Kitabı oku: «Zipper und sein Vater. Historischer Roman», sayfa 2

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Er führte Arnold jeden Sonntag ins Hippodrom und lehrte ihn reiten. Er nahm einen »Lehrer für dramatische Kunst«, Arnold lernte deklamieren. Bestimmte Verse mußte Arnold immer wieder seinem Vater vorsprechen. Der Alte hatte einen besonderen literarischen Geschmack. Er liebte ein Gedicht von Rudolf Baumbach: »Die Reise ins Paradies«. Obwohl er den Kaiser verachtete, hörte er doch gerne das Gedicht eines zeitgenössischen Lyrikers, der zum Thema seiner Dichtung den Tag des Kaisers gewählt hatte. Jede Strophe behandelte je eine Stunde dieses Tages und die Arbeit, die der Monarch in dieser Stunde verrichtete. Der alte Zipper liebte: »An der Quelle saß der Knabe«, »Habe nun, ach, Philosophie«, »Der Türmer, der schaut zu Mitten der Nacht«, »Durch diese hohle Gasse muß er kommen«, »Der Gott, der Eisen wachsen ließ« und die »Lorelei«. All das rezitierte Arnold »fließend«, wie der alte Zipper zu sagen liebte. Denn auf den Fluß kam es ihm an.

Blieb aber Arnold einmal irgendwo stecken, so legte der alte Zipper die Hände auf seine Stirn und fragte: »Was soll aus dir werden?« Dieselbe Frage erfolgte, wenn Arnold vom Rad oder vom Pferd fiel. Was sollte aus ihm werden?! Nach dem Wunsch des Vaters alles mögliche: ein Zirkuskünstler und ein Schauspieler; ein Gelehrter und ein Dichter; ein Erfinder und ein Kavalier; ein Diplomat und ein Zauberer; ein Glücksritter und ein Komponist; ein Don Juan und ein Musikant; ein Abenteurer und ein Ministerpräsident. Alles konnte Arnold werden; alles, was der alte Zipper nicht geworden war.

IV

Inhaltsverzeichnis

Weshalb war aus dem alten Zipper nichts geworden – wenigstens seiner Meinung nach nichts geworden? – Weil er den größten Teil der Energie, die ihm Gott mitgegeben hatte, dazu hatte verwenden müssen, um aus einem Proletarier ein Bürger zu werden. Denn das ist der Weg der kleinen Menschen. Als Zipper, der Sohn eines Tischlers, jung war, sollte er auch ein Tischler werden. Er wurde Lehrling. Er verfertigte Tische aus Eichenholz, Schränke, Wiegen, Koffer und Särge. Schließlich kam er zu einem großen Tischler in die Lehre nach Wien.

In der kleinen Stadt ist es, als wäre man von Geburt an für irgendeinen Beruf, irgendeine Sendung, irgendein Geschäft bestimmt. Der ist Gemeindepolizist und jener Totengräber. Der ist Uhrmacher, und jener handelt mit Nahrungsmitteln. Der ist ein reicher Kaufmann und jener ein armer Glasermeister. Schon der Vater des Reichen war reich, und der Großvater des Reichen war es auch schon. Die ältesten Menschen der Stadt können sich nicht erinnern, daß irgendein Vorfahre des Reichen arm gewesen wäre. Der Sohn eines Tischlers wird niemals ein Totengräber. Der Sohn eines Delikatessenhändlers wird niemals ein Flurwächter. Zipper, der Sohn eines Tischlers, wäre ein Tischler geblieben, wenn er nicht in die große Stadt gekommen wäre.

Er steckte nicht mehr ganz in seinem Beruf. Er ragte mit einem Teil seiner Strebsamkeit über die Grenzen hinaus, die seinem Leben gezogen waren. Schließlich lag ihm die Strebsamkeit im Blut. Ein wenig flatterhaft war er auch. Er arbeitete nicht mehr in einer einfachen Werkstatt mit drei Gesellen, wie zu Hause, bei seinem Vater, sondern in einer großen Sargfabrik mit dreihundert Arbeitern, die keine Tischler waren. Jeden Tag wurden genau siebzig Särge fertiggestellt. Wo viele Menschen leben, sterben auch viele. Es war ein trauriges Geschäft. Im Anfang dachte Zipper fortwährend an den Tod. Er aber war dem Leben zugeneigt.

