Kitabı oku: «Kopf über Wasser», sayfa 3

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Das Hallenbad

Das Hallenbad – ein Prachtbau von einem Betonklotz

Heuer begeht das Hallenbad am 13. März sein 29-jähriges Bestehen. Das soll mit einem Fest gefeiert werden – ein Probelauf für das große Fest zum 30. Jubiläum im kommenden Jahr. Wenn das Hallenbad dann überhaupt noch geöffnet haben wird; wenn es dann überhaupt noch steht.

Die goldenen Zeiten (die 1970er) sind lange vorüber, die 80er (ebenso golden für Hallenbäder) ebenfalls. Am Montag, dem 14. April 1986, übernahm das Ehepaar Antl offiziell die Geschäftsführung (voller Träume und großer Pläne). Die 90er waren bereits schwieriger – die meisten Menschen hatten schön langsam Besseres zu tun; die anderen verliebten sich in die Thermalbäder, das Ehepaar Antl blieb seinen Träumen und großen Plänen treu.

Heute kann man es nicht mehr genau sagen. Keiner weiß so recht, wie die 2000er einzuschätzen sind. Immerhin: Zum sogenannten Millennium ging die Welt nicht unter. Aber: In wenigen Monaten werden entführte Flugzeuge in Gebäude krachen. So gesehen: immer noch eine unschuldige Zeit, die Zeit vor dem 29-jährigen Hallenbadjubiläum und dem 15-jährigen Geschäftsführungsjubiläum des Ehepaars Antl, was in zweieinhalb Wochen gemeinsam gefeiert werden soll.

Kurzum: Heute, am Dienstag, dem 20. Februar 2001, hat man auf jeden Fall Schwierigkeiten, sich in der Welt zurechtzufinden. Sicher, die hatte man auch schon früher. Aber die 2000er – damit sind die Menschen noch immer nicht so richtig warm geworden; das werden sie wohl bis zu den 2010ern nicht. (Und danach wird er immer mehr zur Nebensache, der Wunsch, der Drang, sich zurechtfinden zu wollen.)

Außerdem (und vor allem – denn was kümmert die Leute im Hallenbad schon die Welt draußen und die Idee, dass ein neuer Weltkrieg oder etwas in der Art (Weltkrieg, das sagt man heute so nicht mehr, hat man nicht einmal mehr zu Beginn der 2000er so gesagt) drohen könnte, der dann doch nicht kommt, aber nie ganz abwegig sein und das seine zur allgemeinen Verwirrung beitragen wird, ganz abgesehen von der Angst vor Anschlägen) wird es im Hallenbad jetzt langsam wirklich eng.

Die Stammgäste sind schnell und an einer Hand oder an maximal zwei Händen abgezählt. Das Zählen hat man hier aber gar nicht mehr gern, denn Zahlen leuchten längst nur noch in roter Farbe. Deshalb hat sich auch Hofrat Spreitzer persönlich der »Causa Hallenbad« (ein Begriff, der sich mittlerweile im Gemeinderat und in der lokalen Presse durchgesetzt hat) angenommen – und das nicht ganz ohne Vergnügen (ja, es könnte sogar sein, dass er für das Gelände, auf dem das Hallenbad einmal gestanden sein wird, bereits eine lukrative Idee in der Hinterhand hat). Gerne absolviert er deshalb einen der unangekündigten Besuche ebenso persönlich, überprüft die Hygiene, wirft einen Blick in die Bücher, in die Technikräume oder unter den Rock der hinkenden Kellnerin Susi, wenn die sich bückt und nicht aufpasst. Das Ehepaar Antl lässt ihm die Freude, wird aber zunehmend unentspannt, denn die Zahlen lügen nicht. Die Träume und die großen Pläne sind verblasst; eigentlich sind sie längst vergessen.

Und überhaupt: Die Welt steht zwar noch, aber irgendetwas stimmt nicht mehr so ganz. Und irgendwie scheint das auch das Hallenbad zu spüren …

4.

19 Uhr – Dienstantritt: umziehen, aufwärmen, dann in die Kantine. »Herbert!«, rufen die einen, »Peter!« die anderen. Herbert Peter salutiert und leuchtet mit seiner Taschenlampe einmal durch die Runde. Er steht gut da in seinen schweren Stiefeln und im Kampfanzug, den er Uniform nennt. Steht gut da und weiß es und brüllt: »Was ist da los?! Dienstantritt!« – »Scheiß drauf! Wir haben bald Dienst-Abtritt.« – »Gratuliere! Deshalb bin ich ja nicht ihr.« – »Eben!« – »Dann bis morgen!« – »Gute Nacht!« – »Fängt gerade erst an«, sagt Herbert Peter, lacht laut, geht ab und hofft, dass ihm jemand hinterhersieht, denn es sieht gut aus, wie er den Raum verlässt. Er ist ein Cowboy, oh ja.

