Kitabı oku: «"Play yourself, man!". Die Geschichte des Jazz in Deutschland», sayfa 6
Revue Nègre: »Sie spielen ohne Dirigenten«
Der Pianist Sam Wooding (geb. 1895) stammte aus Philadelphia und war nach Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg als Tenorhornist in Frankreich stationiert gewesen. Anfang der 1920er Jahre leitete er eine Band, mit der er große Bühnenshows begleitete. Um die Faszination des europäischen Publikums für schwarze Künstler wissend, plante ein gewiefter Agent eine Revue, die speziell für den europäischen Markt geschrieben wurde. Die Show Chocolate Kiddies, die einige Nummern des damals noch weitgehend unbekannten Duke Ellington enthielt und an deren Choreographie wohl auch die deutsche Schöpferin des Ausdruckstanzes Mary Wigman beteiligt war, hatte am 25. Mai 1925 im Berliner Admiralspalast Premiere, wo das Stück unter großem Beifall von Kritik und Publikum acht Wochen lang gespielt wurde, um dann in Hamburg, Stockholm, Kopenhagen und vielen anderen größeren wie mittelgroßen Städten zwischen Skandinavien und Budapest, Prag und Paris zu gastieren.
Neben Wooding und den Chocolate Kiddies war zeitgleich auch eine andere Truppe auf dem europäischen Markt der Revuetheater erfolgreich unterwegs: die Revue Nègre, die der New Yorker Pianist Claude Hopkins (geb. 1903) mit seinem Septett begleitete, dem unter anderem der Klarinettist Sidney Bechet angehörte. Eigentlicher Star der Revue Nègre war allerdings die Sängerin und Tänzerin Josephine Baker. Beide Ensembles reisten kreuz und quer durch Europa, feierten, wo immer sie hinkamen, große Erfolge, und konfrontierten ihr Publikum meist zum ersten Mal mit einer authentischen Spielpraxis des afro-amerikanischen Jazz, wie man ihn nicht von Schallplatten, geschweige denn von Noten erahnen konnte. Die Kritiken sind durchsetzt mit rassistischen Klischees, zeugen aber auch von einer ehrlichen Bewunderung für die fremde Art des Musikmachens. So liest man etwa in Das Blaue Heft nach der Berliner Uraufführung der Chocolate Kiddies: »Sie spielen ohne Dirigenten, denn jeder einzelne trägt den Rhythmus in sich, die Synthese aus der wilden, starken Urnatur ihrer Heimat und Vergangenheit und der jagenden Nervosität des modernen Amerika. Rhythmus ist alles bei ihnen, in ihrem Gesang, in ihrem Tanz, in ihrer Komik, in der kleinsten Bewegung.«59
Claude Hopkins’ Band war im Stummfilm Der Prinz und die Tänzerin von 1926 mit Willy Fritsch zu sehen, und Josephine Baker wurde zur Symbolfigur einer multiethnischen und sexuell befreiten Moderne, die sich im Werk etlicher Künstler, in Malerei, Bildhauerei, in Gedichten und Geschichten sowie in den Songs des politischen Kabaretts wiederfand. Baker handelte sich in Berlin ein Verfahren wegen Vertragsbruchs ein, als sie die Show für ein Engagement in den Folies Bergère in Paris einfach verließ. Ohne ihren Star hatte die Revue Nègre weitaus weniger Erfolg. Hopkins’ Band fiel auseinander, bevor der Pianist mit seinen Musikern in ein europäisches Tonstudio gehen konnte. Mit unterschiedlichen Besetzungen tourte Hopkins immerhin noch bis Anfang 1928 durch Europa, bevor er in die Vereinigten Staaten zurückkehrte. Wooding dagegen, dessen Band über die Jahre Musiker wie der Trompeter Tommy Ladnier, der Klarinettist Garvin Bushell und der Saxophonist Gene Sedric angehörten, kehrte zwar ebenfalls kurzfristig nach New York zurück, war aber bald wieder in Europa und spielte zwischen 1925 und 1931 in Berlin, Barcelona und Paris zahlreiche Aufnahmen ein.
