Kitabı oku: «COLLEGIUM.», sayfa 4

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*

Ein Mann im schwarzen Anzug saß an einem der Tische. Er schaute kurz von seiner Zeitung auf, als ihm Craig im Vorübergehen auf die Schulter tippte.

Gemächlich strich sich der Hüne über seinen kahlen Schädel.

Gerard lehnte mit aufgekrempelten Hemdsärmeln hinter der Bar, die durchgestreckten Armen auf die Arbeitsfläche gestützt.

»Guten Abend, Mr. Morrison. Haben Sie den Tag mit ihrer Familie genießen können?«, begrüßte ihn der Barkeeper, der seine rechte Hand auf den Hals der Jack-Daniel’s Flasche legte, während sich Craig geschmeidig auf den Barhocker schwang.

»Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt. Mein Sohn und seine Frau wollten heute ohne mich durch Wien ziehen. Ich habe daher den Tag genützt und ein wenig in die Stadt investiert.«

Gerard nickte mit einem verständnisvollen Lächeln um seinen Mund.

»Haben Sie von dem Flugzeugunglück gehört?« Der Barkeeper zog an seiner Fliege und rückte sie zurecht.

»Ja, eine schlimme Sache.«

»Drink gefällig?«, Gerard drehte sich zur Seite und hob die Jack-Daniel's Flasche ein Stück in die Höhe.

»Warum nicht. – Kann ich gebrauchen. Es wird noch ein paar Minuten dauern, bis mein Freund hier ist.«

»Das am Airport ist eine schreckliche Geschichte. Einige Gäste, die wir für heute Abend erwartet haben, sind an Bord gewesen. – Sogar unser Shuttleservice musste den Flughafen verlassen. – Die Chauffeure warten derzeit in Schwechat auf neue Anweisungen.« Der Barkeeper ließ – wie er es immer tat – mit einem lauten Klimpern die Eiswürfel ins Glas fallen.

Craig zog seine Hornbrille von der Nase, legte sie auf die Theke und rieb sich die Nasenwurzel. Gerard goss den Whiskey ein, während er seinem Gast fragend in die Augen schaute. Erst als dieser seine Hand hob, setzte er die Flasche ab. Er hatte großzügig eingeschenkt.

Craig beugte sich über den Tresen und senkte seine Stimme: »Soll das heißen, das Hotel kennt die Passagierlisten und weiß bereits, wer verletzt ist?«

»Nein, wir sind nicht in den USA. – Offiziell wissen wir nicht mehr, wie jeder andere auch. Aber nachdem die Bundespolizeidirektion gleich nebenan residiert, hören wir ab und zu so manches, was nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist. Man braucht nur die Ohren zu spitzen, wenn sich zwei Polizisten an dieser Bar unterhalten. Und weil es nicht verboten ist, bzw. man nicht ›nicht zuhören‹ kann, gebe ich Gehörtes gerne an meine Kollegen an der Rezeption weiter. Sie verstehen ...?«

Morrison massierte sich die Schläfe, griff nach dem Glas und nahm einen tiefen Schluck. »… und ist Ihnen etwas zu Ohren gekommen?«

Gerard sah sich um, beugte sich zu seinem Gast und flüsterte: »Es gibt Tote. – War ein Funkspruch.«

»Kennt man ihre Namen?«

Der Barkeeper richtete sich auf, schüttelte verneinend den Kopf und wischte demonstrativ ein Trinkglas trocken.

»Gerard, könnten Sie mich auf ihren ›Verteiler‹ setzen?« Craig zog seine Geldscheinklammer aus der Tasche und zupfte eine Banknote hervor, die er neben das Whiskeyglas legte.

»Selbstverständlich.« Der Kellner lächelte und der Geldschein verschwand in der Westentasche.

Craig drehte sich zu dem Zeitungsleser um und prostete ihm zu. Der Kahlköpfige nickte, griff nach seinem Glas und erwiderte die Einladung. Die beiden genehmigten sich einen Schluck.

Ein Kerl in dunklem Zwirn, gut zwei Meter groß, hielt beim Betreten der Bar kurz inne und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Seine stattliche Statur erinnerte an einen Bodybuilder.

Er trat zur Seite, um Voss den Weg freizugeben. Das Muskelpaket mit der Sonnenbrille setzte sich zu dem Mann mit der Zeitung, seinen Boss im Blickfeld.