Herbert liebt das. Er trinkt fast immer nur zwei Bier mit ihnen. Wenn er die Kantine verlässt, ruft Fred gerne: »Keine Straßenschuhe im Bad!« – »Kein Problem«, lacht Herbert, »nicht mein Problem …« Dann geht er – raus in die Halle und über den Gang. Er hat die Schlüssel und kann gehen, wohin er will, geht aber direkt ins Bad, legt sich am Beckenrand in einen Liegestuhl und behält das große Kantinenfenster im Auge, wartet, bis dahinter alle Lichter ausgegangen sind. Bis das Haus ihm gehört, komplett in Schwarz, mit Schlüsselbund, Taschenlampe und schweren Stiefeln.

Wenn Nachtwächter arbeiten (und es dauert nur ein paar Wochen, dann machen sie es auch in ihrer Freizeit und überhaupt zu jeder Zeit), dann machen sie es so: Den Kopf immer leicht zur Seite geneigt, halten sie das Ohr in die Dunkelheit und kneifen die Augen zusammen. Sie horchen.

Herbert Peter hört dem Wasser zu. Dem Gurgeln und Plätschern, und es bleibt dabei: In regelmäßigen Abständen hört er im Becken etwas auftauchen – was in einem Teich und vielleicht sogar in einer Sommernacht im Freibad kein Problem wäre. Aber in einem Hallenbad sollte nachts nichts auf- und abtauchen; schon gar nicht etwas, das man nicht sieht, wie schnell man den Kopf auch dreht.

Diese Geräusche, jene, die einen verfolgen, nennt man in seiner Branche Spaßverderber. Und wenn Nachtwächter im kleinen Kreis zusammensitzen, dann erlauben sie es, dass auch darüber geredet wird. Kaum einmal wird dabei gelacht und nicht selten haben die Spaßverderber eine solche Laufbahn beendet, haben aus dem Nachtwächter einen Kaufhausdetektiv, Versicherungsmakler oder Jahrmarktfahrer gemacht.

Was Nachtwächter sonst noch machen: Sie öffnen alle Schubladen, weniger aus Neugier denn aus Langeweile; sie essen ständig aus dem Kühlschrank (ebenfalls aus Langeweile); sie versuchen zu schlafen, und immer wieder horchen sie und reden sich ein: Da war nichts … Sie fahren tatsächlich mit Bürostühlen auf den Gängen Rennen gegen sich selbst. Sie singen und pfeifen (gegen die Angst). Und dann und wann und öfter, als man denkt, masturbieren sie sich einmal quer durch das zu bewachende Objekt. Ist es ein Hallenbad, so begünstigt das natürlich diesen Zeitvertreib: Da kommt man auf Ideen, würden ähnlich Interessierte Herbert Peter recht geben. So war das bis vor Kurzem auch; aber in letzter Zeit hat er keine Lust auf den Spezialrundgang. Schuld daran ist ein Stuhl, und wie er da stand – allein am Beckenrand.

Herbert Peter war und ist sich bis heute sicher, dass er ihn nicht übersehen und schon gar nicht selbst dort hingestellt hat. Wie denn auch? Es war keiner von den grünen Plastiksesseln, sondern eines der alten Ungetüme aus der Eingangshalle, die aus Holz mit oranger Polsterung. Stand da am Beckenrand, das war nicht sein Platz. Herbert Peter dachte nicht daran, ihn zu umkreisen, mit dem Fuß anzustoßen oder gar darauf zu sitzen. Er dachte an nichts, sondern ging ins Büro (wobei sich die Haut auf seinem Nacken zusammenzog und erst am nächsten Morgen zuhause unter der Dusche wieder einigermaßen entspannte) und wartete ab. Er fragte nicht nach, was aus dem Stuhl geworden war, ob man ihn wieder in die Eingangshalle zurückgetragen hatte und wer das getan haben sollte, oder ob er von selbst dort hingegangen war. Am Ende wäre es wohl auf das eine hinausgelaufen: He, ist doch nur ein Stuhl …

Wie in den gut vierzig Nächten davor ist auch heute Nacht alles friedlich – bis jetzt. Die orangen Stühle stehen draußen in der Halle (diesen Kontrollblick lässt er sich nicht nehmen; er zählt sie jeden Abend durch), sie sind nicht hinter Herbert Peter her. Das Wasser plätschert weiter, dass irgendetwas von Zeit zu Zeit auf- und abzutauchen scheint, überhört er.

