Kitabı oku: «Der Preis für ein Leben ohne Grenzen - Teil I», sayfa 2
Rysias Schule befand sich in der Nähe unseres Hauses, nicht weit entfernt von der evangelischen Kirche (von deren Turm ich mit dem Fallschirm springen wollte). Ich hingegen musste durch die ganze Stadt laufen. Stolz trug ich auf dem Rücken meinen Schulranzen. Er war ganz neu aus lackiertem Karton und mit Schnallenverschlüssen. Im Ranzen war ein Schiefertäfelchen mit Holzrahmen zum Schreiben. In der Mitte des Rahmens war ein gebohrtes Loch, an welches zwei Schnüre befestigt waren. Am Ende der einen hing ein trockener, am Ende der anderen ein feuchter Schwamm zum abwischen. In der Schule bekamen wir ein Stück Kreide, mit dem wir sorgfältig auf dem Täfelchen kritzeln konnten. Nach dem Unterricht lief ich immer gleich nach Hause und wollte nicht, dass die Schwämme meinen Schulranzen verschmutzten, so dass sie an beiden Seiten des Schulranzen heraushingen und auf diese Weise meinen Lauf imitierten. Sehr gut hat es mir in der Schule gefallen, die jedoch nach einiger Zeit geschlossen wurde.
In unserem Haus im Parterre auf der Hofseite bekamen Jungs der Hitlerjugend zwei Zimmer. Wir konnten sie nicht leiden. Sie warfen uns Blicke zu, wie niemand möchte, dass man angesehen wird. Das gefiel uns ganz und gar nicht. Wir wollten mit ihnen kämpfen und bemerkten eines Tages ein gekipptes Fenster zu ihrem Zimmer. Es war dunkel, niemand war im Raum. Genau unterm Fenster befand sich das Dach des Kellereinganges. Ich kletterte drauf und die Jungs hielten Wache, damit uns niemand bemerkte. Direkt am Fenster auf dem Schreibtisch, in Reichweite meines Armes, lagen Papierklebebandrollen. Ich griff nach einer, sprang wieder schnell vom Dach und wir flüchteten an den See Głęboczek. Dort warfen wir die Rolle ins Wasser. Wir hatten Eigentum der Hitlerjugend zerstört! Riesige Angst hatten wir, doch danach fühlten wir uns wie Helden.
Am meisten kümmerte sich Opa Kazimierz um uns und versuchte alle Kriegsgrauen von uns fernzuhalten. Deswegen dauerte unsere Kindheit an. In der letzten Zeit sagte er öfters, dass es im Osten gar nicht so gut sei, wie die Deutschen in ihren Zeitungen behaupteten. Irgendwie klappt das nicht mit dem Blitzkrieg.
Derweilen begannen in Tuchola immer mehr deutsche Soldaten aufzutauchen. Sie kamen zur Rekonvaleszenz nach einem Krankenhausaufenthalt. Wälder, die wunderschöne Umgebung und die Ruhe gaben ihnen Kraft. Häufig sahen wir sie auf Spaziergängen mit Pflegerinnen des deutschen Frauenhilfsdienstes. Wenn wir Indianer spielten, waren die spazierenden Paare Zielobjekte unserer Pirsch.
An einem warmen Nachmittag in der Nähe des Sees bemerkten wir ein Pärchen, welches in unserer Richtung ging. Schnell robbten wir auf die Anhebung und im Gras versteckt, beobachteten wir, was passierte. Die Verliebten setzten sich hinters Gebüsch. Nach einer Weile begann der Soldat seine Auserwählte zu küssen und ihr zügig die Kleider auszuziehen. Plötzlich verschwanden sie im hohen Gras. Nach ein paar Minuten standen sie wieder auf, zogen sich an, klopften sich ab und gingen lachend zurück in Richtung Stadt. Was auch immer sie da gemacht haben, es musste Spaß machen, dachte ich mir. Wir waren ein wenig zu weit weg, so dass wir nicht viel sehen konnten, dennoch hatte dieses Ereignis meine Phantasie bewegt. Ich beschloss, es selbst zu überprüfen. Krzysztof war nicht im Hof. Wahrscheinlich hatte er wieder etwas ausgefressen und deswegen mal wieder Hausarrest bekommen. Mit Edek liefen wir in seinen Hof, in die Garage, wo das Auto seiner Eltern stand. Uns folgte Basia, Edeks um ein Jahr jüngere Schwester. „Ich will mit euch spielen", teilte sie entschieden mit. „Ich bin der Chauffeur und ihr sitzt hinten, los!" ordnete Edek an.
