Kitabı oku: «Der Preis für ein Leben ohne Grenzen - Teil I», sayfa 4
Der Herbst überraschte uns mit starkem Wind von der See: kalt und nass. Dauernd pfiff er durch die Spalten in den Fenstern und Mama klagte, dass sie davon Kopfschmerzen bekam. Sie hielt das Geheule nicht aus.
Mal wieder war ich mit den Jungs szabern gegangen. Von weitem sahen wir eine große Menschenmenge. Aus und in ein kleines Häuslein strömten Leute, Frauen flüsterten einander zu. Etliche trockneten ihre Augen mit dem Taschentuch. Neugierig näherten wir uns. Sie sprachen von einem Mann, der Selbstmord begangen hatte. Er hat sich in den Kopf geschossen, weil das Leben für ihn keinen Sinn mehr hatte ohne sein geliebtes Mädchen: Sie wollte ihn nicht.
Wir gingen in den ersten Stock. Im Sarg lag ein junger Mann mit einem Mull-Verband, welcher die Verletzung an der Schläfe verdeckte. Schwarz gekleidete Familienmitglieder standen daneben. Das Mädel, das die Liebe zurückgewiesen hatte heulte. Vor Verzweiflung wankte sie so sehr, dass zwei Frauen sie stützen mussten. „Warum flennt sie jetzt so, wenn sie ihn eh nicht wollte? Wegen ihr lebt er doch nicht mehr“, dachte ich naiver Weise. Einen furchtbaren Eindruck machte auf mich der erste nahe Anblick des Todes. Als unser Urgroßvater Piotr gestorben war, taten die Erwachsenen alles, damit wir den Verstorbenen nicht sahen und dass wir am Begräbnis nicht teilnahmen. Auch meine Freunde wurden ungewöhnlich schweigsam und wir hatten keine Lust mehr aufs szabern. Wir gingen heim.
Zu Hause war uns ein großer Hund zugelaufen und Mama war damit einverstanden Burek aufzunehmen. Er wurde mein treuester Freund und folgte mir überall hin; sogar wenn wir mit den Jungs Steine auf die Häuser der Deutschen werfen gingen. In Kamień Pomorski waren einige deutsche Familien geblieben, aber niemand mochte sie. Ihnen wurde alles Kriegsleid zur Last gelegt. Sie taten mir leid, denn ich glaube nicht, dass gerade diese Leute etwas verschuldet hätten. Meine Freunde erzählten mir von viel Grauen, das die Deutschen während des Krieges begangen haben, doch in meinen kindlichen Kopf passten diese Geschichten nicht hinein. Ich konnte sie nicht glauben, denn sie erschienen mir zu grausam, so dass sie bestimmt erfunden waren. Trotzdem warf ich auch mit Steinen.
Der Winter kam, Schnee war gefallen und es war eiskalt. Bis nach Dziwnów konnten wir nun über die zugefrohrene Bucht Schlittschuh laufen! Nicht nur Schlittschuhe hatte ich, auch einen Schlitten und sogar ein Fahrrad. Alles vom szabern! Mein großartiger, starker Hund zog den Schlitten voller echtem Enthusiasmus, für den ich selbst gesorgt hatte. Ich saß auf dem Schlitten und hielt einen langen Stock, an dessen Ende an einer Schnur ein Stück Wurst baumelte - direkt vor Bureks Schnauze. Er rannte um sie sich zu schnappen. Das Gespann anzuhalten war einfach: lediglich dem Hund die Wurst wegnehmen. Damit machten wir Furore unter meinen Kumpeln. Bei Rysia nicht, sie war lieber zu Hause und laß Bücher. Abends regte sie mich auf, weil sie das Licht nicht ausmachte und ich so nicht einschlafen konnte. Zumindest nahm sie irgendwann eine Taschenlampe mit unter die Decke, um weiter in ihrer Lektüre stöbern zu können.
