Kitabı oku: «Fern von hier», sayfa 4

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Taddea

Man nannte die kleine Taddea eine Lügnerin, weil sie sich nicht viel aus Gedanken machte, die sich wie Blumen oder Früchte entwickelt hatten. Sie spickte die ihren, die Samenkörnchen glichen, munter umher. Wohin sie fielen, wusste sie nicht, glaubte aber bestimmt, dass der Wind sie auf die höchsten Berge, auf die größte Meereswoge, ins tiefste Tal trug, und wer weiß, vielleicht wuchsen daraus Vögel, Schlangen, schillernde Käfer oder Ungeahntes? Taddea liebte Wörter, deren Bedeutung sie kaum kannte, die sie aber jeweils, wenn sie traurig und einsam war, vor sich hinsagte: «Zarewitsch» war eines, dann gab es noch «Ignatius von Loyola» und «raffsüchtig». Sie liebte auch Leute, die sie gar nie gesehen und von welchen sie auch nie gehört hatte, die sie sich nur zu ihrem eigenen Vergnügen ausdachte.

Am Abend, wenn die Mutter glaubte, ihre kleine Tochter löse Schulaufgaben, lag Taddea mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf dem Bett in ihrem Zimmer. Das Fenster rahmte Häuser ein, die an einem sanft leuchtenden Himmel lehnten und sich von Bäumen, die aussahen, als wären sie aus Licht und Schatten gestrickt, streicheln ließen. Sie sah Fernsehantennen auf den Dächern, bunte Wäsche auf den Balkonen, sie hörte Geschirrgeklapper aus den Küchen, irgendwo, gedämpft, Gemurmel aus dem Radio, in der Ferne das Klingeln der Straßenbahn.

Taddea hatte keinen Vater, und die Mutter kümmerte sich kaum um sie, denn abends ging sie meist ins Kino. Sie sagte, weil sie den ganzen Tag im Büro arbeite, brauche sie diesen Ausgleich, doch Taddea befürchtete, dass dieser Ausgleich anders beschaffen sei, als die Mutter vorgab. Ihre Schulkameradinnen sagten: «Deine Mutter ist eine Hure», und sie sagten, als wäre dies ebenso schlimm: «Deine Mutter hat das Haar gefärbt.» Seit Taddea ahnte, dass eine Hure mit dem sechsten Gebot in Zusammenhang stand, das sie während längerer Zeit nicht ganz begriffen hatte, das sich aber um Schlimmes drehte, um Dinge, die man im Kino sah, um Dinge, die der Pfarrer im Religionsunterricht verschwieg, war sie immer bedrückt. Einigen Schulkameradinnen war dieses Gebiet nicht fremd; sie tuschelten unverschämt lachend darüber, doch Taddea, die log, wie wir wissen, auch stahl, hielt sich da lieber fern; es genügte schon, wenn sich die Mutter damit befasste, die übrigens aus «gutem Haus» stammte, wie eine Tante erklärte, und daran hielt sich das Mädchen. Die Mutter selbst sprach nie davon. Taddea wusste nicht, ob die Mutter schön war, sie kümmerte sich nicht darum, nur ihr rotes Haar betrachtete sie jeweils argwöhnisch, als sei es das Symbol ihres sündhaften Lebens, und ihre Brüste, die ihr viel zu mächtig schienen, kamen ihr unangenehm vor. Überhaupt roch sie aufdringlich nach «Frau». Sie war noch sehr schlank, ihre Kleiderausschnitte waren zu groß, ihre Haut welk und gepudert, ihre Stimme rau, manchmal weckte sie Sehnsucht, Erinnerungen nach entschwundener Wärme, Geborgenheit, Vertrautheit, und das Mädchen starrte ihr in die Augen, als suche es dort etwas, doch ihr Blick wich immer aus. Einmal sah Taddea sie mit einem Mann, einem jener Männer wahrscheinlich, mit denen sie Verbotenes tat. Sie betrachtete die beiden genau, konnte aber nichts Besonderes entdecken: Sie waren ungezwungen, wie Erwachsene sind, kalt, böse lächelnd, arrogant, geheimnisvoll. Vielleicht war die Stimmung, die Taddea zu spüren glaubte, tatsächlich anders als die Stimmung, die gewöhnliche Menschen verbreiten; sie glich mehr Tabak, Alkohol, Kino, Dancing, gar nicht Tischtuch, Milch, Schuhputzcreme, Einkaufstasche und Wetterprognose.