»Hi, Craig. Schön dich zu sehen«, begrüßte Hajo mit müder Stimme seinen Freund und umarmte ihn kraftlos.

»Hallo altes Haus. Ist das dein Babysitter?«, Morrison deutete mit dem Kopf auf den Mann, während er seine Brille aufsetzte.

»Ja, das ist er …«

»Nicht zu übersehen.«

»Ja, das ist beabsichtigt. Die Zeiten werden immer unsicherer ...«

Craig nickte zustimmend.

»Dieser dort ist meiner. – Darf ich dich auf einen Drink einladen?«

»Ich hätte gerne ein Gläschen Wein.«

Der aufmerksame Gerard hatte ihre Unterhaltung verfolgt und mischte sich ins Gespräch.

»Rot oder weiß? Ich kann Ihnen Grünen Veltliner oder den Zweigelt empfehlen.«

Der Niederländer drehte sich zum Barkeeper.

»Haben sie einen Riesling?«

»Selbstverständlich. Welschriesling vom Hillinger oder Lenz Moser.«

»Egal. Hauptsache trocken.«

Gerard nickte.

Hajo kletterte auf den Barhocker.

»Hast du noch immer nichts von deiner Tochter gehört?«, fragte Morrison.

»Kein Lebenszeichen …«

Hajo griff nach dem Weinglas.

»... und du bist dir sicher, dass sie an Bord war?«

»Meine Frau behauptet es felsenfest.«

»Könnte sie eine andere Maschine genommen haben?«

Hajo genehmigte sich einen großen Schluck. Sein Adamsapfel sprang mehrmals auf und nieder.

»Um diese Zeit fliegt ausschließlich die Austrian Airlines. Irrtum ausgeschlossen.«

»Kennst du zufällig ihre Zimmernummer?«

»Natürlich, ich habe ihr das Zimmer neben meiner Suite gebucht«, erwiderte er und zeigte auf die Schlüsselkarte.

Craig bedeutete dem Barkeeper, näher zu kommen.

»Gerard, wissen Sie, ob eure Fahrer schon Infos zu den Fahrgästen erhalten haben, die sie am Flughafen abholen sollen?«

»Was würde Sie im Speziellen interessieren?«

»Zum Beispiel zu diesem Namen hier« flüsterte Craig und zeigte auf die Magnetkarte, während er mit dem Fuß Hajos Bein anrempelte.

Als ob sein Freund Gedanken lesen könnte, zog dieser einen Zehn-Euro-Schein aus der Tasche und schob ihn unter das Weinglas.

»Voss«, las Gerard laut von dem kleinen Umschlag ab und strich den Geldschein ein. »Werde mich sofort erkundigen. Vielleicht kann ich etwas in Erfahrung bringen. Bin gleich zurück.«

Die Hoffnung zauberte ein angedeutetes Lächeln auf Hajos Gesicht.

Craig klopfte ihm auf den Oberschenkel und griff nach seinem Whiskeyglas.

»Cheers.«

»Cheers.«

Gerade als Hajo sein leeres Glas zurück auf die Theke stellte, eilte Gerard um die Ecke.

»Gute Nachrichten?«

»Weder – noch. Der Fahrer, – übrigens, ein lieber Freund von mir – unseres Shuttlebusses hat eine Frau Voss auf der Liste. Er wartet in Schwechat. Er hat mir versprochen, mich sofort anzurufen, wenn er seine Gäste aufgenommen hat ...«

Der Barkeeper deutete auf die leeren Gläser.

Sie nickten stumm.

»Lass den Kopf nicht hängen. Wird schon schief gehen«, sprach Craig seinem Freund Mut zu.

»Na hoffentlich nicht«, seufzte Voss und griff nach dem neuen Glas.

*

Eine bildhübsche Frau, Ende zwanzig, betrat die Bar. Sie hielt kurz inne; ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Die Bodyguards hefteten ihre Augenpaare auf sie. Ging von ihr eine Gefahr für ihre Bosse aus? Das professionelle Taxieren wurde rasch von dem hormonellen Aspekt überlagert.

Ihr waren die anerkennenden Blicke der Männer nicht entgangen. Sie lächelte und strahlte die Aura einer Kriegerin aus, die noch keinen Kampf verloren hatte. Die Botschaft war eindeutig: Im Geschlechterkampf würde sie obsiegen.

Zögerlich wandten die Bodyguards ihre begehrlichen Blicke ab.