Weihnachten 1946: Wir hatten einen wunderschön geschmückten Weihnachtsbaum und Papa war jetzt öfters bei uns. Begeistert hatte ich Papa von dem Kino erzählt, das in die Stadt gekommen war. Eines Abends besuchte ein Bekannter Papa und Mama zog mich warm an. Mein Traum eines Kinobesuchs stand kurz davor in Erfüllung zu gehen. Wir gingen in die Dunkelheit, mitten auf der Straße, am Nachthimmel funkelten Millionen Sterne und der Schnee knirschte unter den Füßen. Der Frost erschwerte das Atmen. Den ganzen Weg unterhielt sich Papa mit seinem Bekannten. Ich trippelte nebenher und bemühte mich, mit den Männern Schritt zu halten. Etwas übergangen fühlte ich mich. Im Kino war es voller Leute, ein Bekannter hatte uns erkannt und winkte uns zu sich auf drei freie Plätze in der Mitte der Sitzreihe. Mit einem Druck auf meine Schulter lenkte mich Papa in Richtung der für uns reservierten Plätze. Ich schaute auf die große, weiße Leinwand und drückte mich langsam durch die Reihe. Plötzlich rief mich Papa zurück. Er war an der Seite der Reihe stehengeblieben. Verwundert stolperte ich wieder zurück über die Beine der Sitzenden. Wortlos griff Papa mich an den Schultern, drehte mich um, mit dem Gesicht den Kinobesuchern in unserer Sitzreihe zugewandt und schob mich leicht an, um mir zu verstehen zu geben, wie ich zu meinem Platz gehen sollte. Auf diese Weise trichterte er mir für mein ganzes Leben einen Grundsatz anständigen Verhaltens ein.
Schule, Ferien, Schule, die Zeit lief ihren ausgetretenen Pfad entlang. Die zweiten Nachkriegs-Weihnachtsfeiertage waren gekommen. Mama hantierte in der Küche umher. Im ganzen Haus duftete es nach Kuchen. Auf den Tisch mit weißer Tischdecke stellte sie das feierliche Porzellangeschirr sowie einen kleinen Teller mit der traditionellen Oblate; kurz vor dem Abendessen dann die Schüsseln und Platten voll weihnachtlicher Leckereien. Unsere Augen lachten diese Pierogi, Kuchen und andere Speisen an. Der Tradition entsprechend waren es zwölf. Der Magen knurrte schon, so dass wir zusammen mit Rysia und der kleinen Żaba ungeduldig Ausschau hielten nach dem ersten am Nachthimmel zu erkennenden Stern. Der weihnachtlich gedeckte Tisch war wunderschön. Sich an ihn zu setzen war die Krönung des ganzen Tages, des ganzen Jahres und eigentlich sogar vieler vorangegangener Kriegsjahre! Wir waren alle zusammen: Papa, Mama und wir.
Papa arbeitete außer Haus und kam selten heim. Damals nutzte ich eifrig seine Abwesenheit aus und zog regelmäßig in das elterliche Schlafzimmer um. Angenehm war es mit dem Wissen einzuschlafen, dass Mama neben mir ist. Eines Nachts weckten mich aus meinen glückseligen Träumen Mamas Geflüster und leises, ganz ungewöhnliches Lachen sowie Rascheln der frisch bezogenen Bettdecke.
„Leise, Du weckst Wojtek auf“, hörte ich Mama.
„Ich weck ihn nicht auf, er schläft tief“, brummte Papa und das Bett quietschte.
„Aha! Papa ist zurückgekommen“, dachte ich mir und die Träume siegten. Morgens, als ich erwachte, war Papa nicht mehr da. Wie üblich.
Das Ende meiner glücklichen Kindheit
Immer seltener kam Papa nach Hause, dafür häuften sich ungebetene Besuche. Unsere Haustür sperrten wir nie mit dem Schlüssel ab, doch nachdem zum ersten Mal die Geheimpolizei mit Maschinengewehren bei uns wie ein Tornado eingefallen war, mussten wir unsere Gewohnheit ändern - um Papa Zeit zur Flucht zu geben. Mama war entsetzt und weinte ständig. Häufig kam die Geheimpolizei, sie suchten meinen Vater und schrien Mama an während wir uns an sie drückten, so fest wir nur konnten. Um das brutale Geschrei zu überhören und meine Angst zu unterdrücken starrte ich in diesen Momenten immer auf das Gemälde in Papas Arbeitszimmer: ein kleines Segelschiff in aufgewühlter See. Jetzt nach Jahren, immer wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, sehe ich dieses Landschaftsbild voller Bedrohlichkeit.
Nur noch selten besuchte uns Papa und parkte sein Motorrad natürlich im Garten hinter dem Schuppen. Sobald die Geheimpolizei an die Tür donnerte, floh er die Treppen hinauf, stieg durchs Fenster und kletterte über den Sims durch Nachbars Fenster. So schnell er konnte eilte er über den Hof und durch den Garten zum Motorrad. Er flüchtete. Die Herrschaften Wiśniewscy halfen ihrem Nachbarn jedesmal. Doch unser Gefühl von Sicherheit war verloren. Wenigstens hörten diese Besuche irgendwann auf.