Als Taddea noch jünger gewesen war, glaubte sie, die Erwachsenen schenkten der Welt der Kinder Beachtung. Im Winter grub sie jeweils sonderbare Spuren in den Schnee, um die Passanten zu irritieren. Sie stellte sich vor, sie würden zueinander sagen: «Was für ein Tier ging hier wohl? Das war doch kein Hase, kein Reh, kein Fuchs, kein Hund?» Und am andern Tag würde in der Zeitung stehen: «Rätselhaftes Tier, ein Urtier vielleicht, ging durch unsere Stadt.» Doch nichts dergleichen geschah.

Übrigens schien das unstete Leben der Mutter, ihre Unruhe, ihr Jagen nach Abwechslung, nach Abenteuern, eine Flucht vor einer Last zu sein, eher das Vergessen dieser Last, die sie immer mit sich trug. Sie bestand aus Worten wie «Familie», «Verantwortung», «Stand», «Ehre», die plötzlich ihre Bedeutung für sie verloren hatten, denn ihr Vater, der letzte Spross einer vornehmen Familie, war ein Spieler, Trinker und Schürzenjäger gewesen und hatte das Vermögen verju­belt. (Sein Sohn, Onkel Theodor, den Taddea nie gesehen hatte, war Kommunist. Sie stellte sich diesen Beruf sehr schlimm vor.) Die Schwester der Mutter, Tante Sybill, die mit einer gerümpften Nase zur Welt gekommen war, lebte, ziemlich arm, für fremde Leute nähend, in einem Stübchen im Haus der verstorbenen Eltern und hütete das Klavier, die Familienfotos, gestickte Deckchen, verstaubte, dunkle Gemälde, schlecht gemalt, aber immerhin Onkel Alphons und Tante Lilly und Cousine Astrid darstellend, die alle längst tot waren. Die übrigen Räume hatte sie an ruhige, seriöse Leute vermietet. Taddea wollte, wenn sie einmal erwachsen sein würde, auch so leben wie Tante Sybill, die vor allem Widerwärtigen geschützt schien. Doch wenn sie sich im Spiegel betrachtete, konnte sie sich nicht vorstellen, wie dieses ruhige Leben, das nach Staub roch, nach Pfefferminz und Ge­ranienblüten, zu ihr passen würde, denn ihre schrägste­hen­den Augen, die die Farbe von dunklem Bier hatten, blickten wild, sie war geschmeidig und dünn, obwohl sie viel aß, heimlich geradezu leidenschaftlich Zucker verschlang, Hafer, Butterbrote, Eier.

Oft stand Taddea minutenlang in der leeren Wohnung, in welcher kein Bild hing, keine gestickte Decke lag, ohne sich zu rühren, gelähmt, Angst im Herzen, und glaubte, ihre Gedanken würden wie Glaskügelchen von ihr abfallen und in alle vier Ecken des Zimmers rollen. Sie wollte ihnen nacheilen, sie einsammeln, um wieder sie selbst zu sein, doch sie konnte nicht. Manchmal schrie sie, und sie musste sich die Hand auf den Mund pressen, denn sie war, trotz ihrem verwegenen Äußeren, rücksichtsvoll. Eine ältere Dame, die nur Katzen besaß, strich ihr hie und da über den Kopf, was sie innerlich steif, mit einem falschen, demütigen, halben Lächeln geschehen ließ.