Herbert Peter zieht sein Mobiltelefon hervor: keine Anrufe. Er hat versprochen, Bescheid zu geben, wenn die Luft rein ist. Er hat schon lange nicht mehr zu einem seiner Nachtschwimm-Specials eingeladen, heute hat er aber zwei Autoschrauber mit Anhang an der Angel und da würde er eine Ausnahme machen. Seit Monaten gelingt es ihm nicht so recht, in die Szene reinzukommen; das würde vielleicht helfen. Denn wer möchte nicht einen Nachtwächter zum Freund haben – den mit den Schlüsseln? Zugleich ahnt er, dass dieser eine Anruf vermutlich in einem Gelage von zwanzig oder mehr Autoschraubern plus Anhang enden würde. Das wäre dann selbst ihm zu viel, das kriegt man bis zum Morgen nicht mehr sauber.

Herbert Peter steckt sein Mobiltelefon wieder in die Tasche und horcht und riecht. Manchmal wird er hier drinnen auch von Gerüchen überrascht, die sich trotz der Chlorwolke, die über dem Becken hängt und alle Ecken ausfüllt, breitmachen – meistens undefinierbare Gerüche, dann wieder eindeutig Erdbeeren, zum Beispiel. Jetzt aber hört er nichts und riecht nichts Verdächtiges. Kurz kehrt die Euphorie zurück, wobei er das lächerlich findet, aber es kribbelt wieder: Das Haus gehört ihm allein, er ist der Boss!

Dann geht das Licht in der Kantine aus. Das war’s: Sperrstunde, früher als sonst. Herbert Peter ist allein, die Euphorie verflogen, das Wasser im Becken laut.

Er macht die Taschenlampe an und lässt sich für den Weg durch die Halle ausdrücklich Zeit. Er sperrt die Tür zur Kantine auf und schaltet das Licht ein. Nicht nur einmal hat er einen der Stammgäste überrascht, den Bella einfach an der Schank liegen gelassen hatte. Von einer solchen nächtlichen Begegnung hat niemand etwas, beiderseitiger Schreck, viel Gebrüll und Adrenalin. »Gut, dass sie mir keine Waffe geben«, hat Herbert Peter dann immer gesagt und er und Grant, oder wer auch immer von diesem Pack, haben übertrieben laut und lang gelacht, denn so ist das, wenn einem das unnötig ausgeschüttete Adrenalin aus dem Körper fährt. Und zu zweit hat ihnen das Gratisbier gleich noch besser geschmeckt und Grant, oder wer auch immer, hat gleich wieder vergessen, dass er einen Teil seines Rausches bereits weggeschlafen hatte, und wollte bleiben und noch mehr Gratisbier. »Aber auf gar keinen Fall«, hat Herbert Peter in einem solchen Fall schnell seine Fassung und seine Autorität wieder beisammen.

Jetzt liegt aber niemand mit dem Kopf auf der Schank, die Kantine ist leer; nur die Geräte brummen. Wenn es Nacht ist, wird es im Hallenbad erst so richtig laut. Herbert Peter sieht auch unter die Tische, nur um sicherzugehen. Er klatscht in die Hände und ist für den Moment ganz zufrieden, hält ein großes Glas unter den Zapfhahn und lässt den letzten Schwall dann direkt in seinen Mund. Er ist wieder da, er ist der Boss!

Der Mut aus der Kantine dauert an. Herbert Peter steht im Bad, hält sein Ohr in die Luft und hört nur das Wasser, dann steckt er einen Kopfhörer rein, dreht die Musik auf volle Lautstärke und geht los. Zunächst rückwärts im Moonwalk, Moonwalk, Moonwalk. Der gelingt ihm nicht ganz, was er auf die schweren Stiefel zurückführt, aber es hat ihn ja keiner gesehen (hoffentlich, denn sonst wäre ja einer hier).