Mit Basia setzte ich mich auf die Hinterbank des Autos und ich wusste schon, was zu tun ist. „Jetzt ziehen wir uns aus und Du legst Dich auf die Sitzbank", sagte ich zu Basia und sie schaute mich verdutzt an, zog aber gehorsam ihr Kleid und ihre Unterhose aus. Die nackte Basia legte ich auf der Sitzbank zurecht, legte mich auf sie und so lagen wir dann. Wir lagen und lagen und lagen, bis Basia unruhig wurde: „Mir ist kalt", hörte ich eine leise Beschwerde des Mädchens. „Mir ist nicht bequem und Du bist zu schwer, geh runter", sagte sie. Mir war auch kalt und dieses herumgeliege war gar nicht so toll, fand ich.
Es kam ein wunderschöner Sommer. Am Ortsrand hinter den Gärten, befand sich auf der sumpfigen Wiese ein Entwässerungskanal. Ein ungewöhnlicher Ort für sommerliches Planschen und Spielen. Wie immer bemühte ich mich, die Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Meine angeborene Beweglichkeit drängte dazu, meinen jugendlichen Körper in Brücken, Handstände und verschiedenartigste Verrenkungen zu biegen sowie auf Händen zu gehen. Vom Schwimmen und Spielen erschöpft legte ich mich ins Gras, starrte in den Himmel und beobachtete die Wolken: wunderschön, einzigartig, vollkommen. Ich habe mich in sie verliebt und könnte sie endlos beobachten. Manchmal nahmen wir Körbe mit zum Fluss. Wir wateten im Wasser auf der Suche nach Krebsen. Wir schauten unter Steine und zwischen Baumwurzeln. Mit Körben voller Beute kehrten wir heim. Abends stellte Oma Ludwika einen riesigen Topf Wasser auf den Ofen und warf die Krebse hinein - sie quiekten.
Eines Tages besuchte uns Tante Iza Biernatzki aus Hamburg mit ihren Töchtern: die jüngere Iza und die ältere Christa. Iza mochte ich sehr gerne. Wir waren gleich alt und sie hatte wie ich einen Kopf voll verrückter Ideen. Christa erinnerte mich eher an Rysia, so dass es nicht verwunderlich war, dass sie immer ihre Angelegenheiten hatte. Die Mädchen konnten überhaupt kein Polnisch, aber das stellte keinerlei Hindernis dar. Ungezwungen sprachen wir Deutsch.
Eines sonnigen Tages nahm ich den Korb und überredete Iza zu einer Expedition an den Kanal. Freudig stimmte sie zu. Wir gingen durch verwinkelte Straßen. Irgendwann begann Iza sich zu beschweren, dass es zu weit sei und ihr die Beine weh taten. Ich wollte nicht umkehren, denn der Kanal war schon so nah. Ich nahm sie also huckepack und trug sie bis zur Wiese. Im kühlen Wasser verging ihre Erschöpfung schnell. Wir hatten eine tolle Zeit zusammen. Abends brachten wir einen vollen Korb mit Krebsen mit. Zugegeben, er war sehr schwer. Als die Cousinen mit der Tante wieder nach Hause fuhren wurde es auffallend leise und das stimmte mich traurig.
Eines Tages gab Mama bekannt, dass wir mit dem Zug zu den Großeltern nach Zembrze fahren werden. Denn Polizeimann Trippan hatte Mama vorgewarnt, dass die Deutschen junge Frauen zur Zwangsarbeit ins „Reich" schicken. „Verlasse Tuchola unbedingt für einige Wochen und komm erst wieder zurück, wenn es sich beruhigt hat", fügte er hinzu.