Taddea besaß viele Spielsachen, denn jeden Samstag, bevor die Mutter in ihrem Sportwagen wegfuhr, kaufte sie ihr etwas, eine kleine Welt, die sich in ihre Hand, an ihr Herz schmiegen sollte, doch am liebsten verbrachte das Mädchen die freien Stunden mit dem Schmücken eines Hydranten, der an der Straßenecke stand. Es zog ihm alte Wollmützen an und abgetragene Jacken seiner Mutter, verschiedene Halstücher, Schürzen, einen zerrissenen Vorhang, den es in einem Mistkübel fand und der ihm gefiel, weil er wie Seide schimmerte. Es taufte den Hydranten «Beethoven» oder «Chopin» und unternahm mit ihm Reisen nach Texas, nach Mexico, nach allen Ländern, die es kannte, weil ihre Namen in den Schlagern enthalten waren, die es am Radio hörte. Ältere Kin­der, die seinem Treiben belustigt zusahen, versteckten jeweils die Kleider und lachten, wenn Taddea an ihrem nackten Freund lehnte und weinte.

Eines Nachts träumte Taddea, ihre Mutter wandere in einem langen Korridor, immerzu, aber ohne kleiner zu werden, immerzu gegenwärtig wie das ewige Licht in der Kirche, das dem kleinen Mädchen von jeher unheimlich vorge­kommen war, und auf ihrem Kopf saß eine Katze, die fragte: «Du liebst mich?», nicht: «Liebst du mich?», woraus das Kind schloss, dass die Katze um seine Liebe zu ihr wusste und eigentlich nur der Form halber fragte. Das Tier war krank, und Taddea fühlte, dass es bald sterben würde, denn alle Blumen und Tiere, die in Mutters Obhut waren, starben über Nacht: Die Kakteen, der Kanarienvogel, die Schildkröte, der kleine Frosch. (Sehr zum Verdruss, aber, wie Taddea richtig empfand, auch zum Schmerz der Mutter, die nach diesen traurigen Erlebnissen vorgab, Pflanzen und Tiere zu verab­scheuen, aber dralle, lebhafte Hunde mit eifersüchtigem Lächeln lobte.)

Taddea erwachte. Die Uhr im Nebenzimmer schlug Mit­ternacht. In der Ferne sangen einige Italiener, Taddea stellte sie sich wie gigantische Engel vor, die singend Wolken kneten. Sie schlüpfte aus dem Bett und ging leise ins Schlafzimmer ihrer Mutter, sah jedoch, dass das Bett leer war. (Die Mutter brachte ihre Männer nie nach Hause. Vielleicht aus Rücksicht?) Sie trat ans Fenster. Die Nacht lag weich und warm wie Samt in den Gassen. Taddea beugte sich weit hinaus, um nach der Mutter Ausschau zu halten, die vielleicht mit der letzten Straßenbahn zurückgekehrt war (das Auto war zu jener Zeit zur Reparatur in einer Werkstatt) und nun allein durch die Straße ging, mit abwesendem Blick, ihr ­unglückliches, ein wenig slawisches Gesicht wie eine zerfetzte Fahne vor sich hertragend. Sie roch nach Wein, schien aber nie betrunken, und sie trug immer neue Kleider wie der Hydrant, ihre Augen waren schwarz glimmende Scherben, ihre Lippen geschabte Rüben, ihre Hände Krallen, die für Taddea Geld auf die Bank trugen, mechanisch, wie einem inneren Zwang gehorchend. Sie schien stets müde und doch gespannt, hie und da schrie sie ohne Grund, dann weinte sie und schenkte ihrer Tochter Schokolade.

Taddea beugte sich weiter hinaus. War es nicht die Mutter, die dort um die Ecke bog? Aber weshalb kam sie nicht hierher, wo ihre Wohnung war, weshalb verschwand sie in einer anderen Straße? Plötzlich verlor das Mädchen, das aufs Fens­tersims gestiegen war, das Gleichgewicht und stürzte hinunter; schnell, lautlos flatterte es auf die Nacht zu. Der Tod nahm sein Herz in die Hände und flog mit ihm in jene Welt, von der wir träumen, wenn der Schlaf mit uns in die Tiefen taucht, wo silberne Flüsse leise wie Katzen zwischen blauen Wolken gehen, wo Männer und Frauen heulend wie hungrige Wölfe auf hohe Türme steigen und stattliche Kröten lachend über Sommerwiesen eilen.

