitsaufträge zu modifizieren oder zu ergänzen.
Auswahlkriterien für Quellen
1. Kann das Unterrichtsziel durch den Einsatz der Quellen erreicht werden?
2. Passen die Quellen zum Unterrichtsthema? Bieten die Quellen Neues zum Thema?
3. Welche Funktion sollen die Quellen im Lernsetting erfüllen?
4. Sind die Quellen dem (Lern-)Alter angemessen?
Folgende Zusammenstellung an Fragen kann bei der Auswahl helfen:297
Welche inhaltlichen Schwerpunkte werden in den Quellen thematisiert? Enthalten die Quellen für die Schüler*innen neue Informationen? Reicht das vorhandene oder leicht recherchierbare Gegenstandswissen aus, um die Quellen zu analysieren und zu interpretieren? Lassen sich durch die Quellen exemplarische Einsichten vermitteln? Hat die Quelle geschichtskulturelle Relevanz, wird noch heute darauf Bezug genommen?
Wie umfangreich sind die Quellen? Sind die Längen angemessen? Sind Quellen zu kurz, sodass die Deutungsmöglichkeiten enorm eingeschränkt sind? Welche sprachlichen Hürden sind beim Erschließen der Quellen zu erwarten? Sind bereits Eingriffe/Bearbeitungen wie Kürzungen, Vereinfachung von Satzkonstruktionen, Worterklärungen, Modernisierung von Orthographie usw. erfolgt? Müssen Bearbeitungen vorgenommen werden? Können Schüler*innen selbstständig Analyse- und Interpretationsschritte vornehmen oder benötigen sie Arbeitswissen zur Kontextualisierung und Interpretation?
Wie anschaulich sind die Quellen? Regen sie Imagination und Interesse an? Provozieren sie Fragen und eröffnen sie Interpretationsspielräume? Fördern sie Alteritätserfahrungen? Ermöglichen Quellen exemplarische Einsichten in quellenkritische Verfahren? Werden durch die Quellen epistemologische Einsichten gefördert? Sind Synthese und Vergleich von mehreren Quellen möglich? Werden unterschiedliche soziale Standorte abgebildet? Werden unterschiedliche Perspektiven erkennbar?
Handelt es sich um authentische Quellen? Könnte die Quellen auch in der Original-form zur Verfügung gestellt werden? Werden editorische Angaben wie Informationen zu Autor*innen, Entstehungszeit/-kontext, Entstehungsort, Gattung, Fundort zur Verfügung gestellt? Sind mehrere zeitdifferente Quellen ausgewählt worden? Können Lernende auf der Grundlage der Quellen eigene Narrationen/Darstellungen erstellen?
Abb. 9: Kriterien zur Auswahl von Quellen für das historische Lernen
Kommt man wieder zurück zur eingangs gestellten Frage des angemessenen Umgangs mit Schriftquellen, so kann man feststellen, dass in vielen aktuellen Schulbüchern heute Methodenseiten zum Umgang mit Quellen angeboten werden. Einerseits kann dieser Ansatz, Schritt-für-Schritt-Anleitungen zur Verfügung zu stellen, im Hinblick auf den Erwerb methodischen Wissens grundsätzlich als sinnvoll erachtet werden, andererseits sind Methodenseiten in Schulbüchern oftmals in vielerlei Hinsicht problematisch, da sie vielfach lückenhaft sind, die Reihenfolge der Fragen allgemein bzw. in Bezug auf bestimmte Quellen wenig geeignet erscheint,298 problematische Formulierungen bzw. falsch verwendete Fachtermini zu Verwirrung bei Schüler*innen führen können299 und der Gesamtprozess der Interpretation zur Beantwortung historischer Fragen nicht deutlich wird.300 Einige dieser Schwierigkeiten treffen allerdings nicht nur auf die Interpretationsmodelle in Schulbüchern zu, sondern auch auf die in der geschichtsdidaktischen Literatur veröffentlichten methodischen Modelle, die unterschiedlich in ihrer Ausführlichkeit ebenso wie in ihrer Schwerpunktsetzung sind.301 Auf der einen Seite sind derartige Fragekataloge wie erwähnt hilfreich, weil notwendige Arbeitstechniken im Umgang mit historischen Quellen beispielhaft anhand eines Modells gelernt und geübt werden können.302 Auf der anderen Seite werden starre Fragekataloge jedoch weder der Vielfalt der Quellen noch den unterschiedlichen Unterrichtszielen gerecht. Jede Quelle erfordert ein spezifisches Vorgehen bei der Interpretation, die niemals genau einem bestimmten Protokoll folgen wird. Es ist die Herausforderung für Lehrer*innen in der Phase der Unterrichtsvorbereitung bzw. für die mit Quellenarbeit bereits vertrauten Schüler*innen, die über einen Fundus an Fragen verfügen müssen, aus diesem