Mit dem Zug fuhren wir bis Radoszki. Am Bahnhof wartete Onkel Bolek mit einem mit zwei Pferden bespannten Wagen. Die Reise mit dem Pferdewagen war ungewöhnlich. Ich überlegte, wie es möglich sein kann, dass die Pferde den Unterschied zwischen „hetta" (Kommando: nach rechts) und „viśta" (nach links) verstanden. Schließlich erreichten wir einen riesigen Bauernhof. Ich erblickte eine große Scheune sowie Ställe mit Kühen und Pferden. Hinter dem Haus breitete sich ein weitläufiger Obstgarten mit Kirschbäumen aus. Ungestraft konnte ich bis an die Spitze der Bäume klettern und mit den Kirschkernen umherspucken. Ich war zufrieden und fühlte mich frei wie ein Vogerl. Für uns Kinder war es am wichtigsten, dass wir eine Menge an Cousinen und Cousins hatten, mit denen wir bis zum Umfallen spielen konnten. Auf dem Hof wohnten neben den Großeltern Ignacy Dąbrowski und Anna aus dem Hause Teodziecki, Papas ältester Bruder, Onkel Bolesław und Tante Helena aus dem Hause Sasowski, sowie ihre Kinder: die liebe Terenia, Zosia und Józik. Aus dem nahen Ort Radoszki kamen Kazik, Gercia, Marta und Jadzia regelmäßig mit dem Pferdewagen zu Besuch. Das waren die Kinder von Papas jüngerem Bruder, Onkel Józef und seiner Frau Weronika aus dem Hause Drwęcki. Mama ging mit den Tanten und Onkels aufs Feld und half bei der Ernte mit. Wir Kinder rannten, wie ein aufgescheuchter Haufen um die Erwachsenen herum. Mama nahm die hölzerne Harke, hob sie in die Höhe und stellte das Griffende auf ihren Zeigefinger. Auf diese Weise balancierend tanzte sie leicht und gewandt. Dabei lachte sie und wir schauten ihr wie verzaubert zu. Was für ein Kunststück! Die Tage in Zembrze vergingen wie ein Peitschenschlag und wir kehrten wieder nach Tuchola zurück.
1942, bei meinen Großeltern Dąbrowski in Zembrze. Von links: meine Mutter, Cousine Jadzia, Großmutter Anna, ich, Großvater Ignacy. Oberhalb der Großeltern: Cousins Gercia und Józio. Rechts stehen meine Schwester Rysia und Cousine Marta, über ihnen die Frau meines Onkels - Bronisława
Mit Edek begannen wir im Speicher bei unserem älteren Freund zu sitzen, welcher Flugmodelle zusammenklebte. Irgendwann zeigte er uns, wie man einen Drachen baut. Von Opa Kazimierz bekam ich dünne Leisten und Packpapier. Mit Edek malten wir Augen und ein lächelndes Gesicht. Aus farbenfrohen Papierchen, in welche Süßigkeiten gewickelt waren, die ich von Tante Szulc geschenkt bekommen hatte, machte ich einen langen, farbigen Schwanz. Wir ließen ihn auf der Wiese beim Głęboczek fliegen. Wunderschön bewegte sich der Drachen am Himmel. Fröhlich flatterte sein langer Schwanz. Ein kräftiger Windstoß riss unseren Drachen hinfort in die Krone einer vertrocknenden Pappel. Es war das Ende unseres und unseres Drachens.
Mit den Jungs spielten wir auch Ritter. Mit Schwertern aus Stöcken trugen wir Schlachten und Turniere aus. Doch was sind das für Ritter ohne Pferde? So kam mir eines Tages eine wunderbare Idee! Neben der Scheune, in welcher das Auto parkte, gab es gemäuerte Speicherabteile und in einem davon wohnte Frau Malinowskas Ziege. Die Ziege kann doch ein prachtvolles Ross vertreten! So wie wir eines brauchen! In meinen Hosentaschen hatte ich immer lauter Zeugs, so dass sich auch ein Stück verhedderter Schnur voller Knoten finden ließ. Gemeinsam mit Edek befestigten wir die Schlinge, um das „Pferd" in den Hof zu führen! Edek ging in das dunkle Speicherabteil und warf der Ziege die Schnur um den Hals. Wir griffen das andere Ende und zogen dran, zogen aus ganzer Kraft. Die Ziege meckerte und röchelte, blieb aber stur, stemmte sich dagegen und wollte um nichts in der Welt rauskommen. Wie eine Ziege eben! Wahnsinnig erschöpft waren wir und wütend auf das dumme Tier, das uns unser Spiel kaputt gemacht hatte, so gingen wir heim. Erst am nächsten Tag zeigte sich, dass wir nicht schlecht für Ärger gesorgt haben. Als Frau Malinowska in der früh ihre Ziege füttern und melken ging, fand sie diese leblos vor! Das arme Tier rüttelte sich um sich zu befreien, doch die Schlinge zog sich immer weiter zu, immer mehr und mehr bis sie schließlich an einem der Knoten festklemmte und erstickte. Wir wussten davon nichts. Mit der verwickelten Schnur, dem Beweis unseres Vergehens in Händen, war Frau Malinowska sofort zu Opa Kazimierz gegangen. Die Aufschrift Raiffeisen, welche auf der Schnur sichtbar war, ließ keinen Zweifel übrig, wer zu bestrafen sei. Opa bezahlte für die Ziege und wir bekamen ein Verbot, Edeks Hof zu betreten.