Die Sommerferien verbrachte ich wie üblich im Pfadfinderlager, welches viel zu schnell auch wieder vergangen war. Danach verbrachte ich Zeit mit Freunden im Hafen oder in der Nachbarschaft. Es war ein wunderschöner Augusttag. Zu Hause hatte ich nichts zu tun. Ich setzte mich auf einen Holzblock im Garten und beobachtete des Nachbars Huhn. „Wie ist es eigentlich hierher gekommen”, überlegte ich. Aus der Hosentasche zog ich mein Taschenmesser. „Gleich erschrecke ich den dummen Vogel ein wenig. Was spielt er sich hier so auf”, dachte ich, kniff die Augen zusammen, um mein Ziel anzuvisieren und warf das Taschenmesser. Wie versteinert sah ich das Messer in der Luft aufblitzen und genau in der Mitte seines mit rötlichem Kamm geschmückten Kopfes einschlagen. Mit langgezogenem Gegacker schrie das Huhn auf und breitete die Flügel auseinander. Das Messer fiel aus dem Kopf des Vogels auf die Erde und offenbarte seine blutige Klinge. Einmal noch gackerte das Huhn und fiel dann unweit des Taschenmessers nieder. Ich bin ein Huhnmörder! Im Garten übte ich zwar mit dem Messer auf Bäume zu werfen und es klappte auch recht gut, doch war ich nicht davon ausgegangen, dass ich das Huhn treffen würde. Die gesamte Nachbarsfamilie schrie mich zusammen. Mama bewertete die Situation mit einem Blick und kehrte ins Haus zurück, um die Geldbörse zu holen. Zu Mittag gabs heute Hühnersuppe. Nicht ein Wort sagte sie zu mir, sie lobte mich nichtmal für den zielsicheren Wurf. Sicherlich war sie aufgewühlt. Fast alle Bäume im Garten trugen Spuren meines Taschenmessers - so fleißig trainierte ich.
Der Sommer war noch nicht vergangen, da erinnerte sich die Geheimpolizei wieder an meinen Vater. Wieder begannen Hausdurchsuchungen, bei denen sie unablässig brüllten. In der Stadt schlossen sie unterdessen der Reihe nach alle privaten Geschäfte, Bäckereien und Werkstätten. Mit einem Mal verschwanden die ausgezeichneten, schmackhaften und duftenden Erzeugnisse. Denn sie passten nicht in die kommunistischen Pläne der stalinistischen Besatzungsmacht. Private Tätigkeiten polnischer Gewerbetreibender und Unternehmer entsprachen nicht der Parteilinie. Von da an sollte alles vergemeinschaftlicht sein; ganz gleich wie schlecht, Hauptsache staatlich.
Es kam der schmerzhafteste Tag für unsere Familie. Unerwartet war Onkel Edek gekommen. Papa sei in ernstem Zustand im Krankenhaus in Bydgoszcz. Mama fuhr sofort hin. Die kleine Żaba wurde unter Oma Ludwikas Obhut gegeben, während mich und Rysia unser Onkel zu sich nach Bydgoszcz mitnahm. Lebendig habe ich Papa nicht mehr gesehen. Niemand sagte mir, was passiert war. Warum war Papa im Krankenhaus? Er war gesund, jung und fuhr Motorrad. Und wieso benachrichtigte uns gerade der Onkel? Warum hat er uns mitgenommen? Warum war Papa plötzlich in Bydgoszcz? Niemand wollte uns diese Fragen beantworten. Man ruinierte unsere Leben, indem man uns über die Gründe im Dunkeln ließ.
Erst im Seniorenalter erfuhr ich von meiner Cousine Gercia: Ungefähr zwei Wochen lag mein Vater im Krankenhaus. Er konnte nicht essen und hat stark abgenommen. Aus Zembrze kam sein älterer Bruder Bolesław mit Gertruda, der Tochter seines jüngeren Bruders Józef, ihn besuchen. Papa bat Gercia (Gertruda) ihm Essen mitzubringen, denn dem was ihm im Krankenhaus serviert wurde, traute er nicht. Sie kochte bei ihrer Tante in Bydgoszcz und versuchte Papa mit zarten, aber nahrhaften Brühen zu Kräften zu bringen, doch es war zwecklos. Er litt sehr, doch er wusste, dass er im Krankenhaus nicht länger bleiben konnte, dass er fliehen musste. Mit letzter Kraft zog er sich an und verließ das Gebäude. Doch er war zu schwach und konnte sich nicht auf den Beinen halten. Schnell wurde seine Flucht bemerkt und man legte ihn zurück ins Bett. Am darauffolgenden Tag, am 12.November 1948 starb Papa. Er wurde nur 42 Jahre alt.
Am nächsten Tag rief Onkel Edek mich und Rysia zu sich und gab uns kurz und knapp bekannt: „Euer Vater hatte einen Unfall und ist nach der Operation gestorben. Morgen ist das Begräbnis. Danach bleibt Dychu in Bydgoszcz bei mir und wird hier zur Schule gehen”.
