Kitabı oku: «Allgäuer Höhenrausch», sayfa 6
Im Versammlungssaal roch es nach Kräutertee und Rauch von selbstgedrehten Zigaretten. Frauen in bunten Kleidern häkelten grüne Topflappen mit dem gelben Sonnen-Parteisymbol der »Grünen« oder stillten mitten in den Sitzreihen ihre Säuglinge, während sie der Rede des Parteivorsitzenden zuhörten. Monschkopf fand in einer der hinteren Reihen seinen Partei-Kompagnon Walter Grasbaur aus Scheidegg und setzte sich auf den freien Stuhl neben ihm.
»Was machscht allat?«, fragte Grasbaur in der Pause, nachdem der Parteivorsitzende seine Rede über die Ergebnisse aus dem Beschluss der letzten Bundesversammlung beendet hatte. Gottfried Monschkopf begann, gestenreich von seinen Erfolgen und Visionen zu berichten – angefangen von der Demo gegen das Steighorn-Wasserkraftwerk im Juli über den Fernsehbericht in den österreichischen Nachrichten bis zu seinem neuen Thema mit der Stromerzeugung aus Sonnenlicht.
Walter Grasbaur hörte ihm geduldig, aber mit mitleidigem Lächeln und ohne die von Monschkopf erwartete Bewunderung zu. »Gottfried«, sagte Grasbaur, als dieser seinen aufgeregt vorgebrachten Bericht geendet hatte, »du hascht ja grad nochmal g’hört, was ma’ in d’r achten Bundesversammlung im Dezember letscht Johr beschlossa hat.«
Er unterbrach kurz, um mit der Zunge den Klebestreifen des Zigarettenpapiers anzufeuchten. Er zündete die Selbstgedrehte an, aus der vorne ein kleines Büschel Tabak hing, nahm einen tiefen Zug und befreite danach seinen Mund mit Daumen und Zeigefinger von losen Tabakresten.
»Dauerpräsenz der ›Grünen‹ gegen den Bau der Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf. Jeder Monat an andera Landesverband, und im Oktober sind mir dran. Du bischt mit auf d’r Lischte, Gottfried«, sagte Walter Grasbaur.
Gottfried Monschkopf sah seinen Parteikollegen ungläubig an und war einfach nur enttäuscht. Er hatte etwas dazu beitragen wollen, dass die ›Grünen‹ einen Ansatz für die Entwicklung einer ernstzunehmenden alternativen Energiepolitik finden konnten, und die Basis wollte sich offenbar weiterhin nur als Atomkraftgegner positionieren. Und er sollte sich in Wackersdorf womöglich vier Wochen lang mit an die Bauzäune ketten.
Er verließ die Landesversammlung vor dem offiziellen Ende. Auf dem Weg zum Bahnhof fasste er den Entschluss, einen alten Bauernhof zu kaufen, diesen selbst zu renovieren und als Selbstversorger zu leben, mit selbst angebautem Gemüse und selbst erzeugtem Strom.
*
Es musste noch in dieser Nacht über die Bühne gehen. Wilfried Grätner hatte sich in den letzten zwei Tagen einen detaillierten Plan zurechtgelegt, wie er den Autounfall in dem Tunnel, dessen Portal gleich hinter der deutsch-österreichischen Grenze in die sechs Kilometer lange Röhre führte, so inszenieren konnte, dass ein Mensch verschwand und zugleich ein Abschnitt des Tunnels durch einen von einer Explosion ausgelösten Einsturz verschüttet wurde.
Jetzt hatte er aber auch noch eine Leiche zu entsorgen, die noch im Laderaum unter der Pritsche des VW-Transporters lag. Sein Durchführungsplan änderte sich dadurch nicht, aber ihm blieben nur wenige Stunden Zeit. Es war noch nicht einmal drei Stunden her, als am Ferienhaus dieser rothaarige »Hellwatt«-Mitarbeiter wie ein Irrer mit dem Messer auf Alois losgehen wollte, und er hatte offenbar in letzter Sekunde einschreiten können. Er wusste nicht, wie die Situation ausgegangen wäre, wenn er nicht aus einem unguten Gefühl heraus am frühen Abend ins Montafon gefahren wäre. Nun aber musste er die verkehrsarme Zeit mitten in der Nacht ausnutzen, um den Tunnelunfall auszuführen.