Leo

Jeden Schritt, jede Bewegung schien der kleine Leo zu kosten. Wenn er irgendwo saß, das Kinn auf die Hand gestützt, die Zehen betrachtend, die er spielerisch bewegte, die braunen Augen mit dem verschwommenen Blick halb geschlossen, scharf durch die schmale Nase atmend, dann schien er nicht nur das Atmen, das Spiel der Zehen, das Ruhen des Kinns auf der Hand zu genießen, sondern er schien sich gleichzeitig erfreut seine braunroten Locken vorzustellen, seine kleinen Ohren, die oben spitz zuliefen, seine hübschen Hüften, die blassen, herzförmigen Lippen, die er mit der Zunge streichelte. Diese Trägheit und das verträumte Wesen gefielen seinem Onkel, erregten jedoch den Zorn seiner Tante. «Es soll einmal ein Mann aus ihm werden, vergiss es nicht, Paul!», schrie sie jeweils, doch Onkel Paul betrachtete seinen Pflegesohn als eine teils freundlich, teils bizarr schimmernde Pflanze, sie sich hegen und pflegen ließ und von der fremden Welt träumte, von wo ihr Same aus Versehen auf die Erde gefallen war und nun staunend sich verwandelte, staunend das Dasein genoss und staunend verwelkte.

Tante Elise hätte man sich gut mit einem roten, flatternden Kopftuch auf einem Traktor sitzend vorstellen können, in einem kommunistischen Propagandafilm beispielsweise, entschlossen eine Fahne schwenkend, während Onkel Paul, der vierblättrige Kleeblätter sammelte, Kaugummi kaute und deshalb immer nach Pfefferminz roch, eher einem Landpfarrer oder Landarzt glich; man umfing seine Gestalt mit einem einzigen Blick, nahm sie sozusagen mit einem Schluck wie einen guten, herben Wein, während Tante Elise mit den harten Augen, der geröteten Nase, den breiten, abfallenden Schultern mit einer zähen, schwer verdaulichen Wurst Ähnlichkeit hatte, die sich nicht gut häuten lässt, die beim Kochen aufspringt oder pappig wird, kurzum: die einen vor Probleme stellt. Das Einzige, was an Onkel Paul befremdete, war seine Angewohnheit, die Hände immer zur Faust geschlossen zu halten, wobei er die Daumen zwischen Zeige- und Mittelfinger gefangen hielt, als wären sie die Verkörperung des Bösen.

Onkel Paul war der Sohn eines Kleinbauern, hatte mit Stipendien studiert und durfte sich Herr Doktor nennen, obwohl er orthografische Fehler machte. Seine Arbeit, Zähne flicken, tat er genau, die Patienten liebten ihn, denn er war stets heiter, wenn auch schweigsam. Er besaß eine moderne Praxis in der Stadt und bewohnte ein Haus in der Vorstadt, dessen vorderes Gesicht auf eine Fabrikstraße blickte (einige staubbedeckte Bäume waren zu sehen, rumpelnde Lastwagen, im Hintergrund ein Heer von rauchenden Schornsteinen), dessen hinteres Gesicht aber den Strom betrachtete, auf welchem sich am Sonntag rotweißbeflaggte Ruder- und Motorboote tummelten. Am Samstagabend, wenn die Glocken den Sonntag einläuteten, konnte man Onkel Paul mit andächtigem Gesicht auf der Terrasse stehen sehen, wie er mit schillernden Äuglein über das Wasser blickte.

Hätte man aus der Innenausstattung des Hauses auf den Charakter seiner Bewohner schließen wollen, wäre man in Verlegenheit geraten, als müsse man aufgrund eines Bauchinhalts die Eigenschaften des Trägers dieses Bauches enträt­seln. («Bauch ist Bauch» war übrigens der Lieblingsausspruch Onkel Pauls, dessen er sich immer bediente, wenn man ihn in irgendeiner Angelegenheit um seine Meinung fragte. Er schien damit vielleicht auf eine etwas rätselhafte Art sagen zu wollen, alles sei relativ, alles sei im Grunde gleichermaßen wertvoll oder wertlos, so und so zu betrachten, habe seine Vorder- und seine Kehrseite, sei positiv und zugleich negativ, aus diesem Grunde anzustreben und aus jenem Grunde zu verachten.) Onkel Paul besaß einen Fernsehapparat, schöne, alte Bauernmöbel nebst Stühlen, die Abortschüsseln glichen, eine im Warenhaus gekaufte abstrakte Frau, die Ähnlichkeit mit einem Eselsohr hatte, eine rosafarbene Badewanne und eine beachtliche Bibliothek, denn er war eine Leseratte.