Er wechselte den Beruf, aber er blieb beim Holz. Er kam zu einem Instrumentenmacher in die Lehre. Er lernte Violinböden herstellen, Stege und Bodengriffe. Bei dieser Gelegenheit entdeckte er seine musikalische Begabung. Er gedachte nicht so lange zu warten, bis er eine ganze Geige hätte verfertigen können. Er hoffte auf ein außergewöhnliches Glück, zumal da er sich in ein Mädchen verliebt hatte, dessen Eltern, wohlhabende Delikatessenhändler, ihre Tochter nur einem wohlhabenden Manne zu geben gewillt waren. Er spielte in der Lotterie und gewann. Hierauf besuchte er die Eltern seiner Geliebten und sprach davon, eine Musikalienhandlung zu eröffnen. Er verlobte sich. Eine kleine Musikalienhandlung paßte ihm nicht, er wollte mit einer großen anfangen. Dazu mußte man mehr Geld haben, als er gewonnen hatte. Weil er an sein Glück glaubte, auch einige Abenteuer zu bestehen gedachte, ging er zur Bahn und fuhr nach Monte Carlo. Und dort ereigneten sich jene außergewöhnlichen Umstände, unter denen er seinen Chronometer erstanden hatte.

Er verlor den größten Teil seines Geldes, kam zurück, heiratete. Es reichte nicht einmal mehr für eine kleine Musikalienhandlung. Er bekam durch die Vermittlung seines Schwiegervaters ein Papiergeschäft in Kommission. Wie weit war er da vom Eichenholz entfernt! Er mußte den ganzen Tag zu den großen Firmen der inneren Stadt gehen, um Bestellungen auf Drucksorten aufzunehmen. Indessen saß seine junge Frau in einem kleinen Delikatessenladen und verkaufte Heringe auf Kredit. Nachdem Zipper sich, wie es heißt, »eingearbeitet« hatte, gab seine Frau die Heringe auf. Man konnte bei dem Papiergeschäft nie reich werden, aber lange am Leben bleiben. Allmählich war Zipper seine Beschäftigung lieb geworden. Sie war keine Arbeit. Sie gestattete ihm, langsam durch die lebendigsten Straßen der Stadt zu gehen, mit den Direktoren der größten Geschäfte zu sprechen, bei der und jener Gelegenheit manches zu erfahren, wonach ihn zu wissen dürstete. Er schaffte sich Verbindungen, an denen ihm viel gelegen war. Theaterkassierern, Varieté-Agenten, Zirkusdirektoren kam er immer näher. Kleinen Menschen machte er gelegentlich kleine Geschenke, zum Beispiel Visitkarten. Wo andere zahlen mußten, stand ihm der Zutritt frei. Wo andere warteten, drang er als erster vor. Und selbst wo man, ohne zu warten, vordringen konnte, war es ihm lieb, so zu tun, als könnte nur er zuerst darankommen.

Seinem Beruf entsprechend wechselte seine Kleidung. Eine bestimmte Delikatesse in der Wahl seiner Stoffe und seiner Hemden und seiner Krawatten schien ihm angeboren. Daß er von Zeit zu Zeit in Modeschriften einen Blick warf, glaubte er seiner Karriere schuldig zu sein. Sie zu machen, war er fest entschlossen. Doch war auf dem Weg eines alltäglichen Papierhandels freilich kein großer Reichtum zu erwarten. Infolgedessen unterbreitete Zipper, in seinem »Auftreten« unterstützt durch die elegante Note seiner Kleidung, verschiedenen einflußreichen Persönlichkeiten »Projekte«. Seine Vorschläge bezogen sich auf die Verbesserung der Straßenbahnbremsen, auf die Hebung des Fremdenverkehrs, auf eine neue Organisation des Reklamewesens. Manche Einfälle gebar sein Kopf. Ständig ging er mit Plänen schwanger. Allmählich, da kein einziger gedieh, wurde er traurig, wie ein Gärtner, der kraftlosen Samen gesät und dem der Sommer und der Herbst ohne Gabe vorbeiziehn. Er gab immer weniger auf seine Haltung acht. Verschiedene Methoden, eleganter zu erscheinen, als er in Wirklichkeit sein konnte, behielt er noch bei. Er trug weiße Krawatten zu einem schwarzen Anzug. Er sah einem Herrenreiter ähnlich, einem Lakaien, einem Fischer am Sonntag, einem Kapitän, der nach langen Jahren zum erstenmal wieder festen Boden betritt, einem Manager in einem Zirkus, weiß Gott noch wem. Als ihm die Haare auszugehen begannen, erfand und mischte er allerhand Salben, sie zu bewahren. Durch eine Verbindung von Terpentin, Chinin, Schwefel und Salz gelang es ihm, ein Haarmittel herzustellen, das er selbst mit Erfolg verwendete und dessen Geheimnis er einem Friseur verkaufte – um den Preis eines Gratisabonnements für zwei Jahre, Haarschneiden einmal im Monat inbegriffen. Denn es ging dem alten Zipper keineswegs um einen Verdienst, sondern um die Möglichkeit, sich sogar in puncto Rasieren und Haarschneiden von andern Männern zu unterscheiden, die ihren Barbier mit barer Münze bezahlten.