Herbert Peter steckt den zweiten Kopfhörer in sein zweites Ohr und startet seine Runde: raus durch die Schwingtür und rechts herum, quer durch die Eingangshalle (aus den Augenwinkeln beobachtet er die orangen Stühle, sie stehen still), er biegt in den Gang ab, das Licht geht automatisch an, eine Neonröhre flackert, das muss so sein. Er lacht, sieht über seine Schulter, dann eine Drehung und wieder geradeaus, er tänzelt zur lauten Musik, irgendein Techno ohne Namen, bumm bumm, tack tack … Als er an der Tür zu den Umkleidekabinen vorbeikommt, nimmt er den Kopfhörer aus seinem linken Ohr und stellt das Tänzeln ein. Er atmet durch die Nase ein und aus, ignoriert den Aufzug (in den Keller führt seine Runde immer erst nach fünf Uhr morgens, wenn es draußen langsam hell wird, obwohl man das im Keller nicht mitbekommt – und eigentlich wäre es auch egal, sicherheitstechnisch, eigentlich alles egal, aber das Drehen von Runden gehört für einen Nachtwächter eben dazu, außerdem vergeht dann die Zeit). Er ignoriert den Aufzug und steckt den Kopfhörer zurück in sein linkes Ohr, bleibt stehen und deutet ein Schlagzeugsolo an, das so nicht zur Musik passt, dann tänzelt er wieder.

Scheiß Job, denkt Herbert Peter und lacht leise, und ab in den langen Gang. Und da hört sich der Spaß auf. Lange Gänge sind die Spielverderber, auch für Nachtwächter (vor allem für Nachtwächter): Schon nach den ersten Schritten gelangt man an jenen Punkt, ab dem es kein Vor und Zurück mehr gibt; sollte am Ende des langen Ganges jemand auftauchen, der dir den Weg versperrt, oder einer hinter dir, der dich verfolgt. Eigentlich will er schneller gehen, eigentlich will er laufen, wird aber immer langsamer – bis er stehen bleibt und sich nicht mehr bewegt. Die Musik kommt immer noch laut aus seinen Kopfhörern, aber eigentlich hört er nur das Wasser. Also bleibt er stehen und hört dem Wasser zu.

5.

Wie das Wasser den ganzen Tag lang gegen den Beckenrand schlägt, durch die weißen Plastikgitter abgesaugt wird, das ständige Gurgeln und Rauschen, ein Katalog voller Geräusche und doch immer nur eines und immer dasselbe – Fred macht das wahnsinnig. An manchen Tagen nicht nur im übertragenen Sinn. Da sitzt er zehn Minuten lang in einer Umkleidekabine und überlegt beim Aufsperren ernsthaft, wie er dort eigentlich hingelangt ist. Natürlich weiß er es noch, seine Flucht aus der Halle, ihm kommt es aber dennoch immer wieder wie eine echte außerkörperliche Erfahrung vor. Und mit denen kennt er sich schließlich aus.

Wenn Fred nach Badeschluss auf dem Parkplatz steht, fehlt es ihm dann. Wenn er abends zuhause vor dem Fernseher sitzt, wünscht er sich das Rauschen des Wassers zurück. Er geht schlafen, ohne die Zähne zu putzen, und weiß, dass er es morgen wieder kriegen wird.

Am Morgen ist Fred wie immer der Erste und wie immer allein im Bad (glaubt er). Herbert Peter verschwindet raus in den Tag, eine Stunde bevor Fred das Eingangstor auf- und hinter sich wieder versperrt; die anderen kommen erst um neun. Dann heißt es für ihn saubermachen, alles für einen langen Badetag vorbereiten, kontrollieren und optimieren – sprich: ab in die Kantine, Kaffeemaschine einschalten, Kaffee trinken, eine Zeitung durchblättern, später eine Runde ums Becken und vielleicht einmal den Finger ins Wasser halten, wegen der Kontrolle. Wie ernst Fred seinen Job nimmt, das weiß Werner Antl. Zu oft hat er Fred über seine Bildschirme bei dem beobachtet, was er morgens alles nicht macht. Denn nicht selten ist Werner noch früher im Bad, zumeist wenn es am Abend noch Streit mit Marina gegeben hat (selten, aber heftig). In einem solchen Fall fährt er die zehn, elf Kilometer (von Frühjahr bis Spätherbst fährt er sie mit dem Rad), wenn es sein muss, im Morgengrauen, um sich und ihr die Schmach eines schweigsamen Frühstücks zu ersparen, fährt die Kilometer, hält im Büro die Füße still, und wenn sie um neun durch die Tür kommt, gibt er vor zu arbeiten, begrüßt sie beinahe überschwänglich und meist ist bis zum Mittagessen alles wieder vergessen.

Auch Herbert Peters halbherzige Rundgänge kennt Werner, selbst einen seiner Spezialrundgänge musste er einmal über die Bildschirme mitansehen, weil er einfach nicht wegsehen konnte. Denn noch seltener, aber doch, muss er sich und Marina mitunter auch die Schmach einer Nacht ersparen, in der ein jeder von ihnen nach einem Streit im Bett rotiert und sie einander ins Gesicht schnaufen. In einem solchen Fall steigt Werner noch vor Mitternacht in seinen alten Wagen oder auf sein altes Rad und fährt die zehn, elf Kilometer ins Hallenbad, verschwindet im Büro und schläft auch dort, meistens schläft er aber kaum, wenn er die Nacht im Hallenbad verbringt.