Es kann nicht genug gewürdigt werden, welchen Einfluss Bands wie die von Sam Wooding oder Claude Hopkins oder aber die anderen Tournee-Ensembles und Solisten, die in diesen Jahren Europa bereisten, auf die Musiker hierzulande hatten. In ihren Auftritten konnten Europäer diese Musik zum ersten Mal live erleben, ihre Unmittelbarkeit, die Spannung der Improvisation und die Überraschung, die mit jeder neuen Interpretation verbunden war.
Der Klarinettist Garvin Bushell, der mit den Chocolate Kiddies tourte, erinnert sich, dass die Band in der ersten Hälfte der Show im Bühnengraben saß, aber nach der Pause auf der Bühne, und dass sie dort niemals Noten vor sich gehabt hätten. In diesem Teil wurde es am jazzigsten; hier erklangen auch reine Instrumentals, der »Indian Love Call« etwa, der »Shanghai Shuffle« oder W. C. Handys »St. Louis Blues«.60 Als Hommage ans deutsche Publikum spielte die Band außerdem einen von Sam Wooding eigens arrangierten Schlager, Richard Falls »O Katharina«, den auch Bernard Etté und andere Tanzorchester seit 1924 im Programm hatten. Woodings Arrangement macht Anspielungen auf deutsche Volkslieder und populäre Songs der Zeit, etwa das »Loreleylied«, den »Dummen Augustin«, »Horch, was kommt von draußen rein«, »O Tannenbaum« oder »Ausgerechnet Bananen«; er lässt die Klarinette mal wiehern und lachen, dann aber auch wieder die ganze Band in Polkamanier begleiten. Improvisation spielt auch hier kaum eine Rolle, doch der Witz, mit dem auf Spielweisen des amerikanischen Jazz genauso wie auf das Repertoire deutscher Kapellen Bezug genommen wird, ist beispielhaft und wird in der Lässigkeit und dem immer sicheren rhythmischen Ansatz von keiner deutschen Band auch nur ansatzweise erreicht.
Woodings Auftritte in Berlin und anderswo in der Republik überraschten selbst die Zuhörer, die zu wissen meinten, was es mit dem neuen Jazz auf sich hatte. Alfred Löw, der Deutschland in den 1930er Jahren verließ und unter dem amerikanisierten Namen Alfred Lion in New York zusammen mit seinem Freund Francis Wolff das Label Blue Note gründete, kam eher zufällig in die Show im Admiralspalast, sah zum ersten Mal überhaupt schwarze Musiker und hörte solch eine Art Musik, die ihn sofort gefangen nahm. Sein Leben lang sollte er sich an diesen ersten Eindruck erinnern, der seine Neugier auf das Land und auf die Stadt, aus der diese Musik stammte, schürte, und der ihn letzten Endes dazu brachte, den Musikern, die er so verehrte, Gehör zu verschaffen, indem er ihnen auf seinem Label eine Plattform bot.
Neben afro-amerikanischen ließ sich auch eine Reihe weißer amerikanischer Musiker in Berlin nieder. Es hatte sich schnell herumgesprochen, dass die deutsche Hauptstadt eine Metropole für den Jazz in Europa war. Selbst diejenigen Musiker in den USA, die es noch nie zu Tourneen auf den alten Kontinent verschlagen hatte, spielten zumindest mit dem Gedanken, weil sie so viel über die lebendige Szene hörten – wobei diese Geschichten die Musik genauso wie Verdienstmöglichkeiten, das bunte Leben und, im Zeitalter der Prohibition, die Verfügbarkeit von Alkohol betrafen.61
»Damenkapellen« in der Weimarer Jazzrepublik
Die Arbeit von Komponisten im Bereich der als »Jazz« verkauften Musik in der Weimarer Republik beschränkte sich vor allem auf Schlager und eingängige Tanzarrangements. So fasziniert sie auch von den Beispielen der durchreisenden amerikanischen Bands waren, an Jazz als eine eigene Kunstform dachte von den Musikern in jenen Jahren kaum einer. Jazz war nach wie vor Synonym für populäre Tänze wie Foxtrott oder Shimmy, es war eine stilistische Vokabel, nicht anders als Tango, Walzer, Couplet oder Chanson.