Es war sein Ehrgeiz, »Protektionen« zu haben. Meist gelang es ihm, die Gunst derjenigen Persönlichkeiten zu gewinnen, die man überhaupt im Leben nicht braucht. Da er sich aber einbildete, man müsse Freundlichkeit erhalten, verlor er viel Zeit – die ihm allerdings immer zur Verfügung stand. Er kannte die Rayoninspektoren der Polizei, einige Männer von der Feuerwehr, er hatte seine Beziehungen auf den verschiedensten Bahnhöfen, er grüßte Zollbeamte, Magistratssekretäre, Gerichtsadjunkten, Männer, die Steuern einkassierten, Sollizitatoren, Notare. Ja, auch den Henker kannte er. Er rühmte sich seiner Fähigkeit, Hinrichtungen beiwohnen zu können, ließ es aber niemals darauf ankommen – ich vermute, daß ihn sein weiches Herz nicht gehen ließ. Doch gelang es ihm immer, bei Unglücksfällen, Bränden, Volksversammlungen, Verhaftungen, Demonstrationen, Umzügen, offiziellen Feiern und andern Gelegenheiten dort durchzukommen, wo es verboten war. Er, der sich aus dem Kaiser nichts machte und abfällige Witze über ihn sogar im Kaffeehaus vorbrachte, marschierte am Vorabend des kaiserlichen Geburtstages an der Seite der Fackelträger und der Veteranenmusik.

Wenn eine hohe Persönlichkeit begraben wurde, hinderte ihn seine Ungläubigkeit nicht, in einer Reihe mit den nächsten Leidtragenden in der Kirche zu sitzen. Jeden Sommer, wenn der Kaiser nach Ischl fuhr, befand sich der alte Zipper unter Generälen, Bürgermeistern und fast neben dem Stationschef – den er kannte – auf dem Bahnsteig. Längst nachdem er wegen starker Krampfadern von der Teilnahme an Manövern befreit war, ging er in die Dörfer, in denen sie stattfanden. Alle Bewegungen der Truppen kannte er. Dank einer Beziehung zu einem Portier des Parlaments, saß er, wenn es tagte, neben der Journalistenloge. Bedeutenden Prozessen wohnte er bei, Eintrittskarten hatte er für alle Angehörigen zur Verfügung.

Indessen gingen leider seine Geschäfte immer schlechter. Denn er bemühte sich weniger um die Kunden, die ihm Aufträge erteilten und bei denen er verdienen konnte, als um jene, die ihm für gleichgültige Gelegenheiten kleine Vorteile verschafften. Andern wieder machte er Geschenke, er lieferte ihnen Drucksorten umsonst. »Man muß sich revanchieren!« sagte der alte Zipper. Es ging abwärts mit seinen Geschäften. Seine Frau blieb dem Greißler schuldig, das Klavier war erst zur Hälfte bezahlt, die Monatsrechnung für das Lexikon, Darwin, Haeckel und Schillers gesammelte Werke blieb liegen, der Ratenagent kam und drohte mit der Pfändung. Aber Zipper lächelte: ihn pfänden? Gab es im ganzen Bezirk einen Steuereinnehmer, der Zipper pfänden würde?