Bill Grätner hatte bisher nie die Anweisungen seines Chefs Alois Leibacher hinterfragt. Dass dieser sich aber an einem ganzen österreichischen Bundesland mit einem Tunnel-Inferno rächen wollte, nur weil man ihm den Bau einer befestigten Zufahrtsstraße zum Ferienhaus im Montafon verweigerte, grenzte für seine Begriffe an Debilität.
Alois würde wohl nun alles vorbereiten, um künftig unter einem neuen Namen in Liechtenstein weiterzuleben und von der Niederlassung in Vaduz aus die Geschäfte weiterzuführen. Wie dieser aber einfach unter einem anderen Namen in Liechtenstein – einem Miniaturstaat mit überschaubarer Einwohnerzahl – als jemand zu existieren gedachte, der Geschäftsführer eines Bauunternehmens war und damit bei Finanzbehörden, Banken, Versicherungsträgern und nicht zuletzt beim Einwohneramt in den großen Aktenschränken auf Karteikarten registriert sein musste, war für Bill ein Rätsel.
Der alte Opel Rekord Caravan, mit dem Alois meist zu seinen Baustellenterminen fuhr, würde noch in dieser Nacht das Tunnel-Inferno auslösen. Er sollte sich etwas einfallen lassen, hatte ihm Leibacher aufgetragen, der davon ausging, dass Bill aus seiner Zeit als Stuntman für Auto-Verfolgungsjagden und spektakuläre Crashs die entsprechenden Tricks auf Lager haben würde.
Das Mondlicht erleuchtete die Werkstatt in der Fahrzeughalle fast taghell, obwohl die Wanduhr über der Tür 23.33 Uhr anzeigte. Der Countdown läuft, dachte Grätner und rollte die Sackkarre mit den Gasflaschen vor den alten MAN-Kipplaster, der sonst nur noch zum Schneeräumen eingesetzt wurde. Mit einem leisen Knall zischte eine kleine blaue Schweißflamme aus dem Brenner, den er mit dem fast leeren Einwegfeuerzeug entzündet hatte.
Als er die angerosteten, auf passende Länge geschnittenen und vorne zugespitzten Vierkant-Stahlrohre an das Schneeräumschild schweißte, mit denen er den Lkw zu einer Art Gabelstapler umfunktionierte, fasste er den Gedanken, dass dafür diesmal mehr herausspringen musste. Ihm musste für diese Dreckarbeit mehr zustehen, wenn er dem Inhaber dieses überregional agierenden Tief- und Straßenbauunternehmens mit diesem inszenierten Unfall zu einer neuen Identität verhalf.
Die billige elektrische Wanduhr, die wohl so aussehen sollte wie eine Digitaluhr, blätterte mit einem in der nächtlichen Stille durch die ganze Werkstatt hallenden Klacken ein Ziffernblatt um, sodass die Uhr jetzt 23.51 Uhr zeigte. Irgendwann würde er über das Vermögen der Firma verfügen, dachte er, während er den roten Opel Rekord Caravan mit einigem Abstand vor den Lkw stellte. Verwundert registrierte er bei einem zufälligen Blick auf den Kilometerzähler, dass dieser mit 235.100 Kilometer die gleichen Zahlen wie die Uhr anzeigte.
Er stieg von dem Opel, auf dessen Fahrersitz gleich die Leiche von Manfred Breitstein Platz nehmen würde, in das Führerhaus des Lkw um und startete den Motor. Langsam rollte der MAN-Diesel von hinten auf den Rekord Caravan zu. Die Vorrichtung an der Schneeräumschaufel des Lkw drückte den Opel mit der rechten Vorderseite gegen einen Betonpfeiler der Halle, bevor sich die angeschweißten Stahlrohre mit blechernem Knirschen in die Heckklappe des Kombis bohrten.
Jetzt musste er noch den unangenehmen Teil hinter sich bringen. Es kostete ihn einige Überwindung, die Seitenklappe unter der Ladepritsche des VW-Transporters zu öffnen, wo derjenige lag, der bereits tot war, bevor er mit dem Opel an die Tunnelwand krachen würde.
Wilfried Grätner kam sich vor wie ein Vollstrecker der Mafia, als er die in eine Abdeckplane aus Plastikgewebe verschnürte Leiche herauszerrte und mit einiger Mühe auf den Fahrersitz des Rekord Caravan hievte. Er erschauderte, als von dem Gezerre ein Teil des roten Haarschopfs mit einer blutigen Stelle herausschaute. Er überwand sich ein weiteres Mal, zog den Sicherheitsgurt und hätte sich beinahe übergeben müssen, als er sich über den leblosen Körper beugen musste, um die Schnalle im Gurtschloss einrasten zu lassen. Er wollte sicherstellen, dass der Tote beim Aufprall nicht aus dem Auto geschleudert wurde. »Vorschriftsmäßig angeschnallt«, sagte Grätner leise vor sich hin, schlug die Fahrertür zu und lief sogleich in Richtung des Gasflaschenlagers.