Er steigt aus den Hausschuhen und rollt im Drehsessel zum Schnapsschrank hinüber und trinkt sauteuren Whisky, und weil er dabei die Bildschirme beobachtet, kann er gar nicht übersehen, wie Herbert Peter so versucht, die Nacht herumzubringen. Das kann Herbert Peter nicht wissen, womöglich würde es ihn im Nachhinein sogar beruhigen, da ihn das Gefühl, beobachtet zu werden, nicht getäuscht hat. Aber Werner hat es ihm bis jetzt noch nicht verraten und wird auch nie ein Wort über den Spezialrundgang verlieren. Und er wird kein Wort über das verlieren, was er in der vergangenen Nacht auf einem seiner Bildschirme gesehen hat, allein schon, weil er nicht wüsste, wie er es sagen soll.

Er hat in den fünfzehn Jahren im Hallenbad manches zu sehen geglaubt, von alten Geschichten gehört und einiges mit eigenen Augen gesehen. Vergangene Nacht hat er auf seinem Bildschirm Herbert Peter gesehen, wie der auf dem Gang stand und sich nicht bewegte, so als würde er nicht mehr richtig funktionieren. Dass hinter ihm eine Frau stand, hat Herbert Peter nicht gesehen, Werner aber schon. Eine alte Frau im Badeanzug, auf dem Kopf eine Badehaube, die unförmig wegstand, vielleicht war da auch Blut, das auf dem schwarzweißen Bildschirm schwarz unter der Badehaube hervorkam, vielleicht auch nicht. Werner ging mit dem Gesicht ganz nah ran, bis das Bild unscharf wurde. Sie schien Herbert Peter von hinten anzubrüllen, der bewegte sich aber immer noch nicht. Werner klopfte mit dem Fingernagel gegen den Bildschirm. Die Frau hob den Kopf und sah ihm genau in die Augen.

Episode 2

6.

»Wenn du einen Ball allein im Wasser treiben siehst«, würde Fred sagen, hätte er einen Sohn, »dann setz dich hin und sieh ihm dabei zu. Und sei es nur für zwei, drei Minuten«, würde er sagen. »Und warum?«, würde sein imaginärer Sohn fragen. »Weil du damit Zeit gewinnst«, würde Fred sagen und damit etwas sehr Kluges. Weil er aber keinen Sohn hat – und selbst wenn, würde der wohl nicht um acht Uhr morgens mit ihm am Beckenrand sitzen, aber wer weiß –, weil er keinen Sohn hat und allein am Becken sitzt, sagt er nichts. Im Wasser treibt ein Ball vorüber, bald hat er es an den Rand geschafft. Fred sieht ihm dabei zu. »Schön ruhig hier, nicht?«

Fred schreit auf, »Verdammt!«, lächelt aber, weil es nur Werner ist und aus dem ersten Schrecken Erleichterung wird. »Keine Angst«, sagt Werner Antl, »ich bin’s nur.« – »Haben Sie mich erschreckt!«, lacht Fred. »Sind wir tatsächlich per Sie?«, fragt Werner, und Fred antwortet: »Kommt auf die Uhrzeit an.« – »Ha! Das ist gut!« Jetzt lacht Werner und setzt sich neben Fred an den Beckenrand. Er sieht aus, als wäre er froh, auch einen Grund zum Lachen zu haben und Fred fragt, ob mit ihm alles in Ordnung sei. »Lange Nacht«, sagt Werner, »seltsame Nacht.« Fred riecht hinter dem vielen Chlor in der Luft eine Spur Schnaps und nickt. »Nächte sind immer lang«, sagt er, und hat damit etwas Kluges laut gesagt. Dann sitzen beide da und schweigen. Als ihm dieser Moment zu lang dauert, hat Fred das Gefühl, dringend noch etwas sagen zu müssen: »Sehen Sie – der Ball da. Treibt einfach so im Wasser.« Werner Antl nickt.