Berlin war zwar das unangefochtene Zentrum der Unterhaltungindustrie der 1920er Jahre, doch auch Hamburg und andere Großstädte hatten Revuetheater und Cabarets. Ab Ende der 1920er Jahre wurde es nicht nur für ein Ensemble vom Rang Sam Woodings, sondern auch für jene seiner deutschen Kollegen interessant, auf Gastspieltournee durch Deutschland zu gehen.62 Alle größeren Städte besaßen ein reges Nachtleben. In München etwa war das erste Konzert Lud Gluskins im Jahr 1928 so schnell ausverkauft, dass die Veranstalter angesichts der Nachfrage entschieden, die Musik über Lautsprecher auf den Vorplatz des Luitpold-Kinos zu übertragen.63 In Hamburg gab es neben dem berüchtigten Rotlichtviertel auf St. Pauli jede Menge Varietés, das Hansa-Theater im Stadtteil St. Georg zum Beispiel. In Frankfurt fanden sich das Schumann-Theater, gleich gegenüber dem Hauptbahnhof, und der Kristallpalast, der unter einem großem Panoramadach von einer alten germanischen Stadt gesäumt schien, in der Altstadt. In Bremen ging man ab 1929 ins Astoria in der Katharinenstraße, in Köln ab 1931 in den Kaiserhof. Leipzig hatte im Krystallpalast, einem spektakulären Gebäudekomplex aus Stahl und Glas, einen Saal für 1800 Menschen. Hannover hatte den Georgspalast, Stuttgart den Friedrichsbau, München das Kolosseum. Und nahezu jedes Luxushotel, das etwas auf sich hielt, ließ in seinen Ballsälen größere Orchester oder in kleineren Cabarets Trios, Quartette oder Gesangsensembles auftreten.
Der Historiker Ralf Jörg Raber hat die Frühzeit des Jazz in Essen erforscht und dabei dokumentiert, dass die Jazzmode abseits der Hauptstadt ähnlich vielfältig war wie in Berlin. Auch hier gab es ab Mitte des Jahrzehnts Besetzungen vom Trio bis zum großen Orchester, die in Cafés, Ballsälen, Cabarets oder den örtlichen Hotels auftraten. Vergleichbares ließe sich mit Sicherheit für jede andere größere Stadt in Deutschland feststellen. In Essen jedenfalls waren die meisten der großen deutschen Tanzorchester zu hören, Bernard Etté genauso wie Dajos Béla, Paul Godwin, Julian Fuhs, Efim Schachmeister, Marek Weber und andere. Ab Anfang der 1930er Jahre kamen Oskar Joost, Heinz Wehner oder die Weintraubs Syncopators zu Gastspielen in die Stadt.64
Ein Fund in Rabers Recherchen aber lässt aufhorchen. Die erste US-amerikanische Band nämlich, für die er ein Konzert in Essen nachweisen konnte, waren die Bon John Girls, eine weiße Frauen-Jazzkapelle mit 11 oder 12 Musikerinnen aus New York, die 1929 auch in Berlin und anderswo in Europa zu hören war, über die aber leider sonst wenig bekannt ist. Und auch die zweite amerikanische Band in Essen war eine Frauenkapelle, nämlich die 12 Musical Ladies unter Leitung des in Hamburg geborenen amerikanischen Bandleaders Alex Hyde. Hyde war Ende 1923 nach London gegangen, hatte dann erste Erfolge in Deutschland und brachte 1925 eine eigens in New York zusammengestellte Kapelle nach Europa, mit der er etwa in Dresden, Eisenach, Baden-Baden und anderen Städten auftrat. Tatsächlich steckte Hyde sogar bereits hinter den Bon John Girls; sie waren nach seinem Bruder benannt, der bei der William Morris Konzertagentur für die Vermarktung von Kapellen zuständig war. Die 12 Musical Ladies (oder »Alex Hyde und seine Mädels«, wie Mike Danzi sich an die Truppe erinnert65) waren also seine zweite Damenkapelle, 1930 formierte er in New York seine 22 Modern Maids, und im Dezember desselben Jahres gastierten seine 12 Modern Girls im Berliner Wintergarten und im Kabarett der Komiker. Den Bon Jon Girls folgten in Berlin die Parisian Red Heads aus Kalifornien, und für Essen dokumentiert Raber sogar noch eine dritte Damenkapelle, die der tschechische Bandleader Leo Selinsky zusammengestellt hat: die Blue Jazz-Ladies, denen unter anderem die Trompeterin Clara de Vries angehörte und die 1932 in Essen die Vorstellung der Frühjahrs- und Sommermode im Dachgartenkaffee des Warenhauses Althoff begleitete.66