die geeigneten Fragen für die Interpretation der Quelle auszuwählen und zu adaptieren, je nachdem, welche untersuchungsleitende historische Frage beantwortet werden soll. Diese historische Fragestellung, welche der Beschäftigung mit der Quelle zugrunde liegt, darf nicht durch technokratische Vorgaben vergessen bzw. versteckt werden. Zudem wird nicht immer die vollständige Interpretation der Quelle notwendig sein, was ein stures Abarbeiten der Fragen aus den Modellen nicht sinnvoll erscheinen lässt:303 „Wer (…) Raster zur Interpretation von Quellen als strenges Ablaufschema mißversteht und es nicht nimmt als das, was es sein will, nämlich eine Hilfe zu möglichst umfassender Erörterung historischer Texte, der wird kaum zu einer lebendigen Auseinandersetzung mit historischen Sachverhalten vorstoßen.“304 Schneider moniert, dass Überdruss und Ablehnung die Folgen sein können.305 Es ist daher sinnvoll, den Einsatz von Rastern nicht zum ermüdenden Ritual des Geschichtsunterrichts verkommen zu lassen, sondern diese gezielt zum Methodenlernen zu nutzen. Dabei ist es wichtig, den Schüler*innen genug Freiräume für eigene Fragen und eigene Gedanken zu den Interpretationsregeln zu ermöglichen.306 Zudem sollen Interpretationsraster nicht als stur abzuarbeitende Vorgaben betrachtet werden, sondern als methodisches Hilfsmittel und Kontrollinstrument: „Behält man diesen hohen Wert des freien, nicht schematischen Umgangs mit den Quellentexten im Auge, so kann man gleichwohl aus standardisierten Interpretationsstrategien seinen Nutzen ziehen.“307 Unverzichtbar ist es dabei, darauf zu achten, dass die Beschäftigung mit Quellentexten nicht auf eine paraphrasierende Reproduktion der Texte reduziert wird,308 sondern auch auf kritische Überprüfung und reflektierende Interpretation hin orientiert ist. Die Frage nach dem Verfasser oder der Verfasserin einer Textquelle darf somit nicht bei der Angabe des Familiennamens enden, sondern es müssen darüber hinaus Fragen nach dem sozialen Status, dem Beruf, den persönlichen Beziehungen usw. gestellt und davon abgeleitet Absichten, Motive, Interessen und die Perspektive erschlossen werden, um z. B. Konsequenzen des damit abgeleiteten Standpunktes des Autors/der Autorin für die Beurteilung der Plausibilität der Quelle zu reflektieren bzw. den Stellenwert der Quelle für die Beantwortung der historischen Fragestellung zu thematisieren.
Frageraster und schematische Modelle zum Umgang mit Quellen alleine reichen allerdings nicht aus, reflektiert und reflexiv mit Quellen bzw. ihrer Interpretation umzugehen. Sie können Schüler*innen in einem ersten Schritt helfen, sich grundlegendes prozedurales Wissen anzueignen, eine wesentliche Grundlage für ihre Interpretationskompetenz. Dieses Methodenwissen bzw. die Kenntnis von Interpretationsregeln ist dringende Voraussetzung, jedoch noch kein Garant für eine schlüssige Interpretation.309 Ferner zeigt sich der kompetente Umgang auch darin, wenn Lernende in der Lage sind, Modelle kritisch zu überprüfen und sie gegebenenfalls begründet zu modifizieren.310
Alle im Folgenden vorgestellten Modelle nehmen für sich in Anspruch, Leitfäden zur Interpretation von Schriftquellen zu sein. Interpretation kann dabei als „ein in den Verstehensprozeß eingebettetes, Verstehenshemmungen ausräumendes und durch Neukategorisierung Verstehen anbahnendes Verfahren“311 definiert werden. Gemeinsamkeiten der einzelnen Modelle bestehen in der Thematisierung der essentiellen Bereiche Inhalt, Verfasser*in oder Intention der Quelle.
Quelleninterpretation nach Renz 1971, 550.
1. Gliederung des Textes, syntaktisch-grammatikalischer Zusammenhang der Abschnitte?
2. Bedeutung der Schlüsselwörter? Bedeutungswandel bis heute?
3. Wichtigste Stellen und Hauptaussagen?
4. Widerspruchsfreiheit und Logik des Textes? Begründungen, Folgerungen und Aussagen nachvollziehbar und begründbar?
5. Zusammenhang einzelner Aussagen mit der Gesamtheit des Textes? Wirkung der Aussagen aufeinander?
6. Motive und Interessen des Autors/der Autorin? Ideologiekritik: gesellschaftliche und wirtschaftliche Position? Bildungsvoraussetzungen? Parteilichkeit? Zutagetreten von Zeit- und Standortgebundenheit? Tendenz?