V

Inhaltsverzeichnis

Eines Abends, es war Sommer, neun Uhr, knapp nach dem Abendessen, just um die Stunde, in der die Bewohner des Viertels ihre Wohnungen verlassen (die Frauen ohne Hüte, die Kinder an der Hand, die Hunde ohne Leine und die Männer ohne Weste), um in den nächsten kleinen Park zu gehen oder auf den Kai, da sagte Zipper plötzlich zu seiner Frau:

»Ich habe heute den Salon vermietet.«

An diesem Abend ging die Familie Zipper nicht mehr an die Luft. Alle, die im Zimmer waren – auch ich, der ich gekommen war, meinen Freund abzuholen –, dachten, der alte Zipper sei verrückt geworden. Die Frau Zipper stand auf, trat hinter die Lehne ihres Sessels, wie hinter eine Schanze, um sich zu verteidigen. Als sie sah, daß ihr Mann ruhig saß, blieb auch sie bewegungslos stehen. Sie sah ihn gerade an, sie schien am schnellsten von uns zu begreifen. Auf einmal begann sie den Kopf zu schütteln, es war, als bekräftige sie etwas, was sie nur für sich gedacht hatte, als bejahte sie irgendeinem Unsichtbaren eine Frage, die er, nur ihr hörbar, gestellt hatte. Ja, ja, ja, ja, sagte fortwährend ihr armer Kopf, und ihre knochigen harten Hände lagen regungslos auf der Stuhllehne. Ja, ja, ja, ja, nickte ihr Kopf, und nichts sonst bewegte sich im Zimmer. Arnold saß ruhig da, Cäsar war schon fortgegangen, ich kauerte auf der Ecke eines Sofas, am Kopfende des Tisches saß der alte Zipper, und ihm gegenüber stand seine Frau und nickte mit dem Kopf.

»Was nickst du so?« sagte Zipper. – Sie antwortete nicht – das heißt: ihr Mund antwortete nicht, aber ihr blasses feuchtes Auge antwortete, es ließ eine Träne fallen. Ich erinnere mich, wie sie glänzte, diese Träne auf dem gelben Gesicht.

»Da läßt sich mein Freund, der Sekretär Wandl«, begann Zipper, »von seiner Frau scheiden. Das heißt, ich meine: nur von Tisch und Bett. Er sucht eine Wohnung. Wo soll er hin? ›Kommen Sie zu mir!‹ sag ich ihm. ›Ich hab einen Salon frei, ein Bett kann ich Ihnen nicht geben, aber jetzt werden Sie doch froh sein, eine Zeitlang kein Bett zu sehen, glaub ich, was?‹ Darauf lacht er natürlich. Von dem Preis –«

»Ja, was zahlt er?« unterbrach ihn die Frau Zipper. Es war zum erstenmal, daß ich die Frau Zipper ihren Mann unterbrechen hörte. Sie dachte an die unbezahlten Rechnungen, die arme Frau, und sie war schon über das Unglück getröstet, das ihr Mann eben verkündigte. Sie sah schon die Kehrseite dieses Unglücks, es fing an, einer Hoffnung ähnlich zu sehen.

Da sagte Zipper: »Von dem Preis haben wir natürlich nicht gesprochen.«

Dieses »natürlich« habe ich damals nicht begriffen. Warum war es Zipper so natürlich, nicht vom Preis zu sprechen? Ach, was war er doch für ein nobler Mann, der alte Zipper!…

Jetzt kam aus dem Auge der Frau Zipper die zweite Träne. Still und glänzend kam sie, rollte langsam und lautlos in die Stille und verlor sich bei den Lippen.

Dann nahm der Abend seinen Lauf. Frau Zipper begab sich in die Küche, Arnold und ich arbeiteten an einer mathematischen Aufgabe, Herr Zipper las die Zeitung. Die alte Wanduhr, die in dem vermieteten Salon hing, schlug die Stunden, das Fenster war offen, man hörte Stimmen plaudernder Menschen und von Zeit zu Zeit einen Hund bellen, ein Kind schreien, eine schwere Fliege um die Lampe summen. Alles war so, wie es jeden Abend hätte sein können. Aber es war außer all dem noch etwas da, der Atem eines Fremden, der Flügelschlag eines unbekannten Fluches, das unhörbare Signal einer Entscheidung. Wir waren alle zerschmettert, als hätten wir soeben erfahren, daß in dieser Nacht die Welt untergehen würde. Was schien mir denn so schrecklich an der Tatsache, daß die Zippers den Salon vermieten würden? War es, weil ich so oft in jenem kühlen, modrigen Zimmer gespielt hatte? War es mir lieb geworden? Ging es mir verloren, ein Stückchen Heimat? Sah ich den schmalen Sonnenstreifen schwinden, die Staubsäule vom Tisch zum Fenster? Dachte ich mit Wehmut an die blaue gläserne Garnitur?