Die Wanduhr in der Fahrzeughalle zeigte 0.35 Uhr, als er auf dem Rücksitz des Opels zwei große Propangasflaschen deponiert hatte, deren Gewicht er schwerer geschätzt hätte, und auf dem Beifahrersitz die kleinen Sauerstoff- und Acetylen-Gasflaschen mit anmontierter Schweißgarnitur lagen.
Er war jetzt startklar. Vor der Fahrzeughalle rauchte er noch eine Zigarette und blies den Rauch in den hellen Nachthimmel. Dann atmete er kurz durch, schwang sich in das Führerhaus des MAN-Diesel, startete den Motor und drückte die Schneeräumschaufel mit den angeschweißten Stahlrohren ein wenig herunter, sodass er den wie von einem Gabelstapler aufgespießten Opel mit der Hauptlast auf der Hinterachse vor sich herschieben konnte.
Eine knappe halbe Stunde später bog er in die Straße zum Grenztunnel ein, die gleich hinter der deutsch-österreichischen Grenze einmündete. Er hatte diesen Weg gewählt, um nicht den großen Grenzübergang passieren zu müssen, wo er mit diesem seltsamen Gespann sicher die Bereitschafts-Grenzbeamten aus ihrem Schlummer geweckt hätte.
Es war ein völlig irrsinniges Unterfangen, mit einem Laster einen Pkw vor sich herzuschieben, an dessen Steuer zudem ein Toter saß, und ihm rann deshalb trotz der kühlen Nachttemperatur der Schweiß aus allen Poren. Er überlegte, was die Grenzbeamten wohl feststellen würden. Unbefugter und mangelhaft gesicherter Transport eines Kraftfahrzeugs, dessen Fahrer aufgrund vorhergegangenen Ablebens fahruntüchtig war?
Bei jeder kleinen Straßenunebenheit gaben die Reifen der Vorderräder des Opels ein kurzes quietschendes Pfeifen von sich, weil sie nur wenige Zentimeter über der Fahrbahn schwebten.
Endlich war er etwa in der Mitte des sechs Kilometer langen Tunnels angelangt. Grätner schaltete die auf dem Lkw-Dach montierten vier Zusatzscheinwerfer ein. Die Pannenbucht war nur noch wenige Hundert Meter entfernt. Jetzt waren äußerste Präzision und seine Stunt-Erfahrung gefragt. Es gab nur einen einzigen Versuch. Bill beschleunigte und steuerte auf die Pannenbucht zu. Er musste kurz dabei über die Mittellinie und hoffte, dass nicht ausgerechnet in diesem Moment ein anderes Fahrzeug entgegenkam.
Kurz vor der Pannenbucht lenkte er den Lkw leicht nach rechts und trat auf die Bremse. Der Rekord Caravan löste sich mit metallenem Quietschen von der Eisenkonstruktion und rollte schlingernd auf die Seitenwand der Nische zu, die quer zur Fahrtrichtung lag und damit eine Aufprallfläche bot. Im nächsten Sekundenbruchteil krachte der rote Opel mit der rechten Vorderseite an die Wand.
Grätner hielt den Lkw an und sprang aus dem Führerhaus. Es musste jetzt verdammt schnell gehen, bevor ein weiteres Fahrzeug kam oder ihm womöglich die Polizei schon gefolgt war. Er öffnete die hintere rechte Tür des Rekord Caravan, die zum Glück nicht klemmte, drehte die Ventile der Schweißgasflaschen auf, zündete mit dem fast leeren Einwegfeuerzeug den Schweißbrenner an und legte ihn zwischen die beiden Propangasflaschen. Die Schweißflamme sollte den Stahlmantel der Gasflaschen durchbrennen und diese zur Explosion bringen. Weil dies einige Minuten dauern würde, funktionierte diese Lösung im Prinzip als Zeitzünder.
In diesem Moment glaubte er, aus der zurückliegenden Richtung blinkendes Licht zu sehen. Mit einem Satz sprang er in das Führerhaus und sah zu, dass er diesen verdammten Tunnel so schnell wie möglich auf der österreichischen Seite verlassen konnte.