7. Verhältnis des Autors/der Autorin zum berichteten Ereignis und den handelnden Personen? Wille und Fähigkeit, wahr zu berichten?
8. Empfänger*innen? Verhältnis zwischen diesen und dem/der Autor*in? Rücksicht des Verfasser/der Verfasserin notwendig?
9. Überlieferungsmäßige und geschichtliche Zusammenhänge des Textes?
10. Verhältnis der Aussagen der Quelle über bestimmte Sachverhalte zu denen anderer Quellen?
Abb. 10: Philologisch orientiertes Modell zur Quelleninterpretation aus den 1970er-Jahren
Einige der Modelle der 1970er-Jahre312 sind insgesamt sehr philologisch ausgerichtet. Ähnlich der aus der Kommunikationswissenschaft stammenden Lasswell-Formel313 stehen die Fragen, wer sagt was, wo, wann, für wen, wie und mit welchem Effekt, im Vordergrund. Auch wenn hier die Abhängigkeit der „Schlüsselwörter“ oder „Hauptaussagen“ von der Fragerichtung ignoriert wird, Heuristik oder äußere Quellenkritik keine Erwähnung finden und die abschließenden Schritte der Interpretation nur erahnt werden können, sei auf die Wichtigkeit der ideologiekritischen Arbeitsweise hingewiesen, in der Schüler*innen lernen sollen, die soziale Bedingtheit von Aussagen oder Tendenzen in Texten festzustellen. Derart sollen sie auf die Parteilichkeit des Autors oder der Autorin aufmerksam werden und Gedanken über mögliche Interessen und Absichten anstellen. In logischer Konsequenz sollten Schüler*innen auch ihre eigene Parteilichkeit reflektieren, insbesondere bei der Interpretation von Quellen. Unterschiedliche Interpretationen können verglichen, auf ihre Begründungen und mögliche Ursachen für Begründungen untersucht werden, um so den eigenen Standpunkt in kontroversen Fragen zu überprüfen.314
In darauf entstehenden didaktischen Fragerastern315 lässt sich der Versuch erkennen, philologische Frageraster hin zu einem weniger auf ausufernde Texterschließung und fachwissenschaftliches Spezialwissen orientierten kritischen Umgang mit Quellen weiterzuentwickeln.316
Quelleninterpretation nach Hug 1980, 150:
1. Paraphrase:
• Was ist aus Sicht der Quelle zu erfahren? (Inhaltsangabe)
• Aus welchen Teilen besteht sie? (Gliederung)
• Was ist ihr Thema? (Überschrift)
2. Inhaltsanalyse:
• Was ist der Kern des Textes?
• Was wird im Text behauptet oder widerlegt?
• Welche Teilaspekte sind behandelt?
3. Begriffsanalyse:
• Welche Begriffe kommen mehrfach vor?
• Welches sind die Schlüsselbegriffe?
• Welchen Sinn gibt der Text den Begriffen?
4. Sachkritik:
• Enthält der Quellentext Widersprüche?
• Was konnte der Verfasser/die Verfasserin wissen, was nicht?
• Inwieweit ist der Text glaubwürdig?
5. Ideologiekritik:
• Wann, von wem und für wen ist der Text verfasst worden?
• Welchem Zweck sollte er (vermutlich) dienen?
• Welchen Standort nimmt der Verfasser ein?
