Kitabı oku: «Fern von hier», sayfa 3

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Catalina

Letzte Woche wurde Catalina dreizehn Jahre alt und bekam von Onkel Manuel, der eigentlich kein richtiger Onkel ist, ein gebrauchtes Radio geschenkt. Ein Radio hat sie sich schon lange gewünscht, weil ihre Freundin Maria auch eines besitzt. Wenn Catalina auf die rote Taste drückt, strömt Musik aus den Büschen, unter den Steinen und zwischen den Gräsern hervor. Das Radio steht draußen auf einem umgekehrten Blumentopf. Nun kauert Catalina neben der offenen Tür auf dem schmutzigen Teppich und schnuppert an ihren Knien; sie sind braunrosa und duften nach Schweiß, Seife und Mandeln. Die Mutter ist weg; sie macht Einkäufe und wird dann im Dorf mit Touristen tanzen; sie ist als gute Tänzerin bekannt. Schon oft fragte sie Catalina: «Willst du nicht mitkommen?», doch Catalina bleibt lieber im Haus und träumt. Im Garten nistet ein alter Vogel, und der Himmel ist am späten Nachmittag wie mit Ruß verschmiertes Wachs; aufrecht feiern die Agaven ihr Sterben. Eine unbekannte Katze mustert den kalten Gasofen, auf dem eine zusammengeknüllte Wolldecke liegt, dann geht sie davon und betupft mit dem Kinn den Boden; ein weißer Fleck schimmert einen Augenblick bei der Gartenmauer, dann ist Catalina wieder allein.

Die Mutter sagt: «Ich brauche Menschen; solche, die wie Mauern um mich stehen, und andere, die wie offene Türen sind.» Catalina braucht nur sich; Menschen sind fremd und machen Angst. Die getrocknete Muränenhaut über der Tür klappert im Wind und klingelt leise; Onkel Manuel hat ein Glöckchen an ihr befestigt. Onkel Manuel hat ein kleines und ein großes Ohr; er bedeutet für Catalina Härte und eine wilde, rohe Lustigkeit. Manchmal sehnt sie sich nach Weichheit und Zärtlichkeit; besonders dann, wenn unverhofft Traurigkeit über sie fällt wie eine finstere Masse, in der sie zu ersticken droht. Immer waren nur ältere Menschen («vom Leben gezeichnete», wie ihre Freundin Maria sich ausdrückt) um Catalina; nie war sie mit unbeschwerten, jüngeren Spielgefähr­ten zusammen. Ihr Bruder und ihre Schwester sind schon vor einiger Zeit wieder in die Stadt im Norden zurückgereist, wo sie arbeiten; sie haben der Mutter ein wenig Geld geschickt, doch die Mutter brauchte sofort ein neues Kleid, einen Hut und anderes mehr; falls Mutter keinen Liebhaber findet, müssen auch sie bald abreisen; es ist nicht mehr viel Geld da. Die Mutter arbeitet nicht und Catalina besucht keine Schule: «Sie ist viel zu dumm dazu», erklärt die Mutter.

Die Antenne des Radios besteht aus einem rostigen Stück Eisen, das an einem Draht befestigt ist, den Onkel Manuel durch den Garten zog und am Balkon des Hauses und an einer Pinie festband.

Die Thymianbüsche leuchten wie violette Monde. «Der Rosmarinstrauch hat Geburtstag», denkt Catalina, «er duftet ganz allein und freut sich.»

Auf dem flachen Dach steht eine mit feuchten Tüchern umwickelte Wasserflasche – eine Idee von Onkel Manuel; das Wasser werde so eiskalt, versicherte er immer wieder, doch kälter als kühl wurde es bis jetzt nicht.

Catalina knipst das Radio aus und legt sich auf ihre mit einem weißen Leintuch bedeckte Matratze; ein richtiges Bett hat sie nicht. Die Mutter bemüht sich in der Stadtwohnung im Norden und hier in ihrem Sommerhaus, das sie von ihren Eltern geerbt hat, einen gepflegten Haushalt vorzutäuschen, doch Catalina weiß: Wenn heute Nacht oder morgen Onkel Manuel wiederkommt – die Mutter rechnet fest damit –, läuft er mit seinen Schuhen über das Leintuch, klopft die Asche auf den Teppich, wirft die Zigarettenstummel auf den Boden und schüttet den Wein auf das Tischtuch. Onkel Manuel kommt und geht, wie es ihm passt. Er gibt der Mutter nie Geld, das hat Catalina herausgefunden, nur Geschenke; aber die Mutter gibt ihm Geld, wenn sie nicht alles für sich verbraucht hat. Wenn sie keines mehr hat, wird Onkel Manuel sehr böse; dann weint die Mutter. Catalina ist sicher, dass sie ihn liebt; nur ihn und keinen der andern Männer.

«Lieben heißt besitzen wollen», sagt Catalinas Mutter.

Catalina denkt an das Kätzchen – weshalb hat sie es laufen lassen? Weshalb hat sie nicht eine Weile mit diesem tänzelnden Geschöpf in seinem hellen Samtkleid gespielt, es liebkost, über seine Barthaare, die der Wind streichelte, gelacht? So ist Catalina; letztes Jahr hat die Mutter ihre einzige Spielgefährtin aus der Stadt hierher in die Ferien eingeladen; die schöne, große Maria, von der sie weiß, dass die dicke Ca­talina sie liebt. Aber weil Catalina sie liebt, wollte sie sich fernhalten; schon nach kurzer Zeit war Maria verwirrt und schmollend abgereist.

Der Abend ist hellgrün und schaukelt den ertrinkenden Mond. Der Wind bürstet die Pinien; wenn Catalina jeweils die Musik laut spielen lässt, drehen sie sich hin und her und möchten mit den Füßen stampfen, doch der Fels hält sie fest. Am Tag ist der Himmel wie ein heißer Betonboden, über den die Flugzeuge rasen, und im Garten ragen überall tonlos schreiende Felsengesichter aus der trockenen Erde – selbst im leeren Schweinestall.

Catalina dreht sich auf den Bauch. Die Matratze ist dünn und uneben; Catalina erwacht jeden Morgen, als ob sie im Traum verprügelt worden wäre. Dann sagt sie zu ihrer Mutter: «Eigentlich habe ich nicht geschlafen; die Sterne stachen.» Die Mutter schüttelt den Kopf und denkt, Catalina sei nicht nur beschränkt, sondern auch wunderlich.

Ein Motorrad stöhnt auf und die Uhr ist stehengeblieben. Catalina will schlafen; der geplättelte Boden ist nah beim Gesicht und steigt, bis er die Wand berührt. Die gespaltene Kerzenflamme schlängelt, ohne sich fortreißen zu können – ihre Nahrung ist der Docht; sie braucht ihn, um zu leben, so wie die Mutter Onkel Manuel oder einen anderen Mann braucht und wie Catalina die Mutter braucht – die Frau, die für sie Butterbrote streicht und ein Taschentuch leiht, wenn Catalina weint.

Catalina liegt wie ein Tier; sie hat Arme und Beine von sich gestreckt, die Stirn in Falten gelegt und die untere Gesichtshälfte im Kissen vergraben. Die Matratze ist ihr Planet, das Haus ihre Welt; sie kreist. Sie trägt eine Pyjamajacke ihres verstorbenen Vaters und hat ihr Gesicht geschminkt; morgen wird die Mutter schimpfen, weil sie den verschmierten Kis­senüberzug waschen muss. Immer stiehlt Catalina Lippenstift, Puder, Lidschatten und Wimperntusche aus Mutters Toilettentäschchen, setzt sich vor den halbblinden Spiegel in der Küche und macht sich das Gesicht, von dem sie denkt, dass ein Mann es rauben würde, während sie schläft oder vorgibt zu schlafen. Schenken wird sie sich nie, aber stehlen lassen. Ihre Mutter verkauft sich. Catalina denkt, was man stehle, liebe man mehr, als was man sich schenken lasse oder kaufe. Sie möchte einem Mann gehören, der sie bei sich versteckt und sie nicht zu andern Männern schickt, wie Onkel Manuel dies mit der Mutter tut. Für ihn würde sie tun, was er von ihr verlangt: Purzelbäume schlagen oder Kopfstehen – das kann sie lernen, so plump sie auch ist. Und waschen und putzen und bügeln und vielleicht Kinder und Katzen füttern und streicheln. Was verlangt ein Mann mehr von einer Frau? Sie weiß es, aber sie will nicht daran denken. Sie wird warten; sie wird immerzu auf dieser Matratze liegen mit ihrem runden, bunten Gesicht. Sie denkt an Onkel Manuel, der ihr einmal ein Fläschchen Parfüm mitbrachte und mit einem unschönen Auflachen zur Mutter, deren Mund plötzlich ganz klein und faltig geworden war, sagte: «Sie wird besser als du; du wirst schon sehen, du alte Ziege.»

Es ist so still, als ob ein Würger über das Land geschlichen wäre und die Menschen und Tiere erdrosselt hätte. Sein Schatten ist so riesengroß, dass er sogar den obersten, letzten Himmel verdunkelt. Catalina hört seinen leisen Schritt; er tritt ins Haus. Sie schläft; eine Fliege sitzt auf ihrem festen, dunkelbraunen Oberschenkel. Er wird ihr Gesicht rauben und es in die tiefen Träume der Menschen und Tiere tauchen.

Der Brief

Wenn Hans Sauser, Damencoiffeur in einem nüchternen «Salon» mit Neonlicht, das auf seinen schon leicht kahlen Schädel pocht und in die Augäpfel beißt, in seinem Wagen nach Hause fährt, denkt er an den Brief, den er seiner schönen, fernen Braut schreiben wird. Jede Nacht, während der Himmel ein funkelndes Rad schlägt, schreibt er den Brief und zerreißt ihn dann. Heute Abend beschreibt er, wie er langes Frauenhaar wäscht und in einem summenden Ofen bäckt. Die Haut der Frau rötet sich. Sauser erzählt, bedächtig und mit runden Buchstaben, wie die Haut sich unter Einwirkung der Hitze vom Gesicht löst und er sie in Fetzen abzieht; eine nackte Fleischkugel beugt sich nun über die illustrierte Zeitschrift und liest, glücklich lächelnd, über Prinzen, Königinnen und Filmstars. Sauser zerreißt den Brief um Mitternacht und steht vom Tisch auf. Er fühlt sich wie ein undichtes Gefäß, dessen Inhalt langsam und stetig ausläuft. Seine Gedanken treiben nach allen Seiten, so dass er fürchtet, plötzlich – wie ein leeres Paket ohne Adresse und ohne Absender – als Hindernis übrigzubleiben. Er wünscht, seine Verlobte möge ihm ausweichen, ihn überhüpfen oder zur Seite schieben.

Er zieht sich mit trägen, aber exakten Bewegungen aus und begibt sich zu Bett. Vor dem Einschlafen denkt er zuversichtlich an den Sonntagnachmittag; da wird er Mutter in der psychiatrischen Klinik besuchen, wo sie sich zusehends verändert, sich in ein fremdes, kleines Mädchen verwandelt, das er kennenlernen möchte. Es ist, als sänken die harten Züge auf ihrem Gesicht durch eine Erschütterung ein, und aus den Wangen leuchten Blumen. Als Kind konnte Sauser nicht mit Mutter sprechen und sie redete nie zu ihm. Nun spricht sie in sonderbar verstellter Sprache; nicht, als verstecke sie etwas, sondern, als decke sie etwas auf, das niemand erfahren kann. Es ist, als führe sie ihn an der Hand durch ein großes Haus ohne Dach; der Himmel fällt mit seinen hellen Welten herein. Im weiten Park sind Netze gespannt, in denen sich seine Kindheit verfangen hat; Sauser erkennt sie aber noch nicht.

Der ungewöhnliche Junge und das besondere Mädchen

Wenn der Abend sich hinter den Tannen aufschichtete, die nasse, spiegelnde Eisfläche weiß und hart wurde und die Schlittschuhläufer wie Schwalben umherflitzten, wunderte ich mich, dass sie nie aneinanderstießen. Ich lauschte ihren hohen, spitzen Schreien und beobachtete die kleinen Kinder, die wie junge Bären zu tanzen anhoben. Rolf zog seine Kreise immer noch sorgfältig und sein Gesicht blieb unnahbar. Ich selber wagte mich nie aufs Eis; ich hinkte wegen einer Schwäche in den Gelenken von Tag zu Tag stärker. Ich schämte mich deshalb, denn ich wäre gerne gewandt aufgetreten wie meine Freundin, die ich bewunderte – oder wie Rolf.

Ich sah Rolf auch, wenn er am Montagabend mit einer schwarzen, henkellosen Tasche unter dem Arm in die Ballettschule ging. Vor der Tür hockten die Bühnenarbeiter, rauchend, schwatzend oder lesend; sie musterten die kleinen Mädchen, und wenn sie unter ihnen den streng blickenden Jungen sahen, lachten sie und grüßten spöttisch; «Ballettmaus» nannten sie ihn. Sie verstummten, wenn ein Schauspieler die wenigen Stufen mit einem federnden Sprung hinter sich brachte, in gerader Haltung und mit gesammeltem Ausdruck die Ballettschülerinnen im Korridor überholte und hinter einer Tür verschwand.

Im Theater wurde irgendwo abgehackt Klavier gespielt; mir schien, die Töne flögen wie die Zacken eines Kammes auf die Straße oder sie würden ausgespuckt wie Zähne – und mir böswillig an den Kopf gespickt. Ich zählte vierzehn Jahre wie Rolf und besuchte am Montag einen Abendkurs der Kunstgewerbeschule, wo ich mich in einem Zeichensaal abmühte, einen Hobel oder Schuh auf ein Papier zu stricheln; ohne Gummi, mit viel Ausdruck und einigem Temperament. Ich kannte niemanden und verließ den Saal nach der Stunde beinah fluchtartig; auf der Traminsel wartete Rolf wie ich, statt der Zeichenmappe die Stofftasche unter dem Arm – auch er war allein, hatte seinen Kurs vermutlich ebenfalls mit Fleiß durchgestanden und wollte nun nach Hause, wo seine Mutter vielleicht für den strebsamen Sohn den Kakao warmgestellt hatte.

Eine Strähne seines rötlichen Haares lag über der farblosen Wange. Noch nie hatte ich Rolf sprechen gehört, nie ihn lächeln gesehen. Was dachte er, allein auf dieser Insel im abendlichen Verkehr und wartend auf ein Schiff, das ihn sicher durch alle Gefahren, den Lärm und die hin- und herzuckenden Lichter nach Hause führen sollte?

Klopfte sein Herz wie meines angesichts der fremden Gesichter und der Nacht, die überall davor und dazwischen stand, als fordere sie Rücksicht und Nachsicht, Geduld und Mut? (Eigenschaften, an die man in der Helle des Tages nicht dachte, da man jedes Ding klar zu erkennen glaubte; als sei man sicher, dass Licht ein selbstverständlicher, natürlicher Rahmen und Hintergrund sei für alles und alles erkläre, bloßlege und anbiete. Damals kamen mir zum ersten Mal Zweifel – vielleicht sah und fühlte man in der Dunkelheit klarer, richtiger, direkter? Meine Sinne waren überwach; ich reagierte auf die kleinste Bewegung Rolfs, betrachtete zum ersten Mal seine Hand, die von Scheinwerfern bestrahlt und von huschenden Reklamelichtern angeleuchtet wurde.)

Wenn ich einige Zeit später im Bett lag und das Licht schnell ausknipste, da ich plötzlich gerne Abschied nahm von dem allzu Sichtbaren, Vordergründigen, von den störenden, ablenkenden, zu offensichtlich konstruierten, zu zweckbe­wussten Dingen, ließ ich mich fallen – ich fiel Stunde um Stunde zurück und wurde immer wacher dabei; Farben und Düfte erregten mich, die ich nie bewusst wahrgenommen hatte, und dabei wusste ich, dass ich mit den Augen Rolfs sah und mit seiner Nase roch und dass er mich schon längst durchschaut hatte und sich nur stumm und steif stellte, um mich nicht zu erschrecken. Dann nahm ich