Dann ist es wieder still. Bis Werner murmelt: »Da möchte man meinen, jeden Moment taucht eine Hand auf und zieht ihn unter Wasser …« Dabei sieht er Fred von der Seite an. Der schüttelt langsam den Kopf: »Ich weiß nicht. Mich beruhigt er, der Ball.« – »Klar«, sagt Werner. Und nach einer weiteren Pause: »Schon einmal was gesehen hier drinnen?« – »Was meinen Sie? Was Sexuelles?« – »Nein. Und bitte, sag endlich Du zu mir. Das hält man ja nicht aus.« – »Ok, entschuldigen Sie.« – »Na?« – »Der alte Witz.« – »Ach ja. Ha!« – »Hast du etwas gesehen?« – »Nein, alles bestens. Lange Nacht. Seltsame Nacht.«

»Guten Morgen, die Herren.« Eine tiefe Stimme hinter ihnen, Werner und Fred schrecken diesmal zu zweit auf. »Na, was denn?« Bella kommt auf sie zu, in den Händen ein Tablett mit drei Tassen darauf. »Ich bin heute gut gelaunt«, sagt sie, nimmt eine Tasse vom Tablett und drückt sie Fred in die Hand, »aber nutzt mir das ja nicht aus.« Sie wackelt mit den Augenbrauen. »Und die hier ist für dich, Chef.« Sie reicht Werner eine Tasse mit der Aufschrift I AM THE BOSS. »Entzückend«, sagt Werner. »Danke«, antwortet Bella und deutet einen Knicks an. Sowohl Werner als auch Fred geht ein ähnlicher Gedanke durch den Kopf: Gute Laune wirkt bei Bella noch gruseliger als alles, was sie ihnen sonst so ins Gesicht bellt. Kurz denken beide über mögliche Gründe für ihre gute Laune nach, in unterschiedlicher Deutlichkeit, aber in Ansätzen wieder ähnlich; dann schütteln beide unmerklich den Kopf und halten ihre Tasse vors Gesicht. Der Kaffee riecht gut, dampft, und Werners Brillen beschlagen.

»Ich darf doch?«, fragt Bella und lässt sich umständlich neben Fred am Beckenrand nieder. Und jetzt sitzen sie zu dritt da, sehen aufs Wasser und trinken Kaffee. »Ich hatte auch eine seltsame Nacht«, sagt Bella plötzlich und lacht schon wieder, und Fred findet, dass ihr das gar nicht so schlecht steht, das Lachen. »Mhm«, macht Werner. »Und ich habe auch schon einmal etwas gesehen.« Bella nimmt einen kräftigen Schluck. Werner sieht sie lang an, doch sie reagiert nicht. Es ist wieder still, nur das Wasser ist zu hören, das ewig gegen den Beckenrand schlägt und durch die weißen Plastikgitter abgesaugt wird, das ständige Gurgeln und Rauschen, das sie alle lieben und hassen zugleich. »Wo ist eigentlich der Ball?«, fragt Fred. »Welcher Ball?«, fragt Bella.


Eine Stunde später wird an die Eingangstür gehämmert. Georg und Grant drücken ihre Gesichter gegen die Scheibe und brüllen das Glas an. Fred kommt gemächlich durch die Eingangshalle, in der Hand seinen Schlüsselbund. Georg und Grant hämmern trotzdem weiter wie die Irren gegen die Tür. Sind sie ja auch – zwei Irre, denkt Bella, die hinter ihrer Schank steht, tief einatmet und die Luft durch die Nase wieder rauslässt. Zwei Irre, mit denen sie jetzt den ganzen Tag verbringen muss. Wobei: So wie die beiden da durch die Halle stolpern, scheinen sie nicht schon wieder, sondern noch immer unterwegs zu sein. Und wenn sie das sind, fallen bei ihnen meistens gegen Mittag die Lichter aus. Dann gehen sie zwar noch lang nicht nach Hause, halten aber das Maul (»Haltet endlich euer Maul!«), weil sie in einer Ecke liegen und schlafen.

Jetzt aber, um neun Uhr früh, sind sie noch lebhaft, aufgekratzt, idiotisch laut. Und da platzen sie schon in die Kantine, noch während Bella ein weiteres Mal schnauft (eindeutig ein Schnaufen, denn sollte es ein Seufzen gewesen sein, so würde sie das nie zugeben).

»Guten Morgen, die Herren. Wo sind denn eure Badehosen?« – »Die haben wir schon drunter an.« – »Genau! Drunter!« – »Herzeigen!« – »Ich bin unten ohne.« – »Da bin ich mir ganz sicher.« – »Gibt’s hier noch was zu trinken?« – »Schon …« – »Aber?« – »Schon was zu trinken.« – »Aber?« – »Kaffee.« – »Na das bestimmt nicht!« – »Für mich bitte Kaffee.« – »Brav.« – »Danke.« – »Und du?« – »Überrasch mich!« – »Na klar.« – »Für mich bitte Kaffee.« – »Hast du schon gesagt.« – »Danke.« – »Euch geht’s gut?« – »Herrlich.« – »Sieht man.« – »Nicht wahr?« – »Seid ihr nicht zu alt dafür?« – »Wofür?« – »Nichts schlafen und herumstolpern.« – »Dafür ist man nie zu alt.« – »Hab ich auch so gehört.« – »Na dann ist ja alles gut.« – »Sag ich ja.« – »Eben.« – »Ich will jetzt nicht mehr reden«, sagt Bella, drückt auf der Kaffeemaschine einen Knopf und es wird augenblicklich laut. Georg lässt ein Lachen los, wie ein schlechter Schauspieler; während er lacht, holt er Luft, immer wieder. Grant beißt inzwischen von seinem Glas ab und kaut die Scherben. Dienstbeginn in der Kantine.