Der Winter war in Tuchola unvergesslich. Zu Edeks Haus führte ein kurzes Gässchen hinab, das die Choinicka- mit der Kościelna-Straße verband. Wenn viel Schnee gefallen war, konnte ich auf dem Schlitten geradewegs vors Haus meines Freundes fahren. Auf der linken Straßenseite stand ein kleines erdgeschössiges Häuschen mit einem Dachfenster. Oft schauten aus diesem Fenster zwei Mädchen heraus, die jedesmal Grimassen zogen, „auf der Nase spielten" oder mir zuwinkten.
Es war ein wunderschöner Wintertag. An den Bordsteinkanten lagen Halden des von der Straße geräumten Schnees. Ich spielte mit Freunden. Die bekannten Mädchen zeigten sich wieder im Fenster. Wir stellten uns in die Nähe und begannen Schneebälle zu machen. Dann öffneten die unverschämten Fräulein das Fenster und machten sich lustig über uns. Ihr Verhalten verstanden wir als Provokation also begannen wir Schneebälle nach ihnen zu werfen. Nachdem einige direkt in ihr Zimmer geflogen waren, schlossen die Mädchen schnell wieder das Fenster. Dies hatte ich nicht realisiert und schickte einen Schneeball direkt in die Scheibe. Das zerbrochene Glas klingelte und die Scherben prasselten auf den Schnee wie Eiskristalle. Die Mutter der Mädchen ging sich bei Oma Ludwika beschweren. Schließlich war es Winter, Krieg. Woher sollte man jetzt Geld für eine neue Scheibe haben? Ich erschrak, dass das Maß meiner Streiche voll war und die Ruthe, welche bisher nur warnend am Geschirrschrank hing, nicht mehr lediglich zur Ordnung herbei rufender Abschreckung dienen würde. Sie hatte einen sehr schönen aus Holz gedrehten Griff, an den mit Ziernägeln in lange, dünne Streifen geschnittenes Leder befestigt war. Bisweilen hörte ich nach wieder einem meiner Streiche die Ankündigung der Erwachsenen: „Oh Dychu, wenn Du das nochmal machst, lernst Du die Ruthe kennen!" Ich bemühte mich sehr, dass meine Streiche unwiederholbar waren und dank dessen verließ die Ruthe nie ihren Haken, auf dem sie hing. Oma hörte sich die Beschwerde der Mutter der Mädchen an. An ihrem Gesichtsausdruck sah man, dass sie auf mich sauer war. Irgendwas murrte sie vor sich hin. Opa Kazimierz trat an sie heran. Flüsternd vereinbarten sie etwas. Nach einem Augenblick nahm Opa ein großes Bild, welches an der Wand hing. Opa nahm das Glas heraus und ging zum Haus der geschädigten Frau, um das zerstörte Fenster zu reparieren.
Mein Großvater war ein ruhiger, guter Mensch. Jedesmal bemühte er sich, den Schaden wiedergutzumachen, den ich verursacht hatte. Erst nach Jahren habe ich vom Edelmut und der Großzügigkeit meines Opas erfahren. Das im Jahr 1918 wiedergeborene freie Polen, welches durch 126 Jahre Besatzung zerstört war, brauchte Unterstützung. Es gab viele Polen, die zu Hilfe eilten, unter ihnen auch mein Großvater, der alle besessenen Kostbarkeiten zusammen sammelte und sie dem wieder auferstehenden Vaterland übergab, denn das Vaterland und die Polen sind eins. Oma Ludwika hingegen galt als Anführerin des Hauses. Alles musste so sein, wie sie es sagte. Immer wieder hörte ich, wie sie Opa seine misslungenen Geschäfte mit jüdischen Händlern von vor dem Krieg vorhielt, bei denen er sein ganzes Vermögen verloren hatte. Die Schulden zwangen ihn, sein Hotel und Restaurant in Margonin zu verkaufen. Damals zogen meine Großeltern um nach Tuchola. Opa tat immer so, als ob er Oma ganz demütig anhörte und ihr zustimmte, doch im Endeffekt machte er es so, wie er es für richtig hielt. Sein Lieblingstag war der Sonntag. An dem Tag kam Oma nach dem Mittagessen mit einer Schachtel Zigarren und reichte ihm eine davon. Mit einer großen Zeremonie schnitt er das Ende der Zigarre ab, zündete sie an und delektierte sich daran, während er zufrieden murrte: „Die ganze Woche muss ich darauf warten!"