Alex Hydes 12 Musical Ladies, um 1930
Solche »Damenkapellen« waren damals der letzte Schrei. Doch so ausgefallen sie dem Publikum auch vorgekommen sein mögen, waren es durchaus professionelle Musikerinnen, die in ihnen mitwirkten. Sie fanden in der Regel nicht den Weg in die Jazzgeschichtsbücher, lange Zeit nicht einmal auf Schallplatte, so dass dieser Teil auch europäischer Jazzgeschichtsschreibung weitgehend unbekannt blieb, obwohl das von Raber recherchierte Phänomen natürlich nicht auf Essen und Berlin beschränkt war. In München etwa wurde ein breiteres Publikum Mitte der 1920er Jahre erst durch Louise Gouldemond und ihre Damenkapelle für den Jazz sensibilisiert.67
Trotz der dürftigen Dokumentation bleibt festzuhalten: In den Anfangstagen des Jazz in Deutschland standen auch hier Musikerinnen auf der Bühne. Ein Beispiel ist die Pianistin Peggy Stone (geb. 1907), die in der Zeit der Weimarer Republik mit dem Klavierduo Lil und Peggy Stone auf den Kabarettbühnen Berlins erfolgreich war, 1933 erst nach Schweden, dann in die Sowjetunion ging, nach dem Krieg nach Rumänien, Israel und schließlich New York, wo sie 2009 im Alter von 102 Jahren verstarb. Stone wurde erst in den 2000er Jahren wiederentdeckt; im Jahr ihres Todes erschien ihre Biographie, die erzählt, dass die Emanzipation der Frau in den 1920er Jahren durchaus auch auf den Bühnen der Hauptstadt angekommen war. Bald aber wurde das moderne Frauenbild dieser Zeit durch die Indoktrination des Nationalsozialismus wieder zurückgedrängt, mit Auswirkungen, die bis in die 1970er Jahre hinein zu spüren waren.
Man schreibt über Jazz
Man mag sich vorstellen, dass sich im Publikum von Sam Woodings Konzerten in Berlin, Stockholm, Kopenhagen und anderen Städten Europas etliche Musiker befunden hatten, die diesen Amerikanern staunend zuhörten, diesen Musikern, die so selbstverständlich mit den Vokabeln des jungen Jazz umgingen, egal ob es sich um arrangierte Partien oder um Solopassagen handelte, die eine instrumentale Virtuosität an den Tag legten und sich in den Ensembleteilen vom Notenblatt lösten, wie dies den europäischen Kollegen kaum möglich schien. Es steckte offenbar ein Geheimnis hinter dieser Art, Musik zu machen, und man wollte alles dafür geben, hinter dieses Geheimnis zu kommen.
Der afro-amerikanische Weg des Lernens von Musik ist einer des Mitmachens, Nachahmens und Seine-eigene-Stimme-Findens. Es ist die Tradition der Kirchengesänge, des Call and Response, bei dem die Response keineswegs synchron daherkommen muss, sondern aus so vielen einzelnen Varianten bestehen kann, wie Mitglieder in der Gemeinde sitzen. Die europäische Musikerziehung setzte dagegen eher auf Lehrer und fundiertes Lehrmaterial. Und als immer klarer wurde, dass Jazz mehr als ein vorübergehender Trend der aktuellen Unterhaltungsmusik war, gab es dementsprechend bald die ersten Autoren, die seine Geheimnisse in Lehrbüchern zu enthüllen versuchten.