Sie schritt zielgerichtet auf die Theke zu. Ihr pechschwarzes Haar hatte sie nach hinten gekämmt. Die bordeauxrote Husarenjacke mit den goldfarbenen Verzierungen und den hohen Stehkragen trug sie geschlossen. Der Minirock betonte ihre muskulösen Beine. Die Stiefeletten zierten kurze Kettchen und polierte Nieten, welche die punkige Note verstärkten. Jedenfalls sah sie sexy aus. Trotzdem strahlte sie mehr Männlichkeit aus als Morrisons androgyner Sohn.

Mit einem breiten Lächeln auf ihrem kantigen Gesicht trat sie von hinten auf Hajo und Craig heran und legte ihnen ihre Hände auf die Schultern.

»Hallo. Schön euch zu treffen.« Die tiefe, raue Stimme ließ die beiden zusammenzucken.

Hajo drehte sich mit weit aufgerissenen Augen um. »Hi – Du hier?!«

»Wie du siehst.«

»Wo ist Kirstin?«, erkundigte sich die Frau und schaute sich um. »Sie wollte längst hier sein.«

»Kann ich dir nicht sagen. Hast du nicht die Nachrichten gehört?«

»Nein, was ist passiert?«

»... komm, setze dich zu uns«, mischte sich Craig ins Gespräch und wechselte auf den benachbarten Barhocker.

Als sie sich auf die Sitzfläche schwang, rutschte der Minirock ein Stück nach oben und gab die Sicht auf die schwarzen, halterlosen Strümpfe mit venezianischer Spitze frei. Der Amerikaner benötigte einige Augenblicke, bis er seinen Blick lösen konnte.

Gerards Räuspern riss ihn aus den Gedanken.

Craig fühlte sich ertappt, während sich der Kellner schmunzelnd seinem neuen Gast zuwandte. »Was darf es sein?«

»Campari-Soda, bitte«, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen.

Morrison hörte ein leises Klingeln, als sie auf die Flasche zeigte. Ein kleiner Eiffelturm, ein Halbmond und ein Riesenrad baumelten von ihrem Armband.

4

Die Passagiere drängten durch die mit beißendem Kerosingeruch durchsetzte Kabinenluft zu den Notrutschen. Die Flugbegleiterin half ihnen beim Sprung aus der Unglücksmaschine. Lucas schob die Baseballkappe zwischen die Zähne und presste seinen Rucksack mit dem Laptop an die Brust. Als er an der Reihe war, bedeutete ihm die Stewardesse, dass er mit dem Gepäckstück nicht auf die Rutsche springen dürfte. »Kein Gepäck!«, schrie sie ihm entgegen.

Lucas ignorierte ihre Anweisung. Er griff nach dem Backpack, drehte sich reflexartig zur Seite, schleuderte den Rucksack aus dem Flugzeug und sprang hinterher.

Vor dem Ende der Notrutsche hatte er ihn bereits eingeholt. Er schnappte sich den Ranzen, hüpfte auf den Rasen, schwang ihn auf die Schulter und sprintete vom Flieger weg. Die Hitze in seinem Nacken verlieh ihm zusätzliche Kräfte, trieb ihn voran. Die Luft flirrte vor seinen Augen und zeichnete kaleidoskopartige Muster in das hohe Gras.

Eine blau gleißende Positionsleuchte wies ihm den Weg zum nächsten Taxiway, auf dem unzählige Einsatzfahrzeuge zum Unfallort rasten. Kaum hatte er das Betonband erreicht, blieb er stehen, beugte sich vor und stützte die Arme auf seine Knie. Niemand war ihm gefolgt. Er keuchte und drehte den Kopf zum Flugzeug. Ein Löschwagen verließ die Piste, pflügte durch das Gras, an einer Menschengruppe vorüber, die viel früher als er ihre Flucht abgebrochen hatte.

Lucas hatte jedes Zeitgefühl verloren. Er schnappte nach Luft, als wäre er minutenlang unter Wasser getaucht. Hustete, um die Kerosindämpfe aus seiner Lunge zu schleudern. Langsam richtete er sich auf.

In diesem Augenblick schossen hinter dem Flugzeug haushohe Flammen gegen den Himmel und trieben einen schwarzen Rauchpilz vor sich her. Sekunden später eine Explosion. Die Druckwelle warf ihn unsanft zu Boden. Trümmer prasselten neben ihm nieder. Als ob sie ihn beschützen hätte können, zog er seine Jacke über den Kopf.