1925 Margonin. Großvater Kazimierz Biskups Hotel
Sonntag war auch der Tag des Kaffees. Er wurde in einer Mühle mit Schublade gemahlen und danach in einer Kanne, die mit einer großen Art Mütze bedeckt war, gekocht. Den Kaffee trank man im Speisezimmer am runden Tisch, über dem ein wunderschöner Kronleuchter mit einer Gaslampe hing. Die „Kanne im Anzug“ stand auf einem hölzernen Untersetzer mit Füßen. Die aufgewärmten Kaffeetassen des Sonntags-Service warteten schon. Nachdem der Kaffee eingeschenkt worden war, wurde die Kanne gleich wieder angekleidet. Anschließend trat Oma majestätisch an den riesengroßen Geschirrschrank heran und holte etwas Süßes zum Kaffee heraus. Woher hatte sie echten Kaffee? Und Opas Zigarren? Ich weiss es nicht. Vorstellen könnte ich mir, dass sie von Tante Iza aus Hamburg kamen.
Winter bedeutete nicht nur Schneeballschlachten und Schlitten fahren. Die zugefrohrenen Teiche lockten. Ach, wie wunderbar es wäre, Schlittschuhe zu haben! Davon träumte ich. Doch es war Krieg und auf solch ein Weihnachtsgeschenk konnte ich nicht zählen. Also beschloss ich, mir meine eigenen schönen Schlittschuhe aus Holz zu bauen. Opa bat ich um eine alte Zigarrenschachtel. Ihre Trennwände schnitt ich aus, mit Schnüren befestigte ich sie an den Schuhen, um dann auf dem Eis umher zu rutschen und den Neid der Jungs zu wecken. So stellte ich es mir vor. Vorsichtig stellte ich mich aufs Eis und ... fast gleichzeitig hörte ich: klapp, klapp! Unter meinem Gewicht zerbrachen die Brettchen. Nicht mal einen Schwung habe ich gemacht! Meine wunderbaren und ersehnten Schlittschuhe waren zu nichts zu gebrauchen. War ich enttäuscht! Bis heute erinnere ich mich an den bitteren Geschmack des Misserfolgs.
Zu Hause wurde es immer ärmer. Besonders im Winter setzte uns der Hunger zu. Am meisten, als man sich zuflüstern begann, dass die Russen schon nah sind. Unsere deutschen Nachbarn wurden ungewohnt höflich. Mit Mama gingen wir abends aus der Stadt, um Futterrüben zu holen, die unseren ärmlichen Speiseplan „bereicherten". Wir klauten sie vom Feld. Mama schämte sich dafür, aber ich freute mich, dass wir die Deutschen beklauen. Aus den Rüben kochte Oma eine ekelhafte Suppe. Vielleicht kann ich deswegen bis heute Rüben nicht ausstehen. Eine Ausnahme mache ich nur für den traditionellen roten Barszcz an Heiligabend und für rote Beete mit Meerrettich.
Ein weiterer, noch bescheidenerer Heiligabend in Kriegszeiten folgte. Eines Tages ging Urgroßvater Piotr von uns. Der Arme hat die Befreiung nicht mehr erlebt. 97 Jahre wurde er alt. Laut und hastig wurde es in Tuchola. Die Deutschen begannen mit Sack und Pack ihre Karren, Wägelchen und Fahrräder zu beladen. Sie verließen ihre Häuser und Wohnungen. Sie flohen in die „Heimat“. Die Front näherte sich. Die Deutschen beschlossen Tuchola so lange wie möglich zu verteidigen. Anfangs hielten die deutschen Truppen ihre Stellungen, doch die Russen griffen hartnäckig an. Die Schlacht um Tuchola dauerte von 11. bis 14.Februar 1945. Schließlich schafften es russische Panzereinheiten, sich durch die Front durchzuschlagen und am 15.Februar wurde Tuchola erobert. Deutschen Berichten zufolge konnten die Einheiten der 4.Panzerdivision in den Kämpfen um Tuchola über 90 sowjetische Panzer zerstören, doch übermäßig viele Wracks habe ich nicht gesehen. Hingegen erwiesen sich die, die wir vorfanden als traumhafte Spielplätze.