1925 veröffentlichte Alfred Baresel (geb. 1893) Das Jazz-Buch. Anleitung zum Spielen, Improvisieren und Komponieren moderner Tanzstücke. Das 38-seitige Heft gibt Beispiele für Takt und Tempo, für verschiedene Formmodelle, für Übergänge und Breaks. Es enthält praktische Tipps für Musiker professioneller Tanzkapellen, um neben all den anderen Moden, die sie zu spielen hatten, eben auch die Mode des Jazz darbieten zu können. Besonders wird dies dort deutlich, wo Baresel rät, dass, wenn man eine normale Tanzkapelle auf Jazzband umstelle, doch am besten der Primgeiger das Saxophon zu übernehmen habe, nicht also der Klarinettist. Führende Geigen, schreibt er, »sind ein Merkmal der Wiener Tanzmusik, nicht des Jazz«.68 Baresel war einer der frühesten Apologeten des Jazz, er hatte in einem Artikel im Hannoverschen Kurier bereits im August 1925 eine Wende prognostiziert: »Die Zeiten, da Militärmärsche mit Hilfe von Autohupen, Kuhglocken und einem wahren Geschützpark an Schlagzeug von Unwissenden als ›moderne Tanzmusik‹ ausgegeben wurden, sind Gott sei Dank vorüber.«69
Neugierige, ja sogar wertschätzende Artikel über den Jazz finden sich auch in einer Sonderausgabe der Zeitschrift Musikblätter des Anbruchs vom April 1925. Der Herausgeber Paul Stefan erwähnt im Vorwort all die bekannten Vorbehalte, argumentiert aber, dass vielleicht dennoch im Jazz »der Anfang einer Revolution sein« könne. Er hofft auf einen »Triumpf des Geistes, der durch eine neue Melodie, neue Farbe spricht«, auf den »Sieg der Ironie, der Unfertigkeit, Ingrimm der Höchstegüterwahrer«, auf die »Überwindung biedermeierischer Verlogenheit, die noch allzu gerne mit Romantik verwechselt wird: Befreiung also von der ›Gemütlichkeit‹«.70
In einem der folgenden Essays wertet der amerikanische Komponist Louis Gruenberg den Jazz als »wichtigste[s] Element in der heutigen Musik Amerikas« und empfiehlt den Jazzkomponisten, sich vom Tanz zu lösen, ihn also von einer Funktions- zu einer Kunstmusik zu entwickeln.71 Der französische Komponist Darius Milhaud betont in Bezug auf die Jazzband die »Neuartigkeit ihrer Technik auf allen Gebieten«.72 Ihm immerhin ist bereits bewusst, dass Jazz auf musikalischer Kommunikation fußt und es deshalb wichtig ist, Musiker zu haben, die regelmäßig zusammenarbeiten, »wie beispielsweise eines unserer guten Streichquartette«. Milhaud war 1922 zum ersten Mal in den USA gewesen und hatte dort die ersten Jazzkapellen gehört. In seinem Artikel gibt er einen guten Überblick über das in Amerika erhältliche Lehrmaterial, beschreibt, was darin neben rhythmischen Feinheiten alles vermittelt wird. Er ist auch einer der wenigen jener Zeit, die das »improvisatorische Element« erwähnen, das der Tanzmusik »eine Lebendigkeit des Ausdrucks verleiht, wie wir sie nur bei den Schwarzen finden«.73 Der australische Komponist Percy Grainger schließlich gibt Entwarnung für all diejenigen, die im Jazz eine Gefahr sehen. Jazz, schreibt er, habe keine große Zukunft. Das Publikum liebe ihn vor allem »wegen der Kürze seiner Formen und der geringen geistigen Anforderungen an den Zuhörer«.74 Er wolle da nichts herabsetzen, die Welt brauche nun mal »volkstümliche Musik« – wie er noch jenes Phänomen bezeichnet, das wenig später Popmusik werden soll.