An einem Samstag im Frühling trugen fremde Menschen den kleinen Leo ins Haus, weil er von einem der großen Lastwagen überfahren worden war; die Fenster standen offen und breiteten ihre Flügel weit aus, als wollten sie davonfliegen. Während Tante Elise dem Arzt telefonierte, kniete Onkel Paul am Bett des Knaben, der mit einem scharfen Wenden seines Kopfes hierhin und dorthin blickte und mit einer eigentümlich kalten, heiseren Stimme unverständliche Worte sprach. Blut floss schräg über sein Gesicht, das der Onkel mit einem Taschentuch immer wieder zitternd abwischte.

Ein Traum, der so groß war, dass er das ganze Zimmer ausfüllte, die Wände sprengte und überallhin floss wie ein farbiger Brei, der wunderliche Formen annimmt, zeigte dem Knaben die Daumen seines Onkels, die aus den Händen krochen, sich vermehrten, wie Zeppeline durchs Zimmer flogen, gegeneinanderstießen, schreiend, mit offenen Mündern um die Lampe wirbelten. Die Menschen und Gegenstände erstarrten, die Nacht wuchs aus den Dächern und warf ihren Schatten ins Zimmer. Mahlzeiten, die Leo geliebt hatte, erstanden vor seinen Augen, doch waren sie sonderbar verzerrt, als ob man sagen würde: «Ich bud» statt «ich badete»; nicht aus Unwissenheit, sondern aus einem unerklärlichen Übermut oder Überschwang, der der Sache gar nicht ange­messen war. Eine Bratwurst mit Zwiebeln roch nach Vanille, einer Torte entstieg Knoblauchgeruch, eine Forelle war zäh und klebrig wie Nougat.

Je länger Onkel Paul das Kind anblickte, desto fremder kam es ihm vor; manchmal wurde es plastisch, wie es vorher nie gewesen war (es hatte eigentlich immer unräumlich, verwischt wie auf einer schlechten Fotografie gewirkt), sein längliches Gesicht war wie von einem Heiligenschein umgeben, die Augen wurden überdeutlich, ragten wie Stecknadeln hervor und begannen zu leuchten, hinter seinem Gesichtchen schien sich Unbekanntes zu verbergen, und seinen blutenden, gekrümmten Körper schien es zu ignorieren; es lebte hinter ihm wie der Wahnsinnige hinter den Mauern seiner Zelle, die er nicht wahrnimmt, und wenn er mit dem Kopf an sie stößt, kann man sein wütendes, schmerz­liches Aufbrüllen hören. (Wenn seine Vernunft hie und da den ­Ansturm der Traumbilder zurückdrängte und sich umsähe, würden sich auf seinem Gesicht Erschrecken, Staunen, Widerwillen zeigen, hätten die Hiebe der Dämonen es nicht zerstört.) Der Knabe glich einem Engel, der sich in ein Tier verwandelt, in eine Ratte beispielsweise, sich aber immerzu schämt und die Füße beschnuppert, um festzustellen, ob sie nicht übel riechen, und den Schwanz einzieht wie ein geschlagener Hund, und wenn er irgendwo Seife frisst oder an einer Türe nagt, träumt er von weißen, zarten Flügelchen, ver­meidet es, zu rülpsen, und die sehnsüchtigen Worte: «Wenigstens ein Schmetterling …» drängen sich auf seine Rat­tenlippen.