Man hörte Kampfgeräusche. Alle Bewohner suchten im Schutzraum Zuflucht. Oma ordnete an, dass wir uns im hintersten Eck des Kellers versteckten. Aus Decken und Kissen bettete Mama uns in ein bequemes Lager und deckte uns zu. Wir warteten. Wir horchten. Nach jeder größeren Explosion hörte man Geschrei. Jemand betete lautstark. Draußen dröhnte und donnerte es. Unbedingt wollte ich sehen, was passiert. Doch das Kampieren im nicht nur nach Kartoffeln stinkenden Keller zog sich. Nur Mama ging ab und an in unsere Wohnung, um etwas zum Essen und Trinken mitzubringen. Irgendwann sagte sie lächelnd, dass wir schon bald unseren Vater sehen würden. Es wurde ruhig. Plötzlich fielen Russen in unseren Schutzraum ein. Dreckig und stinkend schritten sie durch die liegenden Leute und rissen die Decken von ihnen. Sie suchten Mädchen. Anwesende Männer verhielten sich, als ob sie nicht anwesend wären: sie kauerten unter ihren Decken. Ältere Frauen verfluchten die Soldaten, während sie davon unbeeindruckt entsetzt schreiende Mädchen herauszogen und die Treppen hinaufführten. Nach einer Weile wurde es wieder entsetzlich still. Wir hatten große Angst. Niemand rührte sich.
Das Treffen mit meinem mir unbekannten Vater
Ein Soldat kam die Treppen herab. Mit seinem Blick entdeckte er Mama und nickte mit dem Kopf. Mama wies uns an aufzustehen. Sie führte Rysia und mich ins Nachbarhaus. Dort saß in einem großen Zimmer mit schönen Möbeln an einem ovalen Tisch ein Offizier in sauberer, ordentlicher Uniform und neben ihm stand ein Herr in dunklem Anzug. Mama schob uns vor: „Rysia und Dychu, das ist Euer Vater“, sagte sie, während sie auf den Herren im dunklen Anzug deutete. Kurz dauerte unsere Begrüßung. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass uns unser Vater umarmt hätte.
Wir zogen bei den Großeltern aus und wohnten von nun an in einem Jugendstil-Altbau in der Chopin-Str. Unsere Wohnung im Parterre war groß und schön möbliert. Doch Papa hatte so gut wie nie Zeit für uns. Nachdem er der erste Nachkriegs-Bürgermeister von Tuchola geworden war, besuchten ihn ständig irgendwelche Leute. Gewöhnlich saßen sie am großen Tisch im Arbeitszimmer. Wir durften sie nicht stören. Also liefen wir zu den Großeltern; dort war es interessanter und fröhlicher. Wir streunten durch von Deutschen verlassene Wohnungen. Trippans alte Wohnung (1.Stock) nahmen russische Frontsoldaten ein. Sie hatten Tuchola erobert. Verschmutzt und erschöpft lagen sie querbeet. Trotz eisiger Kälte waren die Balkontüren geöffnet. Ich war dabei, als Trippans alter Wecker zu klingeln begann und einen nebendran schlafenden Soldaten weckte. Erzürnt warf er ihn durch die Balkontür und schickte bei der Gelegenheit einige Schüsse hinterher. Doch nicht nur Wecker riefen Erregung hervor bei den Russen. Von fließendem Wasser aus der Wand waren sie ganz begeistert. Ihr Verhalten veranschaulichte die Primitivität und Habsucht der russischen Soldaten. Nichts war vor ihnen sicher: sie klauten alles. Passanten, die ihre ersten Fahrversuche auf Fahrrädern beobachteten, krümmten sich vor Lachen, während diejenigen, deren Fahräder sie sich einfach genommen haben, protestierten oder weinten.
Opa Kazimierz erzählte von einer unglaublichen Begebenheit:
„Ich traf auf einen guten Bekannten und fragte ihn nach der Uhrzeit. Er erwiderte, dass er seine Armbanduhr versteckt habe vor den Russen und hob vorsichtig aber stolz sein Hosenbein an. Im selben Augenblick kam ein russischer Soldat des Weges: er war gerade dabei, angestrengt die Kunst des Fahrens auf einem gestohlenen Fahrrad zu erlernen. Als er die Armbanduhr am Fußgelenk sah, sprang er herab und ließ das Fahrrad links liegen. Er kam zu meinem Bekannten gerannt und schrie: Daj mnie nożne czasy (Gib mir die Beinbanduhr)! U mienia ich mnogo, ale żaden nożny (Ich habe viele Uhren, aber keine fürs Fußgelenk)! Daraufhin zog er aus seinen Taschen die unterschiedlichsten Uhren, drückte sie meinem Bekannten in die Hände und verlangte im Austausch diese einzigartige Beinbanduhr. Mit dieser weiteren, diesmal auch noch so ungewöhnlichen Beute verschwand er zufrieden hinter der nächsten Ecke. Der glückliche neue Besitzer eines guten Dutzends Uhren stellte fest, dass er soeben das beste Geschäft seines Lebens gemacht habe!“
Nach einigen Tagen zogen die russischen Soldaten weiter, „nach Berlin“, sagten sie. Alle atmeten auf, doch nicht für lange, denn es kamen andere Russen: sie brachten Straflager und ein uns fremdes politisches System.