Im Rückspiegel sah er, wie aus dem Unfallwagen schwarze Rauchwolken austraten. Offenbar hatte der Schweißbrenner bereits die Sitze in Flammen gesetzt. Unwillkürlich dachte er kurz an seine Ex-Freundin Lorena. Sie hatte ihm im Streit an den Kopf geworfen, dass er darin der Größte sei, wenn es darum ging, etwas an die Wand zu fahren. Er musste ihr im Nachhinein recht geben.
Der MAN-Laster donnerte mit Höchstgeschwindigkeit aus dem Tunnelportal in Richtung Rheintalautobahn. Grätner sah am gegenüberliegenden Straßenrand einen jungen Autofahrer, der vor der Tunneleinfahrt im Scheinwerferlicht seines Ford Capri an der Leitplanke urinierte. Der Fahrer schaute mit erschrockenem und verdutztem Blick auf seinen Laster, den Bill Grätner kurz nach dem Tunnel in die Ausfahrt Richtung Bregenz lenkte. Im selben Moment schalteten sich die zur Entrauchung installierten Tunnelventilatoren ein, deren Steuerung das Einschalten automatisch an die Vorarlberger Einsatzleitstelle der Feuerwehr meldete.
Gleich neben dem Stadion in Bregenz standen Baucontainer und Straßenbaufahrzeuge, wo die Firma »Alois Leibacher Tief- und Straßenbau GmbH« gerade einen Parkplatz baute. Wilfried Grätner war froh, endlich den Lkw auf dem Baustellengelände abstellen zu können. Er dachte an den Capri-Fahrer, der sich sicher gewundert hatte, warum mitten in einer milden Septembernacht jemand mit einem Schneeräumfahrzeug unterwegs war. Aber er vermutete nicht ohne Grund, da der Fahrer vor dem Tunnel an der Leitplanke seine Blase entleert hatte, dass dieser vielleicht ohnehin nicht ganz nüchtern unterwegs gewesen war.
Vom Baustellengelände waren es nur etwa 50 Meter zum Seeufer. Hätte er die nötige Vorbereitungszeit gehabt, hätte er sein Motorboot im Bootshafen bereitstellen können. In der Ferne hörte er die Sirenen von Einsatzfahrzeugen. Mit einem Anflug von Zufriedenheit zündete er sich eine Zigarette an und beschloss, die Nacht im Führerhaus des Lkw zu verbringen.
Er griff nach dem Schlüsselbund in seiner Hosentasche und stellte erleichtert fest, dass er den Generalschlüssel für die Baucontainer dabeihatte. Gleich am frühen Morgen würde er das Schneeräumschild abhängen, im Baucontainer einen Benzinmotor-Trennschleifer suchen und damit die angeschweißten Stahlrohre wieder abtrennen, noch bevor die Kollegen auf der Baustelle sein würden.
Danach würde er erst einmal bei Alois Meldung machen. Und dabei einen Extrascheck als Gefahrenzulage herausschinden.
*
++ Oktober 1986 ++
Die Ampel an der Bahnschranke schaltete auf Rot, als er sich um die Kurve dem Bahnübergang näherte. Das passierte ihm fast immer, wenn er von der Lindauer Insel von einem Einsatz oder einer Vernehmung kam und auf dem Weg zurück ins Präsidium war. Er stellte den Motor seines Peugeot 505 ab und nahm sein dunkelblaues Notizbuch zur Hand. Der viergleisige Bahnübergang beanspruchte regelmäßig seine Geduld, und er fragte sich, wie viel kostbare Dienstzeit er schon vor dieser Bahnschranke verbracht hatte, bis endlich der Regionalzug aus Bregenz oder der Eurocity in Richtung München die Gleise passiert hatte.
Es war 10 Uhr an diesem Mittwochvormittag, an dem grauer Hochnebel über dem Bodensee hing und ein feiner Nieselregen einen nebligen Schleier auf die Windschutzscheibe legte. Von den Bäumen gegenüber dem alten Stellwerkgebäude fielen dunkelgelbe Blätter und ließen keinen Zweifel daran, dass am Bodensee der Herbst unmittelbar bevorstand.
Eigentlich hatte er vorgehabt, sich auf dem Rückweg in der Metzgerei am Aeschacher Kreisverkehr wie fast jeden Vormittag zwei Frikadellensemmeln zu kaufen. Doch die Leiche der grausam zugerichteten 26-jährigen Frau, die von den Kollegen der Wasserschutzpolizei aus dem Bootshafen gefischt worden war, hatte ihm zugesetzt. Er würde im Präsidium erst einmal einen starken Kaffee brauchen.