»Altes Arschloch«, sagt Grant eine Stunde später. Er hält zwar eines seiner Augen mittlerweile geschlossen; um den alten Nazi zu erkennen, wie der glaubt, unbemerkt auf der anderen Seite der Scheibe vorbeizukommen, in seinem lächerlichen Badeanzug, sein verdächtig gemustertes Handtuch über der Schulter – um den alten Nazi zu erkennen, reicht ihm auch ein Auge aus. »Riesenarsch«, murmelt Georg und schnauft.

»Willi, ich glaube, du gewinnst!«, ruft Bella, und Willi taucht grinsend hinter dem Küchenvorhang auf: »Echt?!« – »Sieht ganz so aus«, deutet Bella mit dem Kopf in Richtung des einäugigen Grant und des nuschelnden Georg, der es selbst noch nicht weiß, aber er macht genau das: Unbewusst bringt er seine Arme bereits auf der Schank in Position, legt sie so hin, wie er dann darauf einschlafen wird. Und Bella wird ihm eins mit dem Geschirrtuch überziehen. »He«, wird sie schimpfen, »geschlafen wird dort drüben!« Sie wird ihm noch eins überziehen, auch ein wenig aus Zorn, denn Bella, Willi und Susi haben gewettet, wie lang Georg und Grant noch durchhalten werden.

Elf, hat Bella gesagt, Willi hat auf viertel vor elf getippt, und Susi, weil nichts Besseres mehr übrig war, auf halb zwölf. Jetzt ist es halb elf, und es sieht tatsächlich so aus, als wäre Willi drauf und dran, die Wette zu gewinnen. Gerade hat es nämlich auch Grant erwischt: Mit nur einem geöffneten Auge, den Ellbogen auf die Schank gestützt, ist ihm die Hand weggerutscht und sein Kopf hängt schief vom Hals. »Jahaaa!«, jubelt Willi. »Hast du nichts Besseres zu tun?«, fragt Bella. Dann fragt sie Susi: »Haben wir nichts Besseres zu tun?« – »Ich glaube nicht. Ich nicht.« Dabei macht Susi ein trauriges Gesicht. Und ob sie will oder nicht – da muss Bella lachen und alle lachen mit, sogar Georg und Grant, was denen die letzte Energie kostet. Neun Minuten vor elf sind beide eingeschlafen, womit Willi die Wette haarscharf gewinnt.


Niemand mag es gern allein im Keller, auch András nicht. Er schleicht durch die Gänge und hat kein Ziel. Er würde gerne behaupten, das Haus wie seine eigene Hosentasche zu kennen oder etwas in der Art. Das heißt, er behauptet es natürlich, aber eben nur gegenüber allen anderen. In Wahrheit kennt er das Hallenbad nur so gut, um damit gerade noch durchzukommen. Nicht dass ihn das so sehr stören würde, aber wenn er hier unten im Keller seine Runde macht, wüsste er gern, was nach der nächsten Ecke kommt – ein weiterer Gang, der mit der kaputten Neonröhre an der Decke vielleicht, der mit der schmutzigen Wand, die ihm noch keiner hier erklären konnte (einmal musste er sie selbst putzen, als sie sich mit dem grauschwarzen Film, der die schmutzige Wand – so heißt sie im Sprachgebrauch des Hauses längst auch offiziell – überzieht, noch nicht abgefunden hatten); oder der Gang, in dem die große Uhr so laut tickt, der üble Geruch, das Schlagloch, die eingetretene Tür, das Graffiti, die Mausefalle, der Technikraum, da drinnen brennt es, zischt es und klopft es. Da geht András heute nicht hinein, er ist fertig mit dem Technikraum. Und hinter der nächsten Ecke steht Robert Anker, und András erschrickt gehörig und lautstark.