Was für ein Unfall? Ich dachte mit dem Motorrad … .
Im Grunde genommen kannte ich meinen Vater kaum: Zunächst war es der Krieg und das Oflag und danach die Arbeit und politische Tätigkeit, welche mir nicht erlaubten, ihn besser kennenzulernen. Er war nie da. Wie geht es jetzt weiter? Soll ich in Bydgoszcz bleiben? Was passiert mit meinem Hund? Und meine Freunde, wir hatten doch so viele Pläne!? Was wird aus Mama? Bittere Tränen liefen mir übers Gesicht. Meine kleine Welt war wieder zusammengefallen. Punkt, Ende, so soll es sein, es ist wie es ist! Es gab keine Diskussion. Ich fühlte mich wie ein weggeworfenes Staubkorn, ein Holzblock, eine unbedeutende Person, die niemandem wichtig ist … .
Papas Begräbnis: Die weinende Mama, Antosia – Onkel Edeks Magd – mit Żaba in ihren Armen, Rysia und ich. Neben uns stand Onkel Edek und Tante Basia. Aus Legnica war Tante Ola, Mamas jüngste Schwester, in schönem Pelzmantel angereist. Papas Brüder Bolek aus Zembrze und Józef aus Radoszki waren auch da. Aus Tuchola waren Oma Ludwika und Opa Kazimierz gekommen. Erst nach vielen Jahren erfuhr ich von Tante Ola, die dann in Gdańsk-Wrzeszcz lebte, die Wahrheit über den Tod meines Vaters; die so sorgfältig verborgene Wahrheit. Es war Mord. Die Geheimpolizei hatte meinem Vater eine Falle gestellt. Fünf Schüsse wurden auf ihn abgefeuert. Es spielte sich in den Jahren 1945-48 ab, als den Händen des NKWD (aus dem 1954 der KGB hervorging) und der Geheimpolizei („Sicherheitsbehörde”) KBW (Korpus Bezpieczeństwa Wewnętrznego – Korpus für Innere Sicherheit) so viele Menschen zum Opfer fielen wie nie. Zugehörigkeiten zur Polnischen Heimatarmee oder andere als kommunistische Ansichten über die neueste Geschichte wurden streng bestraft durch die unterwürfigen Gerichte. Für Oppositionsgeist bekam man nicht nur - wie in späteren Jahren - eine „vier-acht“ (also 48 Stunden Arrest) oder schlimmsten Falls eine mehrjährige Gefängnisstrafe. „Volksfeinde“ erwartete eine Kugel oder eine Deportation nach Sibirien, das unmenschliche Land.
Mein Vater bekam eine tödliche Serie in den Bauch. Wir wurden zu Waisen. Mama wurde ihr Leben zerstört. Meine glückliche Kindheit nahm ein jähes Ende. Ich war zwölf.
Bitteres Waisenbrot – Bydgoszcz
Beim Onkel in Bydgoszcz wollte ich nicht sein, das war nicht mein zu Hause! Machtlos versuchte ich mich dagegen aufzulehnen. Schließlich wohnte ich doch in seiner geräumigen Wohnung, Platz jedoch gab es dort für mich keinen. Mal stellten sie mir ein Bett im Salon oder Speisezimmer auf, mal in der Küche - wenn sie Besuch hatten. Außerdem gab es Onkels Arbeitszimmer und ein Schlafzimmer, doch da hatte ich keinen Zutritt. In der Küche regierte Marysia, den Haushalt führte Antosia. Marysia war eine ältere Dame, die ich aber schon aus Kriegeszeiten kannte. Als Großelterns Pflegekind wohnte sie bei uns in Tuchola. Auch Antosia stammte aus Tuchola. Der Biskup (der Onkel) hatte sie als 19-jähriges Mädchen eingestellt.
Die Wohnung war riesig: vier Zimmer, zwei Bedienstetenkammern, eine Küche, eine Speisekammer, ein Bad und eine Toilette. Es gab zwei Eingänge: einen festlichen aus dem marmornen Treppenhaus und den Bediensteteneingang zur Küche. Das Gebäude, in dem sich die Wohnung befand war ebenfalls riesig. Die steinernen Balkone gingen auf die Focha-Str. hinaus, wo sich auf der Schmalspur die klappernden Straßenbahnen entlang schoben. Gegenüber des Hauses fließt die Brda und über sie drübergeworfen war eine Brücke. Auf der anderen Flussseite sah man die alten Speicher und die gothische Backsteinkathedrale. Vielleicht war es auch schön in Bydgoszcz, doch ich sehnte mich nach Kamień Pomorski. Onkel Edek mochte ich nicht. Seine Frau, Tante Basia, hingegen war mir sympathisch. Sie war hübsch, fröhlich und sang gerne; nur gelegentlich wirkte ihr Frohsinn etwas aufgesetzt. So schön hatte sich ihre Filmkarriere angekündigt, sie erhielt verschiedenste Rollen im Theater und Spielfilmen (z.B. in „Pieśniarz Warszawy“ - 1934), doch plötzlich war sie Hausherrin in einer Provinzstadt, Ehefrau eines Arztes. Kein Wunder, dass sie sich nach ihrem damaligen Künstlerleben und der vom Krieg unterbrochenen Karriere sehnte.