Nach einer Weile hob er zögerlich den Kragen ein wenig an und lugte zur Unglücksmaschine.

Tosend knickte das Fahrwerk ein. Dort, wo er vor einigen Sekunden Menschen gesehen hatte, herrschte mit einem Schlag gähnende Leere, als wären sie vom Erdboden verschluckt worden.

Noch immer regnete es Feuerzungen vom Himmel, die zischend am Grün landeten und es an zahlreichen Stellen in Brand setzten.

Lucas rappelte sich auf, rüttelte an seiner Jacke und überprüfte, ob ihn brennende Tropfen getroffen hatten. Instinktiv trat er einige Glutnester aus. Langsam konnte er wieder klare Gedanken fassen. Fahrig schob er seine Brille zurück zur Nasenwurzel, kniff die Augen zusammen und spähte nach der Personengruppe, die sich vorhin als Silhouette vor dem lodernden Flugzeug abgezeichnet hatte. Vereinzelt waren wieder Schatten zu erkennen. Waren es seine Kollegen, die sich dort über den Schnee schleppten? Wenn nicht, wo waren sie?

Das Pfeifen in seinem Ohr schmerzte und überlagerte die Martinshörner der Einsatzfahrzeuge, die aus allen Richtungen zum Unfallort jagten. Ein Retter rief nach ihm, aber Lucas hörte ihn nicht. Als sich eine Hand auf seine Schulter legte, fuhr er erschrocken herum.

»Laufen Sie zu dem Bus, der bringt Sie in Sicherheit«, schrie der Bursche in der leuchtend gelben Jacke. »Zum Bus, schnell!«

Lucas musterte ihn entgeistert. Die Lippen des Mannes bewegten sich, aber er hörte seine Stimme nicht. Aus den Gesten erriet er, was er von ihm verlangte. Perez schaute zum Kleinbus und drehte sich anschließend in Richtung des Flugzeuges. »Ich muss meinen Kollegen helfen«, befahl ihm eine innere Stimme, doch der eiserne Griff an seiner Schulter ließ ihm keine Wahl. Man schob ihn unmissverständlich zu einem VW-Bus, in dem sich bereits Passagiere wie Ölsardinen aneinanderdrückten.

Der Fahrer hielt sich nicht an die asphaltierten Pisten. Er fuhr den kürzesten Weg, nahm Abkürzungen und rumpelte über die Wiesen. Einige der Fahrgäste stöhnten vor Schmerz laut auf.

*

Am Gate erwarteten sie die Sanitäter in ihren roten Overalls und das Bodenpersonal der Airlines. Sie halfen ihnen aus dem überfüllten Fahrzeug.

»Sind Sie verletzt? Haben Sie Schmerzen?«, hörte Lucas ihre Fragen. Das Pfeifen in seinen Ohren hatte nachgelassen. Er schüttelte den Kopf. »Bitte – hier entlang – Richtung Ankunftshalle.«

Widerwillig folgte er den Anweisungen des Personals. Langsam trottete er durch das schier endlose Gebäude; das Flughafenpersonal eilte an ihm vorüber, die Funkgeräte im Anschlag. Erst jetzt bemerkte er den Schmerz auf seinem Handrücken, der von einem brennenden Kerosintropfen herrührte. Er blies auf die Wunde, während seine Augen die Umgebung nach seinen Kollegen absuchten.

In der Gepäckhalle herrschte chaotisches Treiben. Der Lärm verschluckte die Durchsagen aus den Lautsprechern. Die Helfer bedienten sich über große Distanzen der Zeichensprache. Menschen, die sich bisher nicht gekannt hatten, sprachen miteinander. Jeder vertrat seine Meinung, als beruhe sie auf verbrieftem Wissen. Die Umstehenden schnappten einzelne Wörter auf und gaben sie als Tatsache – in 'Stiller-Post'-Manier – weiter. Die Gerüchteküche brodelte.

Man schaffte die unterschiedlichsten Sitzgelegenheiten herbei und bot sie den Passagieren an, die auf den Gepäckbändern saßen.