Meine Großeltern hatten alle Wertgegenstände versteckt vor den diebischen Soldaten, was sie dennoch nicht vor Schaden bewahrte. Eines Tages im März klopfte ein adrett gekleideter sowjetischer Offizier an die Wohnungstür meiner Großeltern. Er salutierte und teilte ihnen mit, dass sie ausziehen müssten, da die Armee ihre Wohnung beansprucht: „Nur für eine Woche, vielleicht zwei und ihr werdet zurückkehren können“, sagte er und als Oma damit begann eilig die kleinsten Dinge einzupacken, fügte er hinzu, „bitte lassen Sie alles hier, nichts wird verloren gehen.“
Gerade war mein Kumpel Edek mit seinen Eltern, den Herrschaften Rybicki, in ihr Haus in der Świecka-Str. 73 am Stadtrand von Tuchola zurückgekehrt - ein zweistöckiges Gebäude mit Dachgeschoss. Die Eigentümer zogen ins Obergeschoss, meinen Großeltern boten sie einen Raum im Erdgeschoss an, für die paar Tage.
Mit kräftiger, entschiedener Stimme hatte mich Papa zwischenzeitlich – wegen eines weiteren meiner Streiche - solange unter Hausarrest gestellt, bis ich das kleine Einmaleins auswendig konnte. „Er meint es ernst“, dachte ich mir. So setzte ich mich gehorsam auf meine vier Buchstaben und begann zu büffeln. Als ich fertig war, fragte mich Papa ab. Ich war frei, endlich konnte ich hinters Haus. Dort an den Bahngleisen stand das Wrack eines echten russischen Panzers. Edek wartete schon auf mich. Wir stiegen in dieses unglaubliche Gefährt und schauten uns neugierig um. „Hier ist Munition“, schrie ich begeistert.
Von nun an gingen Edek und ich nach Schulschluss schnurstracks zu unserem Wrack. Stundenlang spielten wir in ihm. Wir zogen Geschosse aus dem Panzer und schlugen sie gegen Steine, um die langen Schießpulversäckchen herauszuziehen. Sie erinnerten an trockene Nudeln. Doch was sollten wir damit? Sie brannten nur schlecht. Dass der Panzer zusammen mit uns nicht in die Luft geflogen ist, wundert mich bis heute.
Außer Panzerwracks standen auch verlassene, beschädigte Lastwagen umher. In alle Schlupfwinkel ihrer Fahrerkabinen krochen wir hinein. Eine tragbare Kurbelsirene, die ich dort fand, interessierte mich nur kurz, so dass ich sie zügig gegen ein Paar wunderbare Rollschuhe eintauschte. Von da an hallte das charakteristische Rattern durch ganz Tuchola. Ich war überall. Sich auf Rollschuhen fortzubewegen war unheimlich kompliziert, denn die Straßen bestanden hauptsächlich aus Kopfsteinpflastern und Gehwege waren weit davon entfernt, eben zu sein. Doch irgendwann begeisterten mich auch die Rollschuhe nicht mehr. Ein Junge hatte wunderbare Holzski mit einer Seilzugbindung. Davon träumte ich schon lange. Bis zum Winter wars noch lange, dennoch tauschte ich sofort meine Rollschuhe ein.
Derweilen war Mamas Bruder Edek Biskup nach Tuchola gekommen. Er wollte nicht zurück in die zerstörte Warszawa. Seine Arztpraxis eröffnete er im Erdgeschoss eines mehrstöckigen Hauses. Selbst zog er mit seiner wunderhübschen Frau Barbara Gilewska ins 1.OG. Tante Barbara (Basia) war Schauspielerin, Sängerin und Tänzerin. In den Jahren 1931-1934 trat sie unter anderem an den Revue-Theatern „Qui Pro Quo“ und „Morskie Oko“ in Warszawa auf. Bekannt wurde sie durch ihre Rollen in den Filmen ”Pieśniarz Warszawy” (Der Sänger von Warszawa) und „Kochaj tylko mnie” (Liebe nur mich). An der Seite von Filmgrößen wie Jadwiga Smolarska oder Eugeniusz Bodo trat sie auf. Bodo wurde im Zweiten Weltkrieg aufgrund falscher Anschuldigungen als „Spion des Westens“ vom sowjetischen NKWD verhaftet, verhört und in ein russisches Straflager gebracht, wo er Hunger und Erschöpfung erlag.