In seinem Notizbuch machte Kriminalhauptkommissar Guntram Glattlinger noch schnell einen Vermerk zur Frage nach dem Arbeitgeber der ermordeten Frau, bevor der von zwei Dieselloks gezogene Eurocity den Bahnübergang passiert hatte und sich die Schranken endlich wieder öffneten. Wenige Minuten später parkte er den Peugeot auf dem Parkplatz vor dem Präsidium. Auf dem Besucherparkplatz stand ein Lancia Beta mit österreichischem Kennzeichen.
In seinem Büro erwarteten ihn statt eines Kaffees zwei Herren, die sich sogleich von ihren Besucherstühlen erhoben, als er, etwas verdutzt über den unerwarteten Besuch, in der Tür mit der abgegriffenen Aluminiumklinke und dem geriffelten Glaseinsatz stehen blieb. Die staubgraue Einrichtung aus den 60er-Jahren stand im Kontrast zu Glattlingers Erscheinungsbild mit verwaschener Jeans und olivgrüner Parkajacke. Durch seine kräftige Statur und das dunkle mittellange Haar wirkte er etwas älter als die 32 Jahre, die er im Sommer geworden war.
Er vermutete anhand des Wagens auf dem Besucherparkplatz, dass die beiden aus Österreich waren. Guntram Glattlinger war vor drei Jahren von Augsburg nach Lindau versetzt worden und hatte hier durch die Grenznähe häufiger mit Kollegen aus Vorarlberg zu tun. Die beiden waren ihm allerdings unbekannt.
»Äh, die Herrschaften sind von …«, beeilte sich seine junge Kollegin Jacqueline, die inzwischen aus ihrem Büro herangestürmt war und atemlos im Türrahmen stand. Dem jüngeren der beiden Besucher klappte angesichts ihrer üppigen Oberweite und der etwas zu engen wie auch etwas zu weit geöffneten Bluse die Kinnlade herunter, er fasste sich aber sogleich wieder und setzte eine dienstbeflissene Miene auf.
»Kommissariat Bregenz, Abteilung Kriminalistik«, begann der Jüngere die Vorstellungsrunde. Bevor er seinen Namen nennen konnte, kam ihm der ältere der beiden Besucher zuvor, dessen übergewichtiger Körper in einem dunkelgrauen Nadelstreifen-Dreireiher steckte und der offenbar eine bedeutende Position innehaben musste. Er deutete vornehm eine leichte Verbeugung an, wobei sein breites Doppelkinn über den Hemdkragen hinausquoll, und stellte sich als Konrad Griesbacher vor, ein Regierungsbeamter des Landes Vorarlberg.
Glattlinger bedeutete den Herren, am Besprechungstisch Platz zu nehmen, und wies Jacqueline an, alle drei mit Kaffee zu versorgen.
»Für mich nicht, danke«, sagte Griesbacher, der offenbar rasch zur Sache kommen wollte. Er lehnte sich in den Besprechungsstuhl aus verchromtem Stahlrohr zurück, legte mit aufgestützten Ellenbogen seine Fingerspitzen zu einem Dach zusammen und blickte zu dem Jüngeren, der noch rasch seine Brille putzte und noch nicht dazu gekommen war, seinen Namen zu nennen.
»Werter Herr Glattlinger«, begann der Jüngere, nachdem er seine randlose Brille mit ovalen Gläsern wieder aufgesetzt hatte, »wir dürfen davon ausgehen, dass Ihre für den Verkehr zuständigen Beamten regelmäßig die Zufahrt kontrollieren, die hinter dem Grenzübergang zum Tunnel führt?«
Glattlinger zog seine kräftigen Augenbrauen zusammen, die wie zwei dunkle Balken über seinen wachen Augen prangten. Sein Blick wanderte zwischen den beiden Männern hin und her, und er spürte einen Anflug von Ärger darüber, dass sich der österreichische Kollege nicht präziser ausdrückte.
»Um Ihnen das genau sagen zu können, müsste ich mit den Kollegen von der Verkehrspolizei Rücksprache halten. Aber der Grenzverkehr unterliegt natürlich einer gewissen Überwachung, wenn auch nicht lückenlos und auch nicht rund um die Uhr«, antwortete Glattlinger.