Abb. 11: Beispiel für didaktische Modelle zur Quelleninterpretation aus den späten 1970erund 1980er-Jahren
Quelleninterpretation nach Strotzka 1983, 109 f.:
1. übersetzende Interpretation (in anderen Worten wiedergeben)
2. Analyse (Zerlegen in Einzelteile und neu kategorisieren, inhaltliche Aussagen aneignen und in anderem Zusammenhang verwerten)
• hermeneutisches Verfahren: Sinn/das Gemeinte erfassen
• Fragen finden, auf die der Text eine Antwort zu geben vermag
3. historische Kritik (Bezug auf die historische Situation, Perspektive)
4. kritisierende Interpretation (Untersuchung der im Text zum Ausdruck gebrachten ideologischen Gebundenheit des Autors/der Autorin)
Abb. 12: Beispiel für didaktische Modelle zur Quelleninterpretation aus den späten 1970erund 1980er-Jahren
Nach Pandel sind diese Modelle jedoch „unspezifisch für historisches Denken, da sich ihre Interpretationsschritte auf jeden Text anwenden lassen, gleich ob es eine mittelalterliche Vita oder die gegenwärtige Tageszeitung ist.“ Dadurch „verfehlen [sie] aber stets das wichtigste Ziel, um dessentwillen Geschichtsunterricht erteilt wird: Historisch denken zu lernen.“317 Strotzkas Modell stellt hierbei vielleicht eine Ausnahme dar. Zum einen ist es sehr allgemein gehalten und daher wenig vergleichbar mit den anderen Modellen, zum anderen berücksichtigt es die historische Frage als Ausgangspunkt historischen Denkens. Dies ist nicht unbedeutend, da die historische Frage die Leseabsicht steuert und dadurch die „Kernstellen“ oder die „Schlüsselwörter“ jeweils andere sein können.318 Der historischen Methode entsprechend kann das Verfahren zur Interpretation historischer Quellen nämlich als geregelter Ablauf ausgehend von der historischen Frage, über die Heuristik, die Kritik bis hin zur Interpretation beschrieben werden.319 Demnach nimmt Pandels für Schüler*innen konzipiertes Model für sich in Anspruch, nicht nur den Text, sondern auch den gesamten Interpretationsprozess zu berücksichtigen. Es berücksichtigt die Bereiche „historische Frage“ und „Heuristik“, welche lange Zeit in anderen Modellen keine Erwähnung finden, thematisiert zudem explizit die Quellengattung und die äußere Quellenkritik und – last but not least – verlangt es ein Narrativieren von Interpretationsergebnissen.320 Unter „Kritik“ wird bei Pandel alleine die äußere Quellenkritik verstanden, die innere Quellenkritik findet sich in Ansätzen im Bereich „Interpretation im engeren Sinne“. Pandels „Interpretationsregeln“ alleine scheinen allerdings nur mäßig geeignet, um Schüler*innen ein adäquates Instrument zur Hand zu geben. Gemeinsam mit einem von Pandel angebotenen Pool an Fragen zu vier unterschiedlichen Richtungen bei der Interpretation historischer Textquellen können diese Regeln jedoch gute Hilfestellungen für interpretierende Fragen und Kategorien sein.321
Quelleninterpretation nach Pandel 2013, 155:
Interpretationsregeln
1. Die historische Frage:
• Leseabsicht festlegen: Was wollen wir wissen: autorenzentrierte, textzentrierte oder wirkungszentrierte Leseabsicht?
• Für welchen Zusammenhang suchen wir eine Antwort?
2. Heuristik
• Quellen suchen (z. B. bei Projektarbeit)
• Quellengattung feststellen und bewusstmachen, welche Art von Aussagen zu erwarten sind
• Verstehenshilfen bereitstellen und nutzen (editorische Aufbereitung zur Kenntnis nehmen, Register des Buches; Wörterbücher, Historische Lexika etc.)
• Untersuchungseinheiten festlegen (auf was im Text zu achten ist: Begriffe, Emotionswörter, Wertungen, Topoi etc.)
3. Kritik
• Handelt es sich um eine authentische Quelle?
• Überlieferungsweise feststellen (Manuskript, Druckfassung, Übersetzung, Zitat)
• Abfassungszeit und Zeit der berichteten Ereignisse vergleichen (was ist dazwischen geschehen?)
• Bestimmung des historischen Erfahrungs- und Handlungszusammenhangs
4. Interpretation im engeren Sinne
• Den eigenen Standort und die eigene Perspektive beschreiben (zeitlich, räumlich, sozial etc.)
• Berücksichtigung des Wirkungszusammenhangs:
a) Beim ersten Durchgang ist Wissen aus späterer Zeit, Kenntnisse des Fortganges sind nicht zugelassen
b) Beim zweiten Durchgang späteres Wissen einbeziehen
• übersetzende, analysierende, ideologiekritische Interpretation
• Handlungszusammenhänge feststellen
• Bedingungen für das Handeln benennen
• Motivationszusammenhänge des Schreibers ausfindig machen
• sein Weltbild rekonstruieren
• Ideologietopographien (= ideologisch besetzte Begriffe) zu Rate ziehen
• Unverzichtbar: eine kleine Geschichte aus Anfang, Mittelteil und Schluss erzählen (narrativieren)
Abb. 13: Schülerorientiertes Modell zur Quelleninterpretation nach Pandel (2003) unter Berücksichtigung der prozessualen Dimensionen Frage, Heuristik, Kritik und Interpretation
Einige der neueren Modelle ermöglichen zudem eine Zuordnung kognitiver Prozesse in der Quellenarbeit durch die Dreiteilung in „Erschließen“, „Analysieren“/„Untersuchen“ und „Deuten“ bzw. durch die Berücksichtigung der Schritte der historischen Methode und der den unterschiedlichen Anforderungsniveaus kognitiver Prozesse zuordenbaren Operatoren322.