Am liebsten hatte ich es wenn der Onkel nach Warszawa fuhr. Dann schlich ich in sein Arbeitszimmer und sah mir neugierig die auf dem schönen, stilvollen Schreibtisch aufgestellten Gegenstände an. Das schöne Tintenfäßchen samt marmornen Untersetzer, eine Federrinne, eine Schatulle für Stahlfedern, ein Papiermesser und eine schwere Löschwiege: alles in einer Ordnung aufgestellt, für die nur der Onkel bekannt war. Nichts durfte umgestellt werden. Nicht selten ermahnte er Antosia ihrer „nachlässigen" Putzweise wegen: keinesfalls durfte sie seine unbezahlbaren Gegenstände auch nur ein Stückchen verstellen. Mit der Zeit begannen des Onkels Bemerkungen auch mich zu betreffen. Für alles was ich getan oder nicht getan habe, wurde ich bissig zurechtgewiesen. Ich stellte mich auf die Hinterbeine, lebte aber mit dem Gefühl verletzt und ungerecht behandelt worden zu sein.
In dieses zu Hause kehrte ich nur ungern zurück. Solange wie möglich trieb ich mich in den Straßen umher. Einmal ging ich an der Brdabrücke vorbei. „Was soll ich nur tun? Kann ich was ändern“, fragte ich mich. Ich hielt am eisernen Brückengeländer und schaute auf die gemächlich vorbeifahrende Barkasse. Ich beugte mich weit vor und bemerkte hervorstehende eiserne Haken. „Ich zeigs dem Onkel, soll er sich mal etwas Sorgen um mich machen! Menschen sind hier viele, also werden sie mich bemerken und vielleicht dringt der Trubel wegen dem, was ich mache auch zu ihm durch! Vielleicht würden sie sogar auf den Balkon gehen, um nachzusehen, was die Menschenansammlung auf der Brücke zu bedeuten habe.“
Ich kletterte über die Barriere und setzte mich auf einen hervorstehenden Haken. Die Beine baumelten hinunter und ich glotzte ins Wasser. Wie erwartet bemerkten die Passanten sofort meine Klettereinlage und es versammelten sich viele Menschen auf der Brücke. Sie warnten mich, dass ich runterfallen und ertrinken würde. Einen Augenblick lang beobachtete ich die Leute, griff mit den Händen nach dem Haken und ließ mich herabgleiten. Eine Zeit lang hing ich an meinen Armen. Die Leute versteinerten vor Entsetzen. „Oh nein! Ob sie wohl denken, dass ich springen werde? Na, genug von dieser Vorstellung“, dachte ich und zog langsam die Beine wieder hoch, so dass ich wieder bequem auf dem Haken sitzen konnte. Nun konnte ich problemlos die Barriere ergreifen und sprang zurück auf den Gehsteig der Brücke. Die Leute traten zurück, es wurde still und ich lief davon. Als ich abends in die Wohnung kam, wussten bereits alle von meiner Vorstellung. Insbesondere Basia war erschrocken, dennoch sagte niemand ein Wort. Aber in der Tat wurde es zu Hause viel angenehmer.
Abwechslung in den monotonen Tagesablauf brachte Tante Ola und Onkel Paweł Wolski aus Kamień Pomorski. Sie erzählten mir, dass Mama mit Rysia und Żaba nach Piła umgezogen war, um näher bei ihrer Lieblingscousine, Aneta Skibicka, zu sein. Unser vollständig eingerichtetes Haus hatte sie ihrer Schwester überlassen. Alleine konnte sie nur wenig mitnehmen: einige Erinnerungsstücke, ihre liebsten Sachen sowie ihr Lieblingsgemälde - Mohnblumen. Traurig machte mich, dass ich nichtmal mehr die Sommerferien an meinem Herzensort verbringen werden kann. Doch Tante und Onkel brachten so viel Trubel ins Haus, dass meine Traurigkeit schnell wieder verflog. Sie waren jung, gut aussehend, fröhlich und man konnte sehen, dass sie einander liebten. Im Krieg hatten sie sich in Warszawa kennengelernt, wo die Tante Verkäuferin in einem Geschäft war. Ihre Freundinnen machten sie mit dem sehr gut aussehenden Herrn Paweł bekannt. Von da an liefs ganz von selbst. Im Warschauer Aufstand kämpfte Paweł in einer Aufständischeneinheit bis zur offiziellen Kapitulation, dank derer er mit dem Leben davon gekommen war. Sich vorher ergebende Aufständische behandelten die Deutschen wie Banditen und erschossen sie an Ort und Stelle. Ola und Paweł fanden sich wieder und heirateten. Onkel Paweł war sehr großgewachsen und als einziger der Erwachsenen (für mich ganz ungewohnt!) interessierte er sich für mich und hörte mir aufmerksam zu. Eines Tages gingen wir - die ganze Schar - spazieren. Im Café an der Ecke kaufte mir Onkel Paweł echtes Speiseeis in der Waffel. Drei Kugeln, herrlich kühl und wunderbar fruchtig. Glücklich ging ich neben meinem Onkel. Das ware mein erstes Eis - ein unvergessener Moment!