Auch Paul Bernhards Jazz. Eine musikalische Zeitfrage von 1927 versuchte den Jazz in die musikalischen Diskurse der Zeit einzuordnen. Bernhard beschreibt die Tänze, die man mit dem Jazz assoziiert, als eine Art »Vermännlichung der Frau«, meint, dass das Banjo in der englischen Volksmusik etwa die Rolle der Zither in der alpenländischen Volksmusik einnehme, beschreibt die Melodik des Jazz als meist banal und erklärt, die Rhythmik sei vor allem durch die Synkope bestimmt. Es ist eines der am häufigsten anzutreffenden Missverständnisse der Zeit, dass jene Offbeat-Phrasierung, die sich im Jazz findet und die schwer exakt in Notenschrift festzuhalten ist, tatsächlich Synkopen seien, bewusste Taktverschleierungen. Bernhard führt sie zudem nicht allein auf afrikanische oder afro-amerikanische Musizierpraktiken zurück, sondern auf die Rhythmik und Metrik der englischen Sprache. Er beschreibt ferner die Entwicklung des Jazz als die von einer Volksmusik zu einer musikalischen Ware. Außer dem legendären Saxophonisten und Klarinettisten Jasbo Brown, der 1915 im Café Schiller in Chicago gespielt haben soll und den er zwar nicht als den Erfinder der Musik, wohl aber als Namensgeber identifiziert, nennt Bernhard kaum Musikernamen, hebt dann jedoch Paul Whiteman als denjenigen heraus, »der als erster den Versuch gemacht hat, die Jazzband aus dem Stadium der mehr oder weniger improvisierten Tanzmusik hinaufzuführen in die Atmosphäre des symphonischen Orchesters«.75
Im Ursprungsland des Jazz wurde er publizistisch nicht anders dargestellt: Auch dort fand der authentische Jazz höchstens in Berichten über Tanzlokale Erwähnung; in den seriöseren Zeitschriften und Fachmagazinen wurde er entweder als Ragtime (also klar komponierte Salonmusik) oder über den Ansatz Paul Whitemans rezipiert, der mit seinem Aeolian Hall Concert (in dem übrigens auch die Uraufführung von George Gershwins »Rhapsody in Blue« stattfand) versuchte, das Genre als Kunst- und Zuhörmusik zu vermarkten.
Paul Whiteman in Deutschland
Paul Whiteman (geb. 1890) hatte seine Karriere als Bratschist im Denver und San Francisco Symphony Orchestra begonnen. Er spielte klassische Kammermusik und nebenbei ein wenig populäre Musik. Während des Ersten Weltkriegs leitete er eine vierzigköpfige Navy-Band, mit der er tagsüber Märsche und abends für Bühnenshows spielte. Dem Beispiel John Philip Sousas und anderer folgend, nutzte er für seine Programme bald auch das Ragtime- und frühe Jazzrepertoire. 1918 gründete er seine erste Tanzkapelle in San Francisco, mit der er dann nach Los Angeles, Atlantic City und ab 1920 nach New York ging, wo sein Orchester schnell große Erfolge mit Arrangements von Tagesschlagern hatte.
Whitemans Orchester setzte sich aus zwei Trompeten, zwei Posaunen, drei Holzbläsern und einer Rhythmusgruppe zusammen, dazu mindestens zwei Streicher, bei besonderen Konzerten oder Aufnahmen waren es mehr. Whiteman engagierte die besten Musiker, sichere Blattspieler, die meist mehr als nur ein Instrument spielten; er beschäftigte hervorragende Komponisten und Arrangeure, unter ihnen Afro-Amerikaner wie Don Redman und William Grant Still, aber auch Victor Herbert, in den späten 1930er Jahren sogar Duke Ellington, insbesondere aber Ferde Grofé, der dem Ensemble neben anspruchsvollen Arrangements von Tagesschlagern auch Konzertstücke auf den Leib schrieb. Mitte der 1920er Jahre gab es in ganz Amerika Orchester, die Whitemans Stil nachahmten, und für viele Journalisten, vor allem aus dem klassischen Lager, stand Whitemans Musik für eine künstlerisch wertvollere Variante des von ihnen zu sehr als Modemusik angesehenen Jazz.