Lucas entschied sich für einen freien Platz an der Wand unter der Leuchttafel ›Wien ist anders‹, von wo aus er den Zugang zur Halle im Blickfeld hatte. Vielleicht hat Peter bereits sein Mobile eingeschalten, schoss es ihm durch den Kopf und zog sein Telefon aus der Jackentasche. Er schaltete es ein, schaute auf das Display und stellte nach kurzer Zeit fest, dass es keinen Empfang gab. Verwundert steckte er es wieder ein.

Lucas hob seinen Arm und inspizierte die Verbrennung am Handrücken.

»Darf ich sehen?«, hörte er eine fürsorgliche Frauenstimme neben sich.

Er schaute auf und erblickte ein gewinnendes Schmunzeln, das die Lachfalten vor den Backenknochen zusätzlich verstärkten. Die schwarze Brille betonte die dunkel geschminkten Augen. Ihre blonden Haare verdeckten teilweise das Gesicht. Die rote, um eine Nummer zu große Jacke zierten zahlreiche Reflexionsstreifen sowie der Schriftzug ›Rettungsdienst‹. Darunter war der Name ›DENNER‹ auf einem Klettstreifen aufgedruckt. Sie rückte ihre Gläser zurecht, kniete sich neben Lucas nieder und zog seinen Arm zu sich. Als sie die Verletzung inspizierte, atmete sie tief ein, als ob sie den Schmerz selbst verspüren würde. »Das sieht übel aus. – Ich desinfiziere Ihre Wunde und lege einen Verband an.«

»Da ... Danke, ein Pflaster genügt«, meinte Lucas, als handle es sich um einen unbedeutenden Kratzer.

Die Sanitäterin lächelte, nickte mit dem Kopf und kramte ein Desinfektionsmittel aus ihrem Tornister. Sie tropfte die Tinktur auf die Brandwunde. Behutsam reinigte sie mit einem Wattebausch die Verletzung, während sie wiederholt zu ihrem Patienten aufblickte.

Lucas biss die Zähne zusammen, sog die Luft zischend ein und hielt den Atem an. Schließlich fixierte sie die keimfreie Wundauflage nicht mit einem Pflaster, wie er es gewünscht hatte, sondern umwickelte die Hand mit einer Mullbinde.

Lucas ließ sie widerspruchslos gewähren.

»Das war es schon. Ihr Hausarzt soll sich in den kommenden Tagen darum kümmern«, wies sie ihn an, klopfte ihm auf die Schulter und stapfte ihres Weges. Er rief ihr ein »Da ... Danke schön« hinterher, doch sie war bereits zu weit entfernt, um ihn zu hören.

*

Ein Passagier nach dem anderen schleppte sich in die Halle. Der Schock war ihnen in ihre rußverschmierten Gesichter geschrieben, hatte diese um Jahre altern lassen. Der Geräuschpegel schwoll stetig an. Bald würde man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen. Rolltragen ratterten an Lucas vorüber. Bei einigen hielten Helfer Infusionsbeutel in die Höhe.

Er streckte wiederholt seinen Oberkörper, um die Opfer besser zu sehen. Erleichtert sackte er zurück, wenn es sich nicht um einen seiner Kollegen handelte. Aber war das ein gutes Zeichen? Sein Knie wippte, als würde er ein Spinnrad antreiben. Er schloss die Augen, drehte seine Kappe mit dem Schirm nach vorne und lehnte seinen Kopf an die Wand.

Er fragte sich, ob es ein Unfall war. Oder ein Anschlag? Ein Anschlag auf wen? Auf die Fluglinie? Zu welchem Zweck? Rache? Erpressung? Je länger er darüber nachdachte, desto stärker wuchs in ihm der Drang, sich sofort Gewissheit zu verschaffen.

Er zog seinen Computer aus dem Rucksack. Drückte auf die Power-Taste. Erleichtert atmete er auf. Sein Rechner hatte den Sturz aus dem Flugzeug unbeschadet überstanden.

Lucas griff nach seinem Verband und tippte mit den Fingern seiner unverletzten Hand. Es öffneten sich drei Fenster für einen Datenbankabgleich. Im ersten loggte er sich in seinen Account bei der Europol in Den Haag ein. Im zweiten versuchte er, eine Verbindung mit seinem lokalen Benutzerkonto herzustellen. Vergeblich. Er kannte das neue Passwort nicht.

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Er presste die Lippen aufeinander, legte den Kopf schief und tippte als Benutzernamen ›Holzinger‹ ein. Beim Kennwort zögerte er. Ließ die Finger über den Tasten schweben und schrieb schließlich ›Gleitschirm‹.