»Vor etwa vier Wochen, genauer gesagt am zweiten September, gab es im Tunnel in Fahrtrichtung Rheintalautobahn einen Verkehrsunfall mit einem Personenwagen, der im Tunnel ausgebrannt ist. Dass über diesen Unfall bislang weder in Österreich noch in Deutschland in den Medien berichtet wurde, liegt daran, dass der Vorgang von Seiten der Vorarlberger Landesregierung der Geheimhaltung unterliegt, weil es bei diesem Unfall einige, nennen wir es mal so, merkwürdige Ungereimtheiten gibt«, berichtete Konrad Griesbacher mit Nachdruck in der Stimme, ohne seine Sitzhaltung zu ändern.
Glattlinger musste feststellen, dass Griesbacher kaum weniger in Rätseln sprach.
»Was ist mit dem Fahrer oder den Insassen, konnte eine Identität festgestellt werden? War das Fahrzeug in Deutschland oder in Österreich zugelassen?«
Der Beamte vom Bregenzer Kommissariat übernahm es, die Details zu nennen, und versetzte Glattlinger damit in zunehmendes Erstaunen. »Der Wagen ist etwa in der Mitte des Tunnels an die Seitenwand einer Pannenbucht geprallt. Im Wagen saß nur der Fahrer, der bis zur Unkenntlichkeit verbrannt ist. Keine Hinweise auf einen Unfallbeteiligten, keine Bremsspuren. Wir müssen im Moment davon ausgehen, dass der Fahrer den Unfall in Selbstmordabsicht herbeigeführt hat. Die Kennzeichen sind offenbar vorher abmontiert worden. Über die Fahrgestellnummer konnten wir bisher nur ermitteln, dass das Fahrzeug nicht in Österreich zugelassen war.«
Der Beamte beugte sich nach vorne und sprach jetzt leiser. »Im Kofferraum des Kombis befanden sich zwei Gasflaschen. Auf dem Beifahrersitz lagen noch mal zwei kleinere Gasflaschen, und an die war ein Schweißbrenner angeschlossen. Wie unsere Experten herausgefunden haben, muss der Schweißbrenner gebrannt haben, und er lag so zwischen den beiden Propangasflaschen, dass die Schweißflamme deren Stahlmantel an jeweils einer Stelle durchgebrannt hat. Derjenige muss also die Absicht gehabt haben, die Gasflaschen zur Explosion zu bringen. Aber das ist nicht passiert. Die Propangasflaschen müssen leer oder fast leer gewesen sein. Der Wagen ist also deshalb ausgebrannt, weil die Schweißflamme die brennbaren Materialien im Innenraum in Brand gesetzt hat. Unklar ist aber, ob der Fahrer den Schweißbrenner selbst entzündet hat oder ob es jemand anders getan hat.«
»Wer soll das sonst gewesen sein?«, fragte Glattlinger, dem diese Geschichte immer absurder vorkam.
»Eine der hinteren Türen stand offen. Es ist nach Meinung unserer Experten unwahrscheinlich, dass sich die Tür beim Aufprall von selbst geöffnet hat. Es hat also den Anschein, als hätte jemand nach dem Aufprall die Tür geöffnet, um den Schweißbrenner anzuzünden.«
»Dann müsste ja noch eine zweite Person beteiligt gewesen sein?«, meinte Glattlinger.
»Wie auch immer«, schaltete sich Griesbacher dazwischen, den die ermittlungstechnischen Details weniger interessierten. »Die Vorarlberger Landesregierung schließt bei diesem Vorfall nicht aus, dass es sich möglicherweise um einen geplanten Terroranschlag gehandelt hat. Aus welchem Grund auch immer hatte jemand die Intention, mitten im Tunnel einen größeren Schaden herbeizuführen. Wer dies war und was dahintersteckt, darüber bin ich der Landesregierung eine Aussage schuldig. Aber die Aufklärung des Falles obliegt hier zunächst zuständigkeitshalber Deutschland, weil wir nur davon ausgehen können, dass das Fahrzeug in Deutschland zugelassen gewesen sein könnte. Zumindest ist der Wagen von der deutschen Seite aus in den Tunnel eingefahren.«
»Das Interesse an der Aufklärung ist auch deshalb so groß, weil der Tunnel seit der Eröffnung vor sechs Jahren eine bedeutende Verkehrsverbindung ist«, erklärte der österreichische Kriminalbeamte. »Wegen so eines Vorfalls kann es passieren, dass irgendwelche Reiserouten-Ratgeber oder der deutsche ADAC die Tunnelstrecke als unfallgefährlich einstufen. Dann weichen die Touristen auf andere Routen aus, und das schadet letztlich dem Tourismus in Vorarlberg und im Montafon.«
Guntram Glattlinger verstand die politische Dimension dieser Unfallgeschichte. »Gut, wir haben einen ausgebrannten Kombi, einen nicht identifizierbaren Fahrer und eine selbstgebastelte Gasflaschen-Bombe, die nicht explodiert ist«, fasste er zusammen. »Es sieht für mich danach aus, als hätte jemand eine Leiche entsorgen wollen. Die Frage ist aber, warum dies jemand auf derart spektakuläre Weise tun sollte?«
»Wir haben unsere Ermittlungen eingestellt und übergeben den Fall damit an Sie zur weiteren Aufklärung«, sagte der Jüngere, bevor Glattlinger neue Fragen stellen konnte.