Paul Whiteman mit seinen Jazz-Symphonikern (Zeichnung in der Deutschen Allgemeinen Zeitung, 1926)
Später waren Jazzkritiker nicht allzu gnädig mit Whitemans Œuvre, das sie als zu kommerziell und seicht ansahen, weil ihnen das Risiko und die Improvisationsfreude des Jazz fehlten. Tatsächlich machte Whitemans Musik zwar ausgiebig Gebrauch von Streichern, nutzte Klischees aus der klassischen Welt wie etwa den Dirigierstab und hatte stark durchgeformte Arrangements im Repertoire; das improvisierte Solo allerdings spielte nur eine untergeordnete Rolle. Whiteman selbst hatte in den 1920er Jahren angeblich davon gesprochen, er wolle aus dem Jazz »eine Lady« machen und ihn in die amerikanischen Konzertsäle bringen. Bereits 1919 sagte er in einem seiner ersten Interviews über den Jazz: »Viele gute Musiker wollen keine Tanzmusik spielen. Ich finde, das ist eine falsche Einschätzung. […] Der moderne Jazz kann auch weniger rau gespielt werden und dann recht gut klingen. Das ist mein Ansatz. Tanzen und Musik gehören nun mal zusammen. Man kann sich das eine schwer ohne das andere vorstellen. Man kann also verfeinern oder ablehnen, ganz wie man mag. Populäre Musik hat ihre Zeit und sie hat ihren Platz, genauso wie die klassische Musik.«76
Trotz solcher Skepsis gegenüber den raueren Klängen des Jazz legte Whiteman Wert darauf, dass in seinen Orchestern immer genügend Jazzsolisten mitwirkten, der Trompeter Bix Beiderbecke etwa, der Posaunist Jack Teagarden, der Geiger Joe Venuti, der Gitarrist Eddie Lang oder der Saxophonist Frank Trumbauer. Sie wurden von Whiteman sogar ausdrücklich engagiert, um in den oft überladenen Arrangements die Jazzpartien und -soli zu spielen.
Whitemans Ansatz, Jazz konzertsaaltauglich zu arrangieren und aufzuführen, faszinierte auch etliche europäische Bandleader. Im Frühjahr 1926 kam der »King of Jazz«, wie Whiteman in der Presse gern bezeichnet wurde, für eine Tournee nach Europa. In Wien traf er sich mit Franz Lehár und Emmerich Kálmán – und schon dieses Interesse an der Operette zeigt, in welchem Umfeld Whiteman sich selbst verortete. In Berlin wohnte das Orchester im Fürstenhof und wurde entsprechend empfangen. Die Lufthansa spendierte Freiflüge in die nähere Umgebung, und als das Orchester für sein erstes Konzert am 25. Juni 1926 im großen Schauspielhaus probte, schauten Professoren der Hochschule für Musik vorbei, aber auch Arnold Schönberg, Franz Schreker und Fritz Kreisler.77
Whiteman war ein wenig nervös vor dem Konzert. Das Große Schauspielhaus fasste immerhin mehr als 3000 Besucher, außerdem hatte die deutsche Presse im Vorfeld Ressentiments gegen den zu erwartenden Jazz und die Band aus ehemaligen Kriegsfeinden durchblicken lassen. Seine Sorgen aber waren völlig unbegründet; das Konzert wurde ein Riesenerfolg, und wenn auch die Rezensionen in den Tageszeitungen mit den Jazzelementen wenig anfangen konnten, zollten sie doch der Virtuosität der Band allergrößten Respekt.78 Nach fünf Konzerten in Berlin vergab Whiteman am letzten Abend im Schauspielhaus einen von ihm gesponserten Preis für den besten Foxtrott eines deutschen Komponisten in Höhe von 200 Dollar, den Otto Lindemann erhielt. Whiteman hatte musikalisch Eindruck gemacht, was unter anderem daran zu ermessen ist, dass die Berliner Philharmoniker am 6. September 1926 zusammen mit einigen der besten in Berlin verfügbaren Jazzmusiker Ferde Grofés »Mississippi Suite« aufführten, eine Art Tondichtung mit Anklängen an afro-amerikanische Spirituals und den Karneval in New Orleans, an die Gebiete der amerikanischen Ureinwohner und die Geschichten Mark Twains.79 Die Chocolate Kiddies mögen Musiker und Fans wegen der authentischen Kraft der Improvisation mehr begeistert haben; Whitemans Konzerte in Berlin erreichten insbesondere das intellektuelle Publikum, das seine Musik neugierig und fasziniert, aber ob des populären Erfolgs durchaus auch kritisch hinterfragte.