Ein Fenster öffnete sich: »FALSCHES PASSWORT«.

Lucas kniff die Augenbrauen zusammen und strich seinem Bart entlang.

›Gleitschirm1991‹

Bingo!

Ins Suchfeld gab er ›Austria-Airlines Passagierliste‹ ein.

Ein weiteres Fenster poppte auf: ›Autorisierung:‹.

Der Cursor blinkte. Lucas verengte seine Augenlider zu zwei schmalen Sehschlitzen. Schließlich tippte er: ›Gefahr in Verzug.‹

Bingo! Er hatte Zutritt zur Datenbank.

Im Europolfenster suchte er nach ›Economy-Club Laxenburg‹.

Es dauerte eine Weile, bis die ersten Ergebnisse angezeigt wurden. Acht Übereinstimmungen. Ein Name stach ihm ins Auge: ›VOSS. – Ist das nicht ein Vorstandsmitglied?‹.

Damit war für ihn die Bruchlandung kein Zufall mehr. Er erinnerte sich an Peters Erzählung von dem deutschen Pharmaboss und dem Skipper, der im Sommer vor Korsika verschwand.

Lucas Gedanken spielten Pingpong. Er versuchte, sich in die Psyche eines Attentäters hineinzuversetzen. Was trieb einen Menschen dazu, den Tod von hunderten in Kauf zu nehmen, um einen zu töten? Zorn stieg in ihm hoch. Diesen Absturz nahm er persönlich. Ein Anschlag auf sein Leben.

Er loggte sich aus und klappte den Rechner zu. Sein rechtes Bein trieb wieder das imaginäre Spinnrad an. Er zog seinen Rucksack zu sich und verstaute seinen Computer.

*

»Lucas«, hörte er seinen Namen aus dem Stimmengewirr.

Er erblickte Peter Holzinger, der neben einer Trage einher humpelte, mit seiner rechten Hand eine Sauerstoff-Flasche auf das blutverschmierte Laken presste und sich darauf abstützte, um Schritt zu halten. Der Luftschlauch des Tanks führte zu einer durchsichtigen Maske, die mit einem Gummiband auf Sarahs Gesicht fixiert war. Auf Höhe der Mundpartie beschlug der Kunststoff mit winzigen Wassertröpfchen. Sie atmete. Erst jetzt erkannte Lucas die klaffende Wunde an ihrem Schädel. Das viele Blut hatte die Haare an ihre Wange geklebt. Die Kleidung wies zahlreiche Brandlöcher auf. Ein Schuh fehlte.

»Bahn frei, aus dem Weg! Vorsicht! Bitte treten sie zur Seite«, schrie der Arzt unentwegt und schob die Fahrtrage rücksichtslos durch die Menge. Lucas sprang von seinem Sessel auf, drehte seine Kappe nach hinten und sprintete vor das Gespann, um die Menschen aus dem Weg zu stoßen.

»Wohin?«, erkundigte er sich lautstark, als er sich in einem günstigen Augenblick zu Peter umdrehte.

»Richtung Health-Center. Schau auf die Schilder«, brüllte sein Chef. »Zum Parkhaus 3. Arkadengang, vis-a-vis der Apotheke.«

Sie wechselten die Ebene und bogen zur Krankenabteilung ab.

Ein Mann der Security am Eingang winkte den Arzt mit der Verletzten durch, verwehrte aber Peter und Lucas den Zutritt. Erbost zückte Perez seine Dienstmarke und hielt sie dem Türsteher unter die Nase. »Da ... Das ist unsere Kollegin!«, schrie er ihn an.

Der Hüne warf einen verächtlichen Blick auf die Plakette und ließ seine Muskeln spielen. »... selbst wenn Sie der liebe Gott wären. Kein Zutritt für Besucher.« Demonstrativ streckte er ihnen seine abgewinkelte Hand entgegen.

Peter griff nach Lucas' Schulter und zog ihn zurück.

»Lass es. Sarah ist in guten Händen. Im Moment können wir nichts für sie tun. Ich rufe ihre Familie an ...«

»Da ... Da wirst du Pech haben. Das Mobilnetz ist zusammengebrochen. Du hast keinen Empfang.«

Ungläubig betrachtete Peter das Display seines Smartphones. Richtig. Kein Netzwerk. Er lehnte sich an die Wand und massierte sein Bein.