»Meine Kollegen werden natürlich fragen, warum der Fall erst nach über vier Wochen zu uns herübergereicht wird«, bemerkte Glattlinger.
Konrad Griesbacher räusperte sich, rutschte auf der Sitzfläche des Stuhls etwas nach vorne und setzte zu einer gedehnt vorgetragenen Erklärung an. »Nun, wie Herr Jungbichler ja schon deutlich gemacht hat, haben wir es mit einem Fall zu tun, der innenpolitisch eine gewisse Brisanz hat. Dadurch ist die Akte über einige Schreibtische in der Landesregierung gegangen, von wo der Vorgang erst mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung wieder zu uns heruntergereicht wurde. Dann allerdings mit dem Vermerk, dass unverzüglich ein Bericht über die genauen Hintergründe vorzulegen ist.«
*
Über der Autobahnstrecke lag an diesem Mittwochvormittag eine dichte, graue Nebeldecke. Am Ufer des Chiemsees, an dem die A8 direkt vorbeiführte, waren in der Entfernung noch die Berge zu sehen gewesen. Nach der Gefällestrecke am Irschenberg in Richtung Salzburg war er in den herbstlichen Nebel eingetaucht.
Die Reifen des Geländewagens gaben mit ihrem groben Profil auf dem Straßenbelag der Autobahn ein Geräusch von sich, das zu dem Gitarrensound des Rocksongs passte, der gerade im Sender Ö3 lief.
In der Führerscheinmappe lag bereits sein neuer Pass, der ihn als Staatsbürger des Fürstentums Liechtenstein auswies. Es war ein günstiger Zufall gewesen, dass er vor ein paar Jahren bei einer Bergwanderung im Nenzinger Himmel, einem Grenzgebiet im Montafon zwischen Österreich und Liechtenstein, wegen eines aufziehenden Gewitters an einer bewirtschafteten Alpe einkehrte und dabei Töni Landauer kennengelernt hatte. Für Landauer war die Alpe nur ein Nebenverdienst, denn sein Spezialgebiet war es, einem gegen Bares eine liechtensteinische Identität zu verschaffen.
Nun musste er sich daran gewöhnen, nicht mehr Alois Leibacher zu sein. Für die Liechtensteiner Niederlassung seines Tief- und Straßenbauunternehmens existierte zwischenzeitlich bereits ein Anstellungsvertrag, mit dem er sich selbst unter seinem neuen Namen als neuen Geschäftsführer »eingestellt« hatte.
Töni Landauer war im Fürstentum Liechtenstein bei einem Elektroinstallationsbetrieb beschäftigt gewesen, der auch die Elektroanlagen in Banken und in staatlichen Gebäuden instand hielt. Bei der Erneuerung der Beleuchtungsanlage in einem öffentlichen Verwaltungsgebäude, in dem auch die zentrale Einwohnerbehörde untergebracht war, gab es neben der Haustechnikzentrale eine stets unverschlossene Kellertür. Dahinter lag ein Raum mit den Akten der registrierten Einwohner. Landauers Auftrag war, in diesem Keller eine Notbeleuchtung zu installieren. Man hatte ihn dort allein arbeiten lassen, und nachdem er mit der Installation fertig gewesen war, überkam ihn die Neugier, sodass er eine der schweren Stahlblech-Schubladen des Aktenschranks aufzog. Er hatte vor Aufregung Herzklopfen bekommen, weil die Akten völlig frei zugänglich waren, und so hatte er in der Schublade ›B‹ eine der Akten herausgegriffen und durchgeblättert. Es war die Akte des 1901 geborenen Anton Brander gewesen, die mit dem Stempelaufdruck ›Verstorben‹ und dem Sterbedatum versehen war. Seiner Neugier konnte er auch nicht widerstehen, als er in einem offenen, schlichten Furnierholz-Aktenschrank einen Karton mit der Aufschrift ›Personenerfassungskarten‹ fand. Der Karton enthielt leere Karteikarten, die sich dann ausgefüllt in den Akten wiederfanden. Auf der Außenseite des Kartons hatte jemand flüchtig mit Kugelschreiber den Vermerk ›Nicht mehr gültig, ab 1980 nur noch neue Karten verwenden‹ geschrieben. In diesem Moment durchfuhr es ihn heiß und kalt, weil er plötzlich eine teuflische Idee hatte. Er nahm einige der leeren Karteikarten aus dem Karton und schmuggelte sie in seiner Elektriker-Werkzeugtasche hinaus.