Es war, als wäre jemand gestorben. Der alte Zipper raschelte mit der Zeitung – und jedesmal, wenn er ein Blatt umwandte, ergriff mich ein Schrecken. Arnold zeichnete mechanisch, er konnte nichts begreifen. Wir wollen lachen und können nicht. Plötzlich sehen wir uns an und senken wieder die Köpfe über den Heften. Aus der Küche kommt ein Schluchzen. Wahrscheinlich weint Frau Zipper. Arnold geht hinaus und kommt wieder nach zwei Minuten. Er sagt gar nichts. »Wo warst du?« fragt der Herr Zipper. »Draußen!« sagt Arnold.

Schließlich erhob sich der Herr Zipper, ging, die Hände auf dem Rücken verschränkt, ein paarmal durch das Zimmer, setzte sich wieder, faltete die Zeitung zusammen, fuhr mit der flachen Hand über sie hin, um sie geradezubügeln, sah auf seinen Chronometer und sagte:

»Es ist elf Uhr und siebzehn Minuten.«

Da ging ich nach Hause.

VI

Inhaltsverzeichnis

Der Postsekretär Wandl zog in den Salon. Man ließ alles dort stehen, wie es gestanden war. Man öffnete, wie sonst nur vor Ostern, wenn Zippers Bruder aus Brasilien kommen sollte, die Tür vom Flur zum Salon. Das Klavier blieb. Wenn der Postsekretär Wandl nicht zu Hause war, durfte Arnold üben. Er war ein gutmütiger Mann, der Sekretär Wandl. Er zahlte, ohne daß man es gefordert hätte, einen anständigen Preis. Die Frau Zipper bezahlte das Lexikon, Darwin, Schiller, Haeckel und den Greißler für drei Monate. Es gab wieder Emmentaler, jeden Abend, Salami und Bier. Wie vor vielen Jahren ging Zipper wieder am Nachmittag ins Kaffeehaus.

Es war ein lärmendes Kaffeehaus, wo die meisten Gäste Karten spielten. Der Rauch der Zigaretten und Zigarren stand kalt über ihren Köpfen, kalt, schwer und fest, in Knäueln, Klumpen und Blöcken. Die Männer saßen in Hemdärmeln, die Kellner standen hinter ihnen, sahen zu, wie sie spielten. Man mischte Karten mit zauberhafter Geschwindigkeit. Man warf sie auf die Tische, sie klatschten auf, als wären sie ins Wasser gefallen. Die Spieler riefen einander harte Worte zu, eine rätselhafte Art fremder Zauberflüche, es sah aus, als stritten sie heftig, indessen sie lachten. Kreide lief kreischend über trockene Täfelchen. Nasse Schwämmchen lagen auf Schalen, merkwürdige Tiere. Vom anderen Ende des Saales kam ein leises Klappern von Billardkugeln herüber.

Der Raum war halb dunkel. Es war das Dämmerlicht einer Grotte, eines Verschwörerhauses, eines Freimaurersaals. Er erregte meine Phantasie. Trat man aus dem Kaffeehaus in das helle Sonnenlicht, so war es, als wäre man mitten aus einem Traum geweckt worden. Saß man drinnen, so hatte die Zeit aufgehört. Über der Kasse hing zwar eine Uhr, sie tickte sogar, wurde jeden Abend vom Oberkellner Franz aufgezogen, aber sie hatte keine Zeiger. Was konnte schrecklicher sein als diese Uhr? Sie ging und ging, in ihrem verborgenen Innern lief die Zeit ihren regelmäßigen Lauf, aber man sah es nicht. Man wußte nur, daß Stunden schwinden, aber wie viele, das wußte man nicht. Die Menschen, die dort saßen, sahen trotzdem jedesmal auf die Uhr, sie bildeten sich wahrscheinlich ein, jetzt wüßten sie die Stunde. Das Ticken, das sie hörten, beruhigte sie offenbar.