Im Salon bei Tante und Onkel thronte der Flügel an dem Tante Basia Melodien komponierte. Ab und an begleitete sie Onkel Edek aus dem Gedächtnis und stichelte sie dann scherzhaft: „So spielt man!“
Tante Basia sang wunderschön. Ich hatte sie sehr gern, weshalb ich oft bei Tante und Onkel war. Manchmal blieb ich zu Mittag. Eines Tages kam Onkel Edek aus seiner Praxis direkt ins Esszimmer. In der Hand hielt er ein metallisches Geschirr, eine sog. Nierenschale. Von organisatorischen Fragen vereinnahmt setzte er sich an den Tisch und stellte dieses Geschirr neben seinen Teller. Ich warf einen Blick drauf und sah, dass zwei menschliche Finger drin lagen. Der Onkel hingegen achtete nicht weiter drauf. Er aß sein Mittagessen und den Dessert, stand auf, nahm die Nierenschale mit samt ihrem Inhalt und verschwand wieder. Meine Großeltern kehrten nicht mehr zurück in ihre Wohnung im dritten Stock. Die sowjetische Armee hatte die Wohnung zwar verlassen, doch als meine Großeltern sie betraten sahen sie lediglich Spuren der Gemälde und Möbel an den verschmutzten Wänden. Omas geliebte, schöne Möbel, das Tafelservice, die Bettwäsche, einfach alles wurde in den Osten gebracht; irgendein Offizier wahrscheinlich hat sich mit unseren Einrichtungsgegenständen sein zu Hause verschönert.
Tage und Wochen vergingen während das Leben dabei war, seine verloren gegangenen Gleise wiederzufinden. Etwas jedoch hatte sich zu Hause verändert. Unbeschwert konnte ich nun in all unseren Zimmern umhertoben. Papa war nicht da, Gäste kamen keine mehr zu Besuch. Mama war ganz anders und weinte häufig. Was war passiert?
Papa war verhaftet worden. Er hatte das Bürgermeisteramt verloren, weil er sich mit den Russen nicht einigen konnte. Die anfängliche „Freundschaft“ offenbarte ihr wahres Gesicht. Es fielen Dinge vor, für die mein Vater kein Verständnis fand – nicht zuletzt trat er auch gegen das Unrecht der Wohnungsausräumung bei seinen Schwiegereltern ein.
Mama und ich wollten Papa im Gefängnis (gegenwärtig das Gebäude der Staatsanwaltschaft) besuchen. Der Wachmann öffnete uns das große Eingangstor, ließ uns aber nicht unseren Besuchstermin wahrnehmen. Wir gingen zu den Großeltern, wo wir alle auf dem Boden niederknieten um zu beten: „Erbarme Dich unser“, wiederholten wir immer wieder – die Knie schmerzten schon lange. In Tuchola sah ich meinen Vater nie wieder.
Ich zog zu Tante Basia und Onkel Edek - traurig war ich deshalb aber nicht. Aus Wrocław war zu ihnen Tantes Neffe gekommen. Ich freute mich über meinen neuen Freund. Grzegorz erwies sich als ein äußerst sympathischer und intelligenter Junge. Er war ein paar Jahre älter als ich. Eines Tages setzte uns Tante Basia gleich nach dem Mittagessen aufs Sofa und begann mir zu erklären, weshalb ich bei ihnen und nicht in meinem Elternhaus bin: Papa sei aus dem Gefängnis entlassen worden unter der Bedingung, dass er sich in den zurückerlangten Gebieten (im Westen Polens) niederließe, im kleinen Städtchen Kamień Pomorski. Mama und Rysia seien schon gemeinsam mit Papa hingefahren und wollen, dass ich zu ihnen dazustoße. „Alleine lass ich Dich nicht, aber unter Grzegorzs Aufsicht, ist das etwas anderes“, beendete sie ihren Monolog.
Schon wenige Tage später packte Tante Basia unsere Sachen in kleine Pappkoffer. Selbstverständlich nahm ich meine Ski mit. Onkel Edek fuhr uns mit seinem schwarzen Automobil zum Bahnhof und kaufte uns Fahrkarten. Am Bahngleis fuhr eine enorme Lokomotive mit einer Schnur an Waggons vor. Sie keuchte, Rauch stieg aus ihrem Schornstein auf. Der Onkel setzte uns ins Abteil und unter Aufsicht meines älteren Freundes fuhr ich zu meinen Eltern; ins fremde Kamień Pomorski.