»Wa ... Was ist euch da draußen passiert? Ich nahm an, dass ihr mir auf den Fersen seid, als ich vom Flugzeug weglief.«

»Ohne Stock war das schwierig. Ich bin hinter Sarah hergelaufen. Sie legte ein enormes Tempo vor. Als wir uns in Sicherheit wähnten, hielten wir kurz an. Und dann explodierte dieser Flieger. – Ich hatte Schwein. Eine Plane schoss durch die Luft und begrub mich unter sich. Sarah hatte weniger Glück. Hast du ja gesehen. Sie dürfte von einem schwereren Teil am Kopf getroffen worden sein. Als ich hervorkroch, lag sie bewusstlos da. Stellenweise brannte ihre Kleidung. Ich erstickte die Flammen mit meiner Jacke, überprüfte ihren Puls und rannte um Hilfe. Überall lagen regungslose Körper. Es hat jedenfalls einige Zeit gedauert. Schließlich brachte man sie mit vier weiteren Verletzten in einem Rettungswagen zum Gate. Ich musste laufen – rannte, was das Zeug hielt. Rest kennst du.«

»Sie ... Sie hat das Bewusstsein nicht wiedererlangt?«

»Nein, nicht solange ich bei ihr war. Und du? Was ist mit deiner Hand passiert?«

»Sie ... Sie wurde erleuchtet«, versuchte Lucas zu scherzen. »Eine himmlische Feuerzunge hat sich in meine Haut gebrannt.«

»Glaubst du, du kannst tippen?«

»Kei … Kein Problem, habe ich überprüft. Funktioniert.«

Peter runzelte die Stirn. »Sag, woher hast du deinen Rucksack?«

»De … Der hüpfte aus dem Flugzeug«, erwiderte er schmunzelnd und zwinkerte mit einem Auge. »Ich habe ihn am Ende der Notrutsche gefunden.«

Peter wischte mit der Hand durch die Luft. »Gibt es eine Vorschrift, die du befolgst?«

»Ei ... Einige.«

»Egal. Du hast also eine Internetverbindung; demnach können wir Mails verschicken?«

Lucas stimmte ihm nickend zu.

»... dann schreiben wir Sarahs Familie und meiner Freundin.«

Der IT-Spezialist ging zur Wand, setzte sich auf den Boden und loggte sich im Netzwerk des Flughafens ein. In diesem Moment wurde Mutes wieder aus dem Ärztezentrum geschoben; von dem Arzt, der sie hergebracht hatte.

»Wo bringen Sie sie hin?«, überfiel ihn Peter.

»Ins SMZ-Ost«, antwortete der Mediziner, ohne anzuhalten.

»Ah, in die Klinik Donaustadt. Wie geht es ihr?«, erkundigte sich Holzinger und bemühte sich, Schritt zu halten.

»Gut, sie war kurz bei Bewusstsein. Wir haben sie sediert. – Der Krankenwagen wartet.«

»Danke für die Info«, rief ihm Peter nach. Mit emporgestrecktem Daumen humpelte er zu Lucas zurück.

Perez nickte erleichtert. »Wa … Was soll ich schreiben?«

Holzinger diktierte ihm den Text.

Nachdem die gewünschten Mails versandt waren, rappelte er sich auf und schaute seinem Chef fragend in die Augen: »Wa … Was hältst du von der Geschichte? Unfall oder Anschlag?«

»Tendiere zu Unfall«, erwiderte der Oberstleutnant.

»Kö … Könnte es mit dem Kongress in Laxenburg zusammenhängen?«

»Kann ich mir nicht vorstellen ...« Er ließ eine Pause entstehen. »... oder weißt du mehr?«

»Wa … Was wäre, wenn Tagungsteilnehmer an Bord waren?«, wich Lucas geschickt der Frage aus. »Du hast doch von rätselhaften Todesfällen rund um den Economy-Club erzählt.«

»Ja. Lass uns das morgen als erstes checken. Ich hole die Freigabe ein und dann sehen wir uns die Passagierliste des heutigen Fluges an. Falls sich Übereinstimmungen ergeben, spuken mir ad hoc eine Menge Fragen durch den Kopf.«

»Wi ... Wir sollten zurück in die Ankunftshalle. Vielleicht erfahren wir etwas Neues.«

»Gute Idee, wenn wir schon hier sind. – Darf ich mich aufstützen, mein Stock ...«

»Se … Selbstverständlich.«

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