Bei den ausgedehnten Abendessen schwelgten die Erwachsenen in Erinnerungen an ihre Zeit in Warszawa. Basia erzählte von Theater- und Filmrollen, sie lachte, doch ihre Augen waren traurig. Ola und Paweł erzählten vom Warschauer Aufstand. Nur der finster dreinschauende Edek Biskup saß wortlos im Fauteuil.
Die Biskups zogen um in die Straße-des-24.Januar (gegenwärtig Straße-des-20.Januar), in eine ruhiger gelegene und noch größere Wohnung. Denn Onkel Edek wurde befördert. Er war nun leitender Arzt der Wojewodschaft in Bydgoszcz. Die Wohnung erstreckte sich über die Hälfte des gesamten Stockwerks. Ein weiterer Vorzug: in der Nachbarswohnung gegenüber wohnte Tante Iza mit ihrem Ehemann - Redakteur der Bydgoszcz`er Tageszeitung „Ilustrowany Kurier Polski“. Sie waren ein wunderbares Paar: kultiviert, elegant, hübsch.
In der neuen Wohnung waren wir nun drei Kinder. Rysia und Magda, die Tochter einer von Basias warschauer Freundinnnen, wohnten nun auch bei Tante und Onkel. Wir waren alle Halbwaisen, die der „edelmütige“ Onkel Edek bei sich aufgenommen hat, damit die verwitweten Mütter ihre so plötzlich vereinsamten Leben ordnen können. Die Mädchen wohnten in einem Zimmer mit Fenster zum Innenhof und ich schlief in einem Zimmer mit der Tür direkt ins Badezimmer. Außerdem befand sich in der Wohnung ein Schlafzimmer sowie ein großes Speisezimmer, das durch Schiebetüren mit Onkels Arbeitszimmer verbunden war. Im Speisesaal thronte ein ovaler, ausziehbarer Tisch sowie Vitrinen mit dem Tischporzellan und schönen Gläsern. Im Arbeitszimmer, rechts vom Eingang stand Onkels Schreibtisch und gleich beim Fenster der glänzende, schwarze Flügel. Eine Lederklubsesselgarnitur mit kleinem Cocktailtisch rundete die Einrichtung ab. Mit offenen Schiebetüren waren Arbeits- und Speisezimmer der ideale Ort für gesellschaftliche Anlässe. An Marysias große Küche war ihre kleine Bedienstetenkammer angeschlossen. Auf der anderen Seite des Badezimmers befand sich Antosias Bedienstetenkammer. Alle Zimmer lagen an einem langen Flur. In der neuen Wohnung hatte Antosia viel zu putzen und wir Kinder – wie Kinder eben so sind – erleichterten ihr diese Aufgabe nicht wirklich. Rysia und Magda waren gleichaltrig - ein Jahr älter als ich aber schon viel größer. Schnell hatten sie sich angefreundet, ständig ärgerten sie mich. Zu Adend bekamen wir meistens einen großen gemeinsamen Teller mit einer Pyramide aus belegten Broten. Die Mädels hatten ihren Anteil schnell aufgegessen, während ich noch immer an meinem ersten Canapé kaute. Natürlich aßen die Mädchen weiter und anstatt ein zweites Brot zu essen, blieb ich vor einem leeren Teller zurück. Von da an, immer wenn die Mädchen nach dem nächsten Brot griffen, nahm ich auch eines auf Vorrat und legte es auf meinen Teller. Während meine Pyramide wuchs lauerten die Mädchen nur darauf, mir sie wieder zu verkleinern.