Als der Arzt endlich kam, unsanft Tante Elise und den verstörten Lastwagenchauffeur zurückstieß, die ihn mit Fragen und Erklärungen bedrängten, runzelte Leo die Stirn, atmete einige Male kurz und heftig, schloss die Augen und öffnete die weißen trockenen Lippen. Onkel Paul erhob sich, blickte sich erschreckt im Zimmer um, und während er sich gleichzeitig mit dem Arzt über Leo beugte, wusste er, dass das Kind tot war, und es schien ihm, er habe es geliebt, wie man eine Frau liebt, mehr noch als Elise, deren Weinen er wie aus weiter Ferne hörte, mehr als seine Bücher, mehr als sich selbst.

Er öffnete seine Hände, und als der Arzt ihm eine Frage stellte, schwieg er, denn seine Stimme, seine Zunge und seine Lippen blieben bewegungslos wie seine Hände, sie wurden zu etwas Fremdem, zu Gegenständen, die er nicht mehr gebrauchen konnte und wollte, da der Knabe nicht mehr da war, zu dem er hätte reden, den er hätte streicheln und küssen können und der schön war.

Die Nachbarin

Ich weiß alles über meine Nachbarin. Sie bohrt manchmal mit dem Zeigefinger, mit dessen Hilfe sie tagsüber Kohlepapier zwischen gelbes und rosarotes Durchschlagpapier schiebt, in den Nasenlöchern, die dann schwarz bleiben. Sie arbeitet acht Stunden am Tag zwischen vier Betonwänden; oft löst sich der Nagel, an dem der Kalender mit den bunten Landschaftsansichten hängt; der Kalender fällt zu Boden und meine Nachbarin schlägt den Nagel wieder ein und hängt den Kalender vorsichtig auf. Manchmal schließt sie sich in der Toilette ein, um in ihr Gesicht zu spähen; dann drehen sich die Augen, die wie Fische hinter den dicken Brillengläsern schwimmen, auf den Rücken.

Ich beobachte meine Nachbarin nun schon seit 313 Tagen, überwache ihre Gedanken und verfolge ihre Schritte, da ich über sie ein Hörspiel schreiben will. Ich mache mir Notizen. Sie lebt mit ihrer Schildkröte allein, die ich aber nicht ins Spiel einbeziehen möchte; ich könnte allerdings jemandem eine Bemerkung über das grämliche Tier in den Mund legen, ihn zum Beispiel feststellen lassen, der Hals der Nachbarin gleiche dem Hals der Schildkröte. Obwohl meine Nachbarin ihr Haar geranienrot färbt, weiß ich, dass sie bald zu den Alten gehören wird; dann wird sie in eines der schwankenden Boote am Fluss kriechen und sich wegspülen lassen, und mich, da ich bald nicht mehr weiß, ob ich sie bin oder ob sie ich ist, soll man dann nicht suchen.

Ein Traum

Während Reto, Student der Rechtswissenschaft, einschläft, träumt er, er beuge sich hinaus, um den rechten Flügel des Vorfensters mit der Spitze des mittleren Fingers so weit als möglich zurückzustoßen, doch drückt der Wind die Scheibe immer wieder von der Hauswand weg, an welcher sich kein Haken zum Befestigen des Fensters befindet. Im Nu ist Retos schweißnasses Gesicht trocken; er atmet einige Male tief und flucht leise, da es ihm noch immer nicht gelungen ist, das Fenster offen zu lassen, damit der Wind die Wärme aus dem stickigen Zimmer blase – kaum tritt er zurück, klappt der gläserne Flügel schmetternd zu, als wolle er den Raum wie einen kranken, alten Leib schützen.

An der hinteren Wand des dunklen Hotelzimmers steht das Bett, auf dem gestern das Känguru Hedwig saß.