Dort saß Zipper und spielte Sechsundsechzig, jeden Nachmittag, von drei bis sechs Uhr. Er spielte und verlor. Er verlor keine großen Summen, aber er verlor immerhin so viel, daß er anfing, billigere Zigarren zu rauchen und schließlich eine Pfeife mit dem billigsten Tabak. – »Eine Pfeife«, erklärte er damals, »ist viel gesünder als eine Zigarre, von der Zigarette ganz zu schweigen. Man sieht vor allem, was man raucht. – Für manche Menschen riecht es vielleicht nicht angenehm«, sagte er noch, wenn seine Frau am Tisch war. Manchmal aber brachte er eine Zigarre nach Haus, eine Trabucco, vielleicht hatte sie ihm jemand geschenkt. Sie steckte einzig und einsam in seinem Zigarrenetui, das ganz schlaff und welk geworden war, mit hängenden Backen. Sie war außerdem noch in ein Stück Zeitungspapier eingewickelt. Am Abend rauchte sie Zipper, tat drei Züge, sah sie an, tat noch einen Zug, legte sie vor sich hin, drehte sie, betrachtete sie von allen Seiten, tat, als suchte er an ihr nach irgendeiner Wunde, steckte sie wieder in den Mund und schwieg. Den Stummel steckte er sorgfältig in seine gelbe alte Bernsteinspitze und rauchte ihn so lange, bis ein kleines armseliges Stummelchen zurückblieb. Dieses holte er mit einem Bleistift heraus, reinigte es von der Asche, zerkrümelte es und schüttete es in seinen Tabaksbeutel.

Es ging ihm immer schlechter, dem alten Zipper. Aber je trauriger es mit seinen Einnahmen aussah, desto mehr gesellschaftliche Ehren häufte er an.

Jetzt gehörte er schon drei Wohltätigkeitsvereinen und mehreren Geselligkeitsklubs, und in jedem hatte er irgendein Amt. Hier war er Kassierer und dort Obmann und dort Vizepräsident und dort Sekretär. Ein paar Abende im Monat mußte er für Versammlungen, Feiern, Generalrapporte »opfern« – wie er sagte. Je schäbiger, älter, farbloser sein schwarzer Anzug wurde, je grauer und schmutziger seine weiße Krawatte, desto häufiger zog er sich festlich an.

Manchmal hatte er seine großen Tage. Da mußte er Reden halten. Zwei Wochen vorher setzte er eine Rede auf, und zwei Wochen lang lernte er sie auswendig. Es kamen in jeder Rede dieselben Wendungen vor, aber der alte Zipper war so fest davon überzeugt, daß er immer wieder besonders originelle Gedanken niedergeschrieben hatte, daß er sich verpflichtet fühlte, sie zu vergessen. Er ging hin und her im Zimmer, in dem alle saßen, und lernte laut, eindringlich und feierlich. Frau Zipper mußte ihn abhören. Obwohl sie die Rede längst auswendig wußte, nahm sie das Manuskript zur Hand und folgte mit dem Zeigefinger jeder Zeile. »Pause!« sagte sie, sooft Zipper allzuschnell von einem Gedankengang zum andern hastete.

Meine verehrten Anwesenden! – so begann jede Rede. Und Zipper memorierte auch die Ansprache jedesmal. Wir alle konnten die Rede schon auswendig, außer Cäsar, dessen Kopf widerstandsfähig war gegen jeden Eindruck. Wir alle konnten die Rede schon, es gab Stunden, in denen sie ganz selbständig und obwohl ich mich gegen sie wehrte, in meinem Gehirn abrollte, wie von einer Spule ein Faden, der kein Ende nimmt.

Frau Zipper und Arnold gingen zu den großen Abenden Zippers, manchmal nahm er auch mich mit. Man saß in dem Gesellschaftsraum eines Kaffeehauses, im Untergeschoß, von ferne hörte man aus der heiteren Oberwelt das Klirren der Tassen, das Stimmengewirr der Gäste, ein paar Takte einer Musik. Sooft die Tür aufging, drang der reiche Lärm mit ganzer Kraft in den tiefen Raum, es war, wie wenn man sich mitten in der Straße die Ohren zuhielte und sie wieder für einen Augenblick offen ließe, um sie dann wieder zu verdecken. Man ahnte, daß dort oben schöne, lebendige, kräftige Dinge sich abspielten. Hier aber saß Frau Zipper bleich im schwarzen Flitterkleid, dicke Herren und dicke Damen neben und hinter ihr, Arnold stand im Hintergrund des Saals, etwas blaß und zitternd, und auf dem Podium stand, grell beleuchtet, der Herr Zipper, den Zylinder in der Hand, und im Innern des Zylinders lag das Manuskript seiner Rede. Er konnte sie immer noch nicht. Frau Zipper flüsterte lautlos vor sich hin, jedes Wort der Rede, noch ehe es ihr Mann ausgesprochen hatte.

Sie flüsterte und bebte.

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18+
Litres'teki yayın tarihi:
13 kasım 2024
Hacim:
161 s. 2 illüstrasyon
ISBN:
9788027227006
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