Eines Tages rief Tante Basia uns drei in den Salon: wir sollten es uns in den Sesseln bequem machen und selbst setzte sie sich auf die Couch. Sie sah mich an und sagte:
„Ich habe Euch hergebeten, um eine gewisse Sache Dich betreffend zu vereinbaren. Ja wirklich, weder Bubi, wie sie Dich als Kleinkind nannten, noch Dychu, wie Du bis jetzt genannt wirst, ist Dein richtiger Vorname. Jetzt bist Du herangewachsen, also sollte man Dich nun Dionizy nennen.“ Die Mädchen begannen zu kichern, doch die Tante beruhigte sie schnell: „Na, na, lacht nicht, denn Dich Rysia nannte man bis vor nicht allzu langer Zeit Lilu. Rysia ist die Verkleinerungsform von Marysia, also solls so bleiben“ und die Tante sprach weiter, „Dionizy ist so ein nicht alltäglicher, ernster Name und passt nicht wirklich zu Dir. Aber Du hast noch einen zweiten Vornamen: Wojciech. Ich finde, dass wir zu Dir Wojtek sagen sollten! Also heisst Du ab heute Wojtek!“ „Wojtek geht in Ordnung“, dachte ich. Dieser Name gefiel mir sogar besser als mein vorheriger, um so mehr, da Mama mich manchmal auch so nannte.
Samstags kamen zu Tante und Onkel Gäste zu Besuch: Basia sparte dann nicht mehr am Essen, sondern tischte üppig auf. Nach dem schmackhaften Abendessen gingen alle ins Arbeitszimmer Bridge spielen, singen oder sogar tanzen. Wir nutzten dann die Gelegenheit, schlichen unter den Tisch und stibitzten Leckereien vom Tisch wie es sich nur ließ.
Eines Tages sagte mir der Onkel, ich solle beim Schulleiter vorstellig werden. Ich klopfte an die Tür, hörte ein entschiedenes „Bitte!“, drückte die Türklinke herunter und trat ein. Herr Lech, so sein Nachname, sprach mit mir sehr herzlich und erwähnte zum Schluss, dass er ein Freund meines Vaters war und dass sie gemeinsam im Oflag (Offizierslager) II C Woldenberg waren. Erst später erfuhr ich, dass mein Vater wie jeder Kriegsgefangene eine Nummer erhalten hatte, welche ihn die ganzen Jahre der Kriegsgefangenschaft über begleitete: 87/XVIII B Ltn: 87. registrierter Gefangener im Oflag XVIII B Wolfsberg vom Dienstgrad Porucznik - vergleichbar eines (Ober-)Leutnants. Der Direktor fügte hinzu, dass das erste Gefangenenlager, in dem sie waren, sich in Wolfsberg in Kärnten befand: Oflag XVIII B.
Ich kam in eine Klasse, in der ein sportlicher, mir gleichgroßer, rothaariger Bursche die erste Geige spielte. Er betrieb Boxsport, was ihn seiner Meinung nach an die Spitze der Schulklassenhierarchie stellte. Gleich in der ersten Pause näherte er sich mir, schaute mir gerade in die Augen und drückte langsam, nachdrücklich und drohend folgende Worte zwischen seinen Zähnen hindurch: „Hey Kleiner, muck hier bloß nicht auf! Ich habe hier das Sagen!“ „Niemals“, warf ich ihm geradewegs ins Gesicht zurück, während gleichzeitig meine Faust auf seinem Kinn landete. Wir kloppten uns so lange, bis der Schulleiter in unsere Klasse kam, und uns auseinander brachte. Er würde solch ein Verhalten nicht tolerieren. Doch wir konnten es nicht dabei belassen: einer von uns muss gewinnen, Ehrensache. Ich ergebe mich niemals! Unsere Zweikämpfe verlegten wir ins hinterste Eck des Schulhofs, sogar noch hinter das Toilettengebäude, neben den Mülltonnen. Dort schlugen wir uns in jeder großen Pause. Als wir vor Anstrengung keuchten, spürten wir die Sinnlosigkeit des sich gegnseitigen Verkloppens. Das Duell blieb weiter unentschieden. Die Kämpfe dauerten einige Tage an. Alles tat mir weh und überall hatte ich blaue Flecken, doch ich wusste: ich gebe nicht auf! Endlich war der von mir lang ersehnte Augenblick gekommen, als mein Gegner sich nicht mehr prügeln wollte. Er ergab sich und flüsterte mir zu: „Du bist besser“.