Töni lebte seitdem im Grunde davon, dass er regelmäßig über Friedhöfe ging und nach frischen Gräbern von Menschen Ausschau hielt, die offenbar keine Angehörigen hatten und deshalb unter einem schnell hingeschütteten Erdhaufen mit einem einfachen Holzkreuz bestattet wurden, auf dem lediglich der Name sowie das Geburts- und Sterbejahr standen. Dann forschte Landauer nach, wo diese Menschen gelebt hatten und ob sie in der unmittelbaren Umgebung überhaupt bekannt gewesen waren. Hatten die Verstorbenen ein anonymes – meist auch ein vereinsamtes und verarmtes – Leben geführt, konnte er damit diese Identität auf eine andere Person übertragen. Damit dies auch amtlich ordnungsgemäß registriert wurde, füllte er nach dem Muster, das er sich noch in dem Aktenkeller eingeprägt hatte, eine leere »Personenerfassungskarte« aus, um diese gegen die vorhandene Karteikarte auszutauschen. Dazu hatte er bei Installationsarbeiten in den Büroräumen der Einwohnerbehörde ausfindig gemacht, welcher Schreibmaschinentyp dort benutzt wurde. Er hatte sich nach mühevoller Suche und über einige Umwege genau diesen Typ Schreibmaschine besorgt und war damit ausgerüstet, wenn sich jemand wie Alois Leibacher eine neue Identität verschaffen wollte. Für die neue Karteikarte übernahm er dabei die Daten des Verstorbenen und änderte nur das Geburtsdatum entsprechend. Weil die alten leeren Karteikarten offen herumgelegen hatten, waren diese leicht angegilbt, sodass der Austausch einer Karte kaum auffiel. Wenn er im Archiv eine »Personenerfassungskarte« austauschen musste, verschaffte er sich einfach in seiner Arbeitsmontur und mit der Elektriker-Werkzeugtasche Zutritt zum Gebäude. Niemals hatte ihn jemand danach gefragt, was er dort genau zu tun hätte.
»Noch ischt es möglich«, hatte Töni Landauer vor einem Monat zu Alois Leibacher gesagt, »aber ich hab gchört, dass die Einwohnerbehörde bald auf ›maschinenlesbare Datenverarbeitung‹ modernisiert wird, und dann ischt das vorbei.«
Es war inzwischen Mittagszeit, und etwa 100 Kilometer vor Wien bog Leibacher in die Ausfahrspur zu einer Autobahnraststätte ein. Immer wieder musste er sich selbst an seine neue Identität erinnern. Er parkte vor der Raststätte und nahm den neuen Ausweis aus der Führerscheinmappe, den er seit einigen Tagen besaß und seitdem immer wieder – für ihn immer noch nicht richtig fassbar – betrachtete. An einem Montag vor drei Wochen hatte er das liechtensteinische Einwohnermeldeamt betreten und einen neuen Ausweis beantragt. Der Dame vom Amt hatte er die – immerhin nicht gänzlich unwahre – Geschichte aufgetischt, dass sein Auto ausgebrannt war und dabei auch seine Dokumente vernichtet worden waren. Die Aufregung war beinahe unerträglich und hätte ihn fast schon verraten, als die Dame von der Behörde ins Archiv ging und die »Personenerfassungskarte« holte – und dann lag die Karteikarte tatsächlich auf dem Tisch, und die Mitarbeiterin übertrug dienstbeflissen die Daten in die Antragsformulare für Personalausweis und Führerschein. Töni Landauer hatte ganze Arbeit geleistet.
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