Robert Anker bindet in diesem Moment sein Badetuch um den Bauch und lässt sich nicht dabei stören. Er nickt András nur kurz zu, der schüttelt den Kopf: »Was machst du bitte hier unten?« – »Und was machst du hier?« – Rundgang.« – »Siehst du, ich auch.« – »Stimmt nicht.« – »Natürlich nicht.« – »Und was sonst?« – »Ich sauniere.« – »Du … was?« – »Saunierst. Ich sauniere, du saunierst, er, sie, es …« – »Sei still!« – »Bitte, lernst du eben nichts.« – »Danke.« – »Bitte«, sagt Robert Anker und macht sich auf, um hinter der nächsten Ecke zu verschwinden.

»Ich verrate dich nicht!«, ruft ihm András hinterher. »Moment, Moment!«, ruft Robert Anker und bleibt stehen: »Da gibt es auch nichts zu verraten. Ich kann genauso gut wie du hier unten sein.« – »Kannst du nicht. Ich verrate dich aber nicht.« – »Was soll das? Sag schon.« – »Wenn du mich auch nicht verrätst.« – »Was soll ich nicht verraten. Du machst mich irre.« – »Das, was ich dich jetzt frage.« – »Na bitte, dann frag endlich.« – »Kannst du mir lernen, wie man tanzt?« – »Ob ich dir … wie man tanzt?« András nickt. »Wenn’s weiter nichts ist!«, ruft Robert Anker und dreht sich einmal im Kreis, dann noch einmal und noch einmal. Wer in den besten Häusern alle nackt gesehen hat, der weiß auch, wie man tanzt. Die beste Wahl als Tanzlehrer also: Robert Anker, dreht sich hier im Keller im Kreis, bis sein Handtuch runterrutscht und er es wieder umbinden muss, und András sieht darüber hinweg und betreten zu Boden, als er sieht, dass Robert Ankers Ding leicht vom Körper wegsteht. »Also dann: Tanzen wir!«

András gibt ihm noch eine Minute, erklärt ihm, dass es gewissermaßen ein Notfall sei, denn in drei Tagen »… ist es ja so weit. Na klar!«, vollendet Robert Anker die Erklärung, und weil das Handtuch inzwischen wieder korrekt hängt und nichts wegsteht, kommt András näher an Robert Anker heran, als er es jemals für möglich gehalten hätte, und zu zweit beginnen sie nun: »Ta-da-da-da-damm!« – »Damm-damm-damm-damm! Donauwalzer!« Und noch einmal: »Ta-da-da-da-damm-damm-damm-damm-damm! Ta-da-da-da-daaaa…«

»Schau mal«, lacht Werner Antl vor dem Bildschirm laut auf, und Marina rollt mit ihrem Sessel zu ihm rüber und lacht auch und, wie zu erwarten war, weil beide auf einen Moment wie diesen gewartet haben, ist der dumme Streit vom vergangenen Abend damit vergessen. Wenn auch nicht ganz, weil das mit Streit eben so ist. Im Moment aber lassen sie beide die Anspannung nur zu gern ziehen und sehen mit Vergnügen dabei zu, wie Robert Anker und András im Keller tonlos ihre Walzerrunden drehen. Ta-da-da-da-damm-damm-damm-damm-damm.

Der Spaß scheint heute auch gar kein Ende nehmen zu wollen, denn als ihnen Bella höchstpersönlich eine Stunde später das Mittagsmenü serviert, trägt sie dabei eine Augenklappe und einen Piratenhut mit Totenkopf. Werner, Marina, Rose, Fred, András und Robert Anker werden mit dem Spaß gar nicht fertig. Susi kichert verhalten, Willi steht hinter der Schank und lässt sich von Bella einen Eisbecher mit Schirmchen drin servieren. »Ja, was ist denn los?!«, lachen auch die Unbeteiligten mit. »Wette«, murmelt Bella, während sie an ihnen vorüberschleicht. »Haha! Gewonnen?« Sie bleibt stehen, lüftet die Augenklappe und – da ist er schon wieder: Bellas böser Blick.

Und der ist allemal echt, denn Bella hat Willi zuvor eine Revanche-Wette vorgeschlagen, die sie allerdings ebenfalls verloren hat: das klassische Minigolf mit Kochlöffel, Rumkugeln und Georgs offenem Mund am Ende der Schank. Und weil sie die Kugel auch beim fünften Versuch nicht versenkt hat, trägt sie jetzt ein dämliches Piratenkostüm, und Willi isst fröhlich seinen Eisbecher und wird noch frecher: »Wenigstens dein Kostüm hast du schon!«, brüllt er und deutet mit dem Eislöffel auf ein Plakat an der Wand:

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Hacim:
311 s. 3 illüstrasyon
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9783903184893
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