Kitabı oku: «Fern von hier», sayfa 2

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Schritte

Nur Anna, das Jüngste der Kinder, hatte sich vor der Stiefmut­ter verschlossen; später erinnerte es sich aber an den eigen­artigen, selten und überraschend aufleuchtenden Humor und an die schweigsame Güte der Frau, die sich ihren Platz in der Mitte nicht erkämpfen musste; er wurde ihr geschenkt.

Als Anna einen Sohn geboren hatte, brachte sie ihn der alt und müde gewordenen Mutter, Anna besuchte das Kind selten, denn sie war in eine große Stadt gezogen und bewohnte zwei Leben zur gleichen Zeit, bewegte sich in der lichten Welt ihrer Vorstellungen und in der harten, grauen Welt außerhalb. An Sonntagen reiste sie aber manchmal mit dem Zug und ging aufrecht, fast steif zu Fuß vom Bahnhof zum Elternhaus.

Heute trug Anna in einem Korb ein junges Kaninchen für Paul, den Sohn. Paul gehörte zur Welt ihrer Vorstellungen; sie sah ihn hochmütig, mit nachtkühlen Augen und Händen, die nichts halten konnten. Nun, da die alte Mutter gestorben war, musste Anna das Kind zurückholen. Hinter der baufälligen Kirche, in der Annas matte Kindersonntage gefangen gehalten wurden, stieg sie über ausgetretene Stufen auf den Platz hinunter, wo Leute sich um einen Brunnen scharten und über die Erklärungen eines Reiseführers lachten. Plötzlich sah sie ihr Kind: Vor der Glasfassade des neuen Hotels übte es selbstvergessen Tanzschritte, während bunte Fahnen den Takt klatschten. Paul begann immer wieder an der gleichen Stelle, bewegte sich wiegend vorwärts, streckte die kurzen Arme waagrecht auf beide Seiten und betrachtete sich im spiegelnden Glas, ohne der schwarz gekleideten Frau Beachtung zu schenken, die er nicht erkannte.

Anna ging dem Kanal entlang, stieß eine schwere Tür auf, von der jemand die Farbe notdürftig abgekratzt hatte, und betrat den halbdunkeln Raum, in dem ein Greis wie ein Pilz in einem Lehnstuhl wucherte. Als Kind hatte sie vor vielen Jahren mit dem Finger «Mutter» auf den schmutzigen Spiegel geschrieben, der am Boden stand; die Schrift war noch da. Anna bemerkte durch das Fenster an der hintern Wand den verkrüppelten Baum, der mit hellgrünen Wimpeln die Sonne begrüßte, die wie eine Wunderblume aus dem steinernen Himmel schoss; eine an einem dünnen Ast aufgespießte Vogelfeder zitterte im Wind.

«Paul weiß nicht, dass es das Wichtigste ist, den Erwar­tungen zu entsprechen», flüsterte der alte Mann und befeuchtete mit der Zunge die Lippen.

«Er begreift nicht, weshalb jemand sich anmaßt, ihn zu bewerten. Bald wird er seine erwartungsvolle Haltung verlieren, wird sich ungesellig und abweisend gebärden.» – «Hab keine Angst, Vater; ich hole meinen Sohn und werde ihn alles lehren», sagte Anna; ihre Stimme klang sonderbar klar, so dass sie erschrak, und gleichzeitig spürte sie, wie eine unbekannte Freude ihren Körper erwärmte. Als die Tür sich bewegte und Licht durchs Zimmer sprang, wandte sie sich um. «Du bist so schwer und so leicht wie mein Herz», dachte sie und betrachtete das Kind, das zögernd mit kurzen Schritten näherkam und verständnislos zu ihr aufblickte. Als sie Paul den Korb mit dem Kaninchen zeigen wollte, versteckte er beide Hände hinter dem Rücken, streckte den Kopf vor und schnupperte.