Reto hat das Känguru vor zwei Tagen unter rührenden Umständen kennengelernt – an Hedwigs Hochzeit, in einer jener Kirchen, deren Erbauer Gott für eine Art Käfer halten, den man in eine mit Luftlöchern versehene Schachtel sperren muss. Auch der Heiland in jenem grauen Kerker glich einem Insekt, und wohl aus diesem Grund brach die Braut in ein Weinen aus, das kein Ende nehmen wollte. Reto, der zwischen zwei Vorlesungen die neue Kirche besichtigen wollte und nun auf diese ungewöhnliche Art gestört wurde, fühlte sich verpflichtet, die Tür zu öffnen, um so der Hochzeitsge­sellschaft – die, was er passend fand, zum Teil ebenfalls aus Kängurus bestand – einen Ausweg zu zeigen: Kommt, hier draußen ist der Himmel; ein Papiertaschentuch rollt unter eine grüne Bank, ein Handschuh steckt hinter einem Fensterladen – da wird sich die Braut wieder erholen und lächeln, wenn sie Tramwagen sieht, die aussehen, wie man sich Tramwagen vorstellt; Kinder unter einem Sonnenschirm in einem Garten, die aussehen wie Kinder; der Sonnenschirm gleicht einem Sonnenschirm, und der Garten ist nicht mit dem Meer oder mit einem Ballon zu verwechseln. Aber die Hochzeitsgäste verstanden ihn nicht, und das Känguru schluchzte in immer grauenvollerer Verzweiflung, bis Reto es kurzerhand entführte. Hedwig besaß tatsächlich nur, was ihr Kleid betraf, Ähnlichkeit mit einer Braut im landesüblichen Sinn, sonst war sie Känguru mit allem, was zu diesem Tier gehört: Sie hatte starke Hinter- und kurze Vorderbeine, einen langen Stützschwanz und einen kleinen Kopf. Ihre Pupillen schoben sich von Zeit zu Zeit fast ganz unter die oberen Augenlider, so dass ihr Blick einer weißen Wolke glich. Reto fand ihre Angst verständlich, unterhaltsam und faszinierend und ahnte bald, dass es nichts gab, wovor sie sich nicht fürchtete: Der Mond erfüllte sie mit Schrecken, wenn er wie von roten Lippen umklammert war, und sie erschauerte beim Anblick eines Holzhäuschens, das aussah, als ob es mit viel Leim an eine große zerfallene Fabrik geklebt worden wäre. Angesichts eines Scheinwerfers in einem Kasernenhof begann sie zu zittern, und sie glaubte an Tauben, denen jemand die Flügel abgeschnitten hatte und die sich unter den Brücken versteckten.

Reto schließt das Fenster und wendet sich um. Die Finger der Nacht schieben sich schon den Wänden entlang – bald werden sie sich schließen, und Reto wird sich im Dunkel dieser Faust auf dem Bett ausstrecken. Er hat das Zimmer noch für diese Nacht gemietet und genießt gespannt und ein wenig furchtsam wie ein Kind die ungewohnte Umgebung. Er schüttelt einige Male unwirsch den Kopf, denn er glaubt Hedwig zu sehen, wie sie vom Bettrand hüpft, ihr weites, weißes Kleid zurechtzupft und ihn anlächelt. Ihr Lächeln ist wie eine Zusammenfassung, eine Art Abkürzung, wie ein Zeichen, das für sie und ihr Leben auf einer sonst leeren Seite steht.

Sie wurde nicht wie Reto in einem abgelegenen Haus am Rand eines schwarzen Waldes geboren; sie stammt aus einem jener Häuser, die sich wie ältliche Freundinnen irgendwo treffen und nun auf der Stelle festwachsen; mit tückischen, verhängten Blicken durchbohren sie jeden Fremdling, der es wagt, sich ihnen zu nähern, und mit lammfrommen, weißen Gesichtern und Blumen auf dem Hut grüßen sie ihn süß, doch plötzlich werden ihre Münder finster, fallen zu, schnellen wieder auf, fallen wieder zu – Versammlungen von solchen Häusern nennt man «Ortschaften», Reto fürchtet sie und ihre Bewohner.

Er lauscht, als ob im Heulen des Windes Worte verständlich würden – gestern noch spielten auf jenem flachen Dach zwei Knaben in roten Pullovern, doch heute wirkt das Haus wie eine umgekehrte Trommel; überall liest er das Zeichen für «Hedwig». Wenn es stimmt, dass wir vor Menschen und Tieren, die unser Mitleid erregen, zugleich Ekel empfinden – zwischen Reto und Hedwig war das anders: Sie rührte ihn, und er fühlte sich angesichts ihrer Schüchternheit und ihres seltsamen Äußeren stark und selbstlos. Ohne Angst vor den befremdeten Blicken der Passanten hatte er sie durch die Stadt geführt, ohne Unbehagen ein Hotelzimmer für sie gemietet, wo sie sich vorläufig vor ihrem Bräutigam verstecken konnte, einem Menschen, der Buser oder Schranz hieß – der Name war ihm entfallen. Obwohl dieser Bräutigam sich als «Forscher der Kängurus» ausgab, musste er ein gemeiner, gewöhnlicher Kerl sein, ohne Sinn für die körperlichen und seelischen Eigenarten dieser Tiere. Er hatte es jedoch verstanden, seinen wahren Charakter zu verstecken und Hedwigs Eltern und ihre Verwandten für sich zu begeistern. Heute Morgen, als Reto zu seiner Mutter gelaufen war, um ihr sein merkwürdiges Abenteuer zu erzählen, war Schranz oder Buser, von zwei Polizisten begleitet, im Hotel erschienen und hatte Hedwig als sein Eigentum mitgenommen, denn die Hochzeitsgäste hatten alle ihr Jawort gehört; zwar leise, vom Weinen entstellt, aber doch gültig.

Unschlüssig tritt Reto wieder zum Fenster; als erwarte er jemanden, presst er die Stirn gegen die heftig zitternde Scheibe. Ein schwarzer, hochgewachsener Baum dirigiert das Pfeifen des Windes; er beugt sich nach hinten, verwirft die Äste, neigt sich wieder nach vorn und schnellt zur Seite, während eine Laterne, die schon seit Tagen nicht mehr leuchtet, wie ein im Gebet versunkener Einsiedler vor dem Geburtshaus eines vergessenen Dichters steht. Die Schimpfworte eines Betrunkenen wollen von der Straße heraufdringen, doch ist es, als ob sie ins Wasser fielen; der Wind spült sie weg. Nun hüpft Hedwig um die Straßenecke; ihr Brautkleid schimmert durch das lärmende, tanzende Dunkel, in ihrem Beutel trägt sie ein kleines Känguru. Sie ruft: «Reto, Reto, Reto» und blickt zu seinem Fenster auf. Deutlich sieht er die kräftigen Hinterbeine und die kurzen Ärmchen; sie winkt mit einer langen Stange, mit welcher sie gewiss das Fenster einschlagen möchte. Er kauert nieder und legt die Arme über seinen Kopf.

Verwundert spürt er die Angst und den Ekel, die wie ein ätzender Brei über seinen Körper fließen. Durch ein Klopfen an der Tür schreckt Reto vom Schlaf auf; die Stimme seiner Mutter bleibt nicht sofort in seinem Ohr haften, sondern rollt wie auf einer weiten Ebene an ihm vorbei, doch schließlich merkt er, dass Worte ins Zimmer gerufen werden, die ihm gelten: «Hedwig ist am Telefon!» Er setzt sich im Bett auf; die Wände sind sonnengelb, ein schwarzer Jazzpianist grinst neben einem fleckigen Wandschoner, über dem Ar­beitstisch hängt ein Kruzifix mit einem Heiland, dünn wie ein Insekt. Da weiß er es plötzlich: Morgen, Samstag, findet seine Hochzeit mit Hedwig, der kränklichen Tochter des Tierarztes Jakob Knüsel, statt. Er springt aus dem Bett, wo er ein Nachmittagsschläfchen gehalten hat, und bemüht sich, in Gedanken seine Füße zu begleiten, die auf eine ungewöhnliche Weise vielleicht schwebend in den Korridor gelangen.

Aus der halboffenen Küchentür strömt ein Duft von Kaffee und Apfelkuchen, auf dem Telefonbuch steht das kleine rote Feuerwehrauto seines Bruders. Während er – schwankend, als ob er Fieber hätte – zum Hörer greift, hat er das deutliche Empfinden, ein Känguru wünsche ihn zu sprechen; nur zögernd nennt er seinen Namen.

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