Meine Stellung in der Klasse war nun gefestigt. Jetzt muckt mir kein Bursche auf und mit dem Lernen hatte ich noch nie Schwierigkeiten. Mathematik und Physik liefen wie von selbst. Schlechter wars mit dem Fach Grammatik, doch auch dafür fand ich einen Weg: Den Mädchen half ich bei der Mathematik, dafür retteten sie mich vor Problemen im Fach Grammatik. In den Pausen spielten die Jungs Fußball auf dem Schulhof oder saßen auf den Bänken und spielten Münzfußball. Ich entschied mich meistens für den echten Ball. Unser Musiklehrer bestand darauf, dass ich den Schulchor verstärke. In der Probe sang ich so herrlich falsch, dass ich schleunigst wieder zurück aufs Fußballfeld geschickt wurde. Während eines Spiels traf mich ein Kumpel schmerzhaft am Sprunggelenk. Ich hinkte stark. Es schmerzte so sehr, dass ich schließlich auf einem Bein hüpfen musste. Zu der Zeit sollte ich zur ersten Kommunion. Zu Hause beachtete niemand, nicht mal der Onkel – der Arzt, mein Humpeln. Ich bemühte mich zu verbergen, dass mir was ist. In die Kirche hüpfte ich auf einem Bein. Niemand half mir. Erst einige Zeit später brachte mich Tante Basia zum Fotografen, um das Kommunionsfoto zu machen. Das Sprunggelenk war schließlich verheilt und ich konnte wieder laufen.
Als ich ein andernmal alleine in unserem Innenhof Fußball spielte, bemerkte ich auf dem Nachbarsbalkon Würste. Damals waren Kühlschränke noch nicht alltägliche Küchengerätschaften, so dass die Leute oftmals Wurstwaren auf ihren Balkonen aufbewahrten. Mit jedem Blick auf des Metzgers Meisterstück wurde ich hungriger. Es lockte! Der Balkon war zwar im ersten Stock, doch indem man auf den Holzzaun kletterte, konnte man über den oberen Querbalken hinauf zum Balkongeländer gelangen; sich die Wurst in den Ausschnitt stecken und dann zurück auf den Zaun und in den Innenhof der Nachbarn herabspringen. Mein Plan war geschmiedet. Doch „das ist Diebstahl“, bremste mein Gewissen meine Bestrebungen. „Aber so viel Wurst“ lockte mich immer mehr. Es wurde dunkel und die Fenster schienen leer. „Das geht ganz schnell, niemand wird’s bemerken“, flüsterte mir die in Aussicht stehende Schlemmerei ein. Ich kletterte zum Balkon und schnappte die Beute. Nur noch zurück über den Balken und ein entschiedener Sprung in ein fremdes Gebiet - Nachbars Innenhof. Plötzlich hielt mich etwas fest. Anstatt auf die Beine, fiel ich mit dem Rücken voran. Ich schlug auf dem Betonboden auf. Es tat so weh! Weder bekam ich Luft, noch konnte ich mich bewegen. Über mir erblickte ich eine Wäscheleine. Sie hatte mich zu Fall gebracht.
Die Dunkelheit verdeckte die Sackgasse, in der ich mich befand. Doch endlich konnte ich wieder einatmen und drehte mich vorsichtig auf den Bauch. Unter höllischen Schmerzen gelang es mir aufzustehen. Aber ich hatte die Wurst! Der Rücken setzte mir bei der kleinsten Bewegung zu, doch den Großteil der Leckerei schlang ich sofort herunter. Sie war köstlich, über-köstlich! Der Genuss an jedem weiteren Bissen linderte meine Schmerzen. Aber mehr konnte ich nicht essen, also steckte ich den Rest in die Tasche. Ich schlich mich in die Wohnung, denn ich fürchtete, dass jemand den Geruch der versteckten „Beweistückchen meines Vergehens“ bemerken würde. Im Flur war es ruhig, lediglich hinter verschlossenen Türen hörte man Stimmen: „Ich geh duschen“, gab ich laut bekannt und ging ins Bad. Der pedantische Onkel verlangte von uns, sich täglich zu duschen. „Soll er`s ruhig verlangen, ich werde erst recht nicht duschen“ - um ihn zu ärgern: Wie jeden Abend drehte ich den Wasserhahn auf und setzte mich an den Wannenrand. Den Dreck zwischen Sprunggelenk und Ferse konnte ich nicht mal mehr mit den Fingernägeln abkratzen. Ich konnte mich nicht beugen, vorsichtig wusch ich mich und putzte dann gründlich meine Zähne. Darauf könnte ich nichtmal um den Onkel zu ärgern verzichten. Ich legte mich ins Bett, doch es schmerzte weiterhin. „Wie gut, dass morgen Sonntag ist“, dachte ich. Doch der Sonntag verging und ich konnte mich kaum bewegen. In der Schule erzählte ich den Jungs, dass ich einen Unfall hatte. Sogar der Lehrer bemerkte, dass mit mir etwas nicht stimmt und schickte mich zum Arzt. „Ich wohne doch bei einem Arzt“, antwortete ich.