Die goldene Naht

Hannes steht am Fenster. Heute feiert er seinen vierten Geburtstag; die Mutter hat den gestern gebackenen Kuchen am Nachmittag, als Robert kam (ein magerer, kraushaariger Mann, den Hannes nicht mag), auf den Tisch gestellt. Doch Robert aß nichts davon, sondern sagte drohend zur Mutter: «Wenn du deine Meinung nicht änderst, bin ich heute zum letzten Mal hier – und das schwöre ich.» Dann tätschelte er ihren seit einiger Zeit merkwürdig vorstehenden Bauch und ging.

Der Wind zerrt eine finstere Wolke auseinander, und Hannes sieht für einen Augenblick die Sonne, die einbusige Mutter, deren warme Milch in die Erde sickert und flimmernd über den Asphalt fließt; die Sonne ruht auf hellen Kissen und wird geliebt, ohne es zu ahnen, denn sie ist blind, taub und ohne Gefühl.

Hannes stellt sich vor, die Wohnung sei ein Blumenkelch, die Mutter eine Wespe und er ein Bienchen; schläfrig krabbelt er über den Teppich, rollt sich auf den Rücken und blinzelt in einen süßen, weichen Bilderbuchhimmel, der die Lampe mit den falschen Kerzen verdeckt.

Die Mutter geht durchs andere Zimmer; er hört ihren nervösen Schritt – nun bleibt sie stehen. Bald wird die Nähmaschine surren; neugierig dreht er den Kopf und sieht durch die geöffnete Tür, wie sie nach der Schere greift; sie hält inne und starrt gegen die Wand. Lange Sekunden steht sie so; das tut sie oft, dann hat Hannes Angst und verhält sich still. Nach einer Weile setzt sich die Mutter auf den Stuhl neben der Schneiderpuppe. Fassungslos betrachtet sie wieder die Wand, vor welcher Hannes überlebensgroß zu sehen gewesen war – ein verstörtes, kniendes Kind, über dessen Stirne Blut rann.

Sie entgeht ihm nicht; wenn sie sich von ihm abwendet, holt er sie ein wie eben jetzt, und in der Nacht rollt er aus ihr als endloser Filmstreifen; anhand der Bilder kann sie seine schlaftrunkenen Seufzer und sein leises Aufschluchzen deuten.

Das Bild vor der für einige Augenblicke aufgelösten Wand ist in sie hineingesunken.

Hannes schläft im Esszimmer auf der Couch, wo er seine Welt, der ihren gegenüber, hütet. Wenn er die Puppe mit dem Stoffbauch schlägt oder liebkost, wenn er verträumt über den Bilderbüchern sitzt oder zornig sein sorgsam aufgebautes Schloss zerstört, möchte sie aufschreien; die Zärtlichkeit und das verzweifelte Sichwehren des einsamen kleinen Menschen tun ihr weh, die Bilder in den Büchern aber entführen ihn; fern von ihr hüllen sie ihn ein mit einer Liebe und Güte, wie sie vielleicht Engel kennen. Immer wieder erinnert sie sich an jenen Tag, als Hannes beinah zwei Jahre alt war und Robert am Telefon gesagt hatte: «Er oder ich. Gib den Bastard in ein Heim, dann wird alles gut. Wir werden heiraten, und du wirst von mir einen Sohn haben, mit dem sich dieser widerliche Balg nicht wird messen können.» Sie antwortete nicht und hängte den Hörer auf, doch einige Minuten später, als sie die Windeln des Kleinen in der Küche wusch, wurde sie von einem sonderbaren Krampf geschüttelt. Sie rannte mit tropfenden Händen ins Zimmer und sah den leeren Blick des Kindes, in dem sich Erstaunen, dann ein Lächeln ausbreitete, als sie ihr Entsetzen und ihre Wut hinausschleuderte, wie man einen Stein in ein ruhiges Wasser wirft. Hannes verstand den Sinn ihres zur Fratze verzerrten Gesichts noch nicht, hielt ihre Raserei vielleicht für Scherz und schmun­zelte, wie er es beim Anblick eines unbekannten Tieres getan hätte. Eine unschuldige, ihr unverständliche Heiterkeit, ein fremdes Paradies leuchtete in seinen Augen. Außer sich schlug sie zu; sein Kopf stieß gegen den Türrahmen. Als er sich weinend an ihr Bein klammerte, riss sie ihn weg und warf ihn in eine Ecke, wo er wimmernd liegenblieb. Sie fühlte ihre Knochen wie zu einem Brei auseinanderfließen, und der Geruch und die grobe Wolle des Teppichs füllten ihren Kopf, dann wurden diese Empfindungen kleiner und verschwanden – als sie zu sich kam, lag sie auf dem Rücken und blickte in entsetzt aufgerissene Augen; das bleiche Gesicht des Kindes war nass von Tränen und aus seinem Haar sickerte Blut.

Hannes steht auf und geht leise zum Fenster. Der Wind hat die Wolke wieder zusammengefügt; sie kommt näher und verdunkelt die Straße. Hannes fröstelt und wendet sich um. Auf dem Tisch stehen die Schuhe der Mutter; das Leder ist alt und rissig, aber Hannes hat es heute eingefettet und mit einem Lappen so lange gerieben, bis es wunderbar glänzte. Er möchte der Mutter eine Freude machen. Plötzlich fährt er zusammen; die Mutter schreit: «Nimm die Schuhe vom Tisch!» Zitternd vor Wut steht sie unter der Tür; ihre rechte Hand, mit der sie sich leicht gegen den Türrahmen lehnt, zuckt. Dann starrt sie auf seinen von Schuhwichse verschmierten Pullover, sieht die geöffnete, fast leere Dose am Boden, kommt näher und packt das Kind, das sich duckt und schützend die Arme über den Kopf hält. Ohne den Blick zu heben, weiß Hannes, dass ihre Augen zustechen wie zwei Messer; sein Herz wird vor Angst kalt. Bevor die Schläge auf ihn niederprasseln, fällt ihm ein, dass durch die schwarze Wolke, in welche sich die Sonne hüllt wie in einen zottigen Pelz, eine goldene Naht läuft; dort schimmert ihr heißer Körper durch.

Die Wünsche des Heiratsschwindlers

Die Dame, die einige Wochen vor Weihnachten in eine der Wohnungen im neuen, noch leeren Miethaus am Fluss eingezogen ist, bittet den Heiratsschwindler, ihr bei der Arbeitssuche behilflich zu sein. «Ich bin nicht verschuldet», glaubt sie erklären zu müssen, «und ich habe ein wenig Vermögen. Ich tippe außerordentlich schnell, fülle stundenlang und pausenlos viele Blätter mit vielen Sätzen; auch mit unbegreiflichen. Die Kopfschmerzen am Abend …» Sie verschweigt, dass sie schon seit zwei Tagen nichts gegessen hat; der Hunger gräbt ihr Inneres um, als suche er den Schatz, der auf jedem Grunde glänzt. Sie erzählt einige Male, sie zürne ihrem Freund, einem Schriftsteller, der ihre Person gestohlen und entstellt habe und auf dreihundertdreiundfünfzig Buchsei­ten gefangen halte. Sie zürnt auch ihrem alten Vater, der sich jeder Verantwortung entzieht und ­behauptete, dem Tee, den sie ihm dreimal täglich ans Bett brachte, entströme Men­schengeruch. «Er spricht sonst nichts mehr», beklagt sie sich, «und ich schenkte ihm von meiner Zeit so viel; er hätte sich endlich rechtfertigen können. Aber er zog es vor, zu meckern, statt zu lachen, und zu meckern, statt zu weinen.» Der Hei­rats­schwindler macht sie darauf aufmerksam, dass die Zeit, die sie dem Vater anbot, nicht ihre Zeit gewesen sei; sie gehöre – um Beispiele zu nennen – auch dem Föhn, dem Ros­marinstrauch und den Katzen. Die Dame sieht ein, dass sie sich den Teil nimmt, den sie zu benötigen glaubt. «Ich stecke mir auch den Raum ab», sagt sie, «den aber jedermann ungestraft überqueren kann. Mein Herz ist trotz vielem Unge­mach nicht eng geworden; im Gegenteil. Aber man bedrängt mich. Man will, so glaube ich, meinen Tod.»

Während der Wind die Dame und den Heiratsschwindler in undisziplinierter Art und Weise über die Brücke stößt, schweben Möwen wie weiße Ballone vor der schwarzen Him­melshöhle auf und nieder. Die Dame lässt auf der anderen Seite des Flusses zwei Neujahrskarten in einen Briefkasten fallen. Der Heiratsschwindler steht neben ihr und bewundert ihr starkes, verschnörkeltes, schwarzes Haar mit dem rostigen Schimmer; es scheint aus Eisen geschmiedet. Ihr Kinn ist aber vom Alter schon leicht verformt. Sie bindet jetzt den Kopf mit einem grauen Tuch, das sie aus ihrer Manteltasche zieht, am Hals fest, damit der Wind ihn nicht abreißt. Sie erklärt, sie lebe nun für immer allein, ohne Vater und ohne Freund. «Das neue Leben, das ich mir erträumt habe, stellt sich nicht ein», klagt sie; ihre bläulichen Lippen ziehen sich nach unten. Während sie auf der Brücke geduckt zurückschwanken, sich in die lebendige Wand des Windes hineindrücken, haucht der Heiratsschwindler in seine in Handschuhen steckenden Hände. «Ich wünsche Dir neue Bedrängnisse, da Du glaubst, Dich den alten entziehen zu müssen», denkt er lächelnd.

«Luzia mit vierzehn Jahren»

Luzia erwachte und setzte sich im Bett auf; ihre Augen zwängten sich wie neugierige, schwarze Köpfchen durch zu kleine Fenster, wo sie stecken blieben. Sie bürstete ihr wirbliges, blassrotes Haar; als sie noch gehen konnte und die Schule besuchte, hatten die Kinder sie «Meerschweinchen» genannt. Nicht nur ihr Haar, vor allem ihr Gesicht erinnerte an diese kleinen Tiere; wenn sie aß, zog sie die Oberlippe hoch, auch schien sie immer zu schnüffeln. Seit einem Jahr war sie krank; zum Geburtstag hatten ihr die Schulkame­radinnen einen Rollstuhl gekauft; sie hatte geweint.

Es schneite; wie tote Schmetterlinge fielen die Flocken zur Erde. Ob der Vater noch schlief? Er kam nie, wie Luzia, in Verlegenheit, ob man «Institution» oder «Instutition» sagte. Luzia stellte sich vor, es gebe Blumen-, Stängel- und Wurzelmenschen. Wenn sie die Blume war, war der Vater der Stängel; sie brauchte ihn, aber es beunruhigte sie, dass er sie nicht wirklich nötig hatte; er schien ganz zufrieden zu sein als grüner, schmuckloser Halm. Doch gestern hatte er ihr eine junge Frau in einem glitzernden Kleid vorgestellt; Luzia war zumute wie damals, als sie zum ersten Mal jene Bahn sah, die man «Roter Pfeil» nannte, und entdecken musste, dass sie die Geschwindigkeit dieses Pfeils überschätzt hatte – ihre kindliche Phantasie hatte ihr vorgegaukelt, er würde engelschnell davonrasen, in der Weise, dass das Auge ihn gar nicht mehr erkennen konnte. Oder wie damals, als sie sechs Jahre alt war und ihrer Mutter entgegenlief, als die von einem Spitalaufenthalt zurückkehrte; statt ihr Kind zu umarmen und zu küssen, hatte sie barsch gefragt: «Wie siehst du auch aus? Ungekämmt, und diese schmutzigen Hände!» Einige Wochen später war die Mutter im Auto tödlich verunglückt; der Vater, der zu schnell auf der regennassen Straße gefahren war, hatte nur geringfügige Verletzungen erlitten. Luzia hatte die Freundin des Vaters nicht begrüßt, nur mit starrem Gesicht Unverständliches gemurmelt und in ihrem Tierbuch weitergelesen. Für Tiere interessierte sie sich; sie hätte gern einen Hund besessen, doch der Vater liebte Hunde nicht. Die Frau sah bleich und böse aus, als ob sie «aus der Fremde» käme, wo Männer kleinen Mädchen übelwollten, alle Leute nur ans Geldverdienen dachten und man ausgelacht wurde, wenn man nicht war wie sie. «Die Fremde» war auch unpraktisch! Wer garantierte, dass dort das Badewasser, das in die Wanne plätscherte, die richtige Wärme hatte? Und dass sich ein Stecker für die Nachttischlampe im Schlafzimmer befand? Und dass man die Geräusche in der Nacht richtig deuten konnte?

Dann hatte sich noch etwas ereignet, das Luzia aufwühlte; sie war der Meinung gewesen, sie habe ihre Mutter nie geliebt. Gestern las sie in einem ihrer alten Aufsatzhefte, als Zehnjährige hatte sie dort unter dem Titel: «Meine liebe Mutter» erzählt, wie die Mutter mit der kleinen Luzia Tierchen und Männchen aus Kastanien gebastelt, ihr vorgelesen und für sie gar Spiele erfunden hatte; an all dies hatte sie sich nun als Vierzehnjährige nicht mehr erinnert; erst beim Lesen des Aufsatzes waren Bilder wie vom Ende des Himmels zu ihr gekommen, um sich wieder in ihr niederzulassen. War es möglich, dass sie viel später auch nicht mehr wusste, wie sie den Vater jetzt liebte? Luzia mochte Erinnerungen nicht; sie waren imstande, Schönes hässlich und Hässliches schön zu machen. Eigentlich wäre es ganz gut zu sterben, dachte sie, wenn noch keine neuen Bilder die alten zu stark verfälschen konnten; aber die Bilder durfte man ja nicht mitnehmen, wie man auch sich selber nicht mitnahm: Man blieb, auch als Erinnerung, die durch spätere Erlebnisse der Hinterbliebenen verändert werden konnte, in den Menschen zurück, die einen gekannt hatten. Und wenn sie über einen zu andern Menschen, die man nicht gekannt hatte, redeten, wurde das Bild des armen Toten, der man nun war, wieder anders; so veränderte man sich ständig, lebte weiter als Splitter in immer mehr Menschen, bis die Splitter kleiner und kleiner und sich so fremd wurden, dass sie sich selber nicht mehr entsinnen konnten, von welchem teuren Toten sie abstammten. Luzia seufzte. Bald würde Regine kommen, Vaters Schwester, die den Haushalt besorgte. Sie würde vor der Tür den Schnee vom Mantel klopfen, über Rheuma jammern und Milchkaffee kochen. Sie sah aus wie eine ständig schwangere Frau; Luzia konnte ihr aufgedunsenes, fleckiges Gesicht und die Art, wie sie sich mit gespreizten Beinen hinsetzte, nicht leiden. Luzia hatte einen Cousin, der erklärt hatte, er müsse erbrechen, wenn er Leute wie Regine sähe. Luzia war von ihm sehr beeindruckt, aber er war ein armer Junge, der von seinen Eltern oft geschlagen wurde. Er schrieb Gedichte, die niemand verstand, auch Luzia nicht.

Sie schaute in den Spiegel: «So wie ich es bestimme, so bin ich», dachte sie und betrachtete sich genau, doch verwirrte sie die Vorstellung, es blicke ihr da ein Gemisch von zurückgelassenen Erinnerungen an verstorbene Tanten, Onkel, Großtanten, Großväter und andere meerschweinähnliche Verwandte entgegen. Sie streckte sich die Zunge heraus und sagte laut: «Was kümmert mich das; ich, Luzia, werde mich schon durchsetzen.» Heute noch würde sie eine Liste aufstellen mit allen Eigenschaften, die momentan und vorläufig die Luzia, die da in den Spiegel guckte, auszeichneten. Sie würde alles, was sie hasste und liebte, samt ihren Plänen und Niederlagen niederschreiben und über das Ganze die Überschrift: «Luzia mit vierzehn Jahren» setzen. Aber vielleicht war sie weder so, wie sie sich, noch so, wie ihr Vater sie sah? Gab es Menschen, die ihr ganzes Leben lang niemand richtig kannte, nicht einmal sie selbst? Man bestand aus tausend Bildern; wenn einen ein Greis, die Mutter, der Geliebte, ein kleines Kind oder ein Hund betrachteten, wurde man zu fünf verschiedenen Personen; und wenn einen jemand aus der Höhe anschaute, oder aus der Ferne, oder durch ein riesiges Mikroskop … Und es gab Geisteskranke, die sich selber als Tier sahen, oder als eine Berühmtheit, oder als Gott, oder als Teufel. Waren sie es nicht? Für die andern nicht, aber für sich selber gewiss; wie ein Reicher, der sich einbildete, verarmt zu sein, tatsächlich arm war … Ihre Wangen wurden rot, ihre Augen glänzten; wenn sie «spintisierte», wie ihr Vater es nannte, fühlte sie sich frei, als wäre die Welt durchsichtig, als würden Vergangenheit und Zukunft zu wunderbaren, klaren Bildern verschmelzen, die in Eiern darauf warteten, dass ein freier Mensch sie erlöse; mit einem Stab in der Hand würde sie durch ein weißes Eierland schreiten und die Eier, die vor Verlangen, geöffnet zu werden, zu glühen begannen, erlösen; ein Bild nach dem andern würde ihr Stab hervorholen, her­vorzaubern und auf den Eierschalen tanzen lassen. Sie würde singen mit ihrer zarten Stimme und dirigieren mit ihrem Stab; auch der Vater träte aus einem Ei und würde auf seinen steifen Beinen umherhopsen und sie wüsste alles über ihn: es gäbe ihn wirklich …

Als der Vater zögernd die Tür öffnete und sie sein ratlos lächelndes Gesicht über dem zerknitterten Kragen des Schlafanzugs sah, ertappte sie sich dabei, dass sie versuchte, ihn mit den Augen der jungen Frau im Flimmerkleid zu sehen; sie erschrak. Vaters Gesicht war weich und weißlich-grau. Als wen sah er sich wohl? Als Mörder seiner Frau? Ganz plötzlich klebte dieser Einfall wie ein breites Band auf ihrem Hirn, so dass sie Vaters Frage, ob sie gut geschlafen habe, nicht aufnehmen konnte; das Band verdeckte jeden Eingang und ließ auch keine andern Gedanken heraus als: «Vater, du bist schuld, dass meine Mutter tot ist.» Er starrte sie an. Hatte sie diesen Satz wirklich gesagt? Mit einer ganz harten, trockenen Stimme, die nicht aus ihm zu sprechen schien, nicht aus Luzias Vater, wie sie ihn kannte und liebte – vielleicht aus Mutters Mann? Oder aus dem Geliebten der Flitterfrau? Oder aus dem Vertreter für Kunstbücher? – antwortete er: «Du bist eifersüchtig. Kannst du nicht einsehen, dass ich es schwer habe? Bist du so auf dich selber konzentriert, dass du mir mein Glück nicht gönnen kannst? Meine Frau ist tot, meine Tochter ist ein Krüppel – das habe nicht ich verschuldet: den Ursprung dieser mysteriösen Krankheit wird der Arzt noch aufklären. Was kann mir Freude bereiten? Auch ohne deine Einwilligung werde ich Brigitte heiraten.»

Hätte er in ergreifendem, weichem Ton zu ihr geredet, wäre sie in Tränen ausgebrochen, hätte die Arme nach ihm ausgestreckt, um Vergebung gebettelt und um Verständnis gebeten, doch als der Türrahmen leer war, als ob jemand ­Vaters Bild herausgebrochen hätte, schienen alle Farben dieses Morgens erloschen; wie in einem steinernen Gefängnis blickte sie sich um.

Neid

Am Radio wurde das Signalement meiner vermissten Schwes­ter durchgegeben: trägt einen Regenbogenmantel; grün mit rotem Glanz oder rot mit grünem Glanz – bat jeden Tag, man möge ihr ein Schloss im Garten hinter dem Haus bauen; schleppte schließlich den rostigen, zerbrochenen Eisentisch aus dem Gestrüpp und behauptete, er sei ihr Palast – Trägt kleine, goldene Ohrringe – bewegt sich sonderbar ruckartig, wenn sie ins Innere einer Straßenbahn tritt; hält sich an einer Stange bei der Tür fest, schluckt krampfhaft und wirkt, als habe man sie in einen engen Kissenanzug gesteckt und sich schamlos auf sie gesetzt – hat die ganze Welt zum Kata­strophengebiet erklärt und versucht, sich darin einzurich­ten – nagt blitzschnell an Äpfeln, Karotten und Seifen mit ihren merkwürdig halbkreisförmig gekrümmten Schnei­dezähnen –

Das Haus, in dem meine Schwester und ich eine Ein­zim­merwohnung gemietet haben, steht an einer Kreuzung; wenn Lastwagen oder die Straßenbahn vorbeifahren, zittert der Boden unseres Zimmers. Er ist vier Schritte breit und fünf Schritte lang und neigt sich; aus diesem Grund kann man die Tür nicht offen lassen; nach einer Weile schließt sie sich sachte. Dass sie es wagt, ungefragt und trotzdem höflich das Zimmer zu verschließen, ärgert mich; ich brauche den Ausblick in den Korridor, weil das Zimmer beengend wirkt und im Korridor der Kohlenofen steht, der es heizt. Als ich meine Schwester fragte, ob das Tun der Tür sie nicht störe, antwortete sie, sie sei kein Mensch. Ich schwankte zwischen Mitleid und Neid. Eines Nachts schoben sich die langen Vorhänge auseinander und meine Schwester stand auf, um sie zuzuziehen; kaum lag sie wieder im Bett, öffneten sie sich von neuem. Sie erzählte mir dieses Ereignis am Morgen und ich weinte beinah, weil ich nie etwas Ähnliches erlebt hatte.

An jenem Sonntag im Oktober erreichte der Lichtschirm, der über die Stadt sank, den Boden nicht. Meine Schwester und ich saßen im Zimmer und spielten Eile mit Weile; sie verlor und ging davon, ohne ein Wort zu sagen. Ich suchte sie im Keller und auf dem Dachboden und lief schließlich in den nahe gelegenen Park. Ich hörte Rufe und rannte in jene Richtung, doch dann setzte ich mich unter einen Baum, der von einer rotglühenden Kletterpflanze umwickelt war. Der Wind blies Blätter über den hohen Zaun. Die meisten Stühle standen verlassen. Eine Frau schob, sich verkleinernd, einen Kin­derwagen gegen das offene Tor. Manche Bäume grimassierten, als seien sie gezwungen, unter Wasser zu lächeln, und die Nacht rollte einen schwarzen Teppich über den Rasen. Von weitem bemerkte ich ein großes, rattenähnliches Tier, das zwischen den Bäumen lief; als es mich erblickte, stellte es sich auf die Hinterbeine und pfiff; deutlich sah ich goldene Ringe in seinen Ohren. Als ich mich erhob, rannte das Tier davon.

Lange Zeit stand ich erstarrt und spürte die Kälte, die sich über meinen Körper tastete. Fern und klebrig wie der Staub, der Trauben und Schmetterlinge weiß pudert, füllte der Nebel alle Löcher und bedeckte die Augen der Menschen.

Ich tastete mich nach Hause. Jedermann gab vor, meine Schwester zu suchen. Da ich weiß, dass sich Ratten für verschiedene Versuche eignen und die Wissenschaftler an ihnen Interesse haben, berichtete ich einige Wochen später der Polizei aus Neid, was sich im Park zugetragen hatte. Falls es gelingt, meine Schwester einzufangen, wird man versuchen, einen Menschen aus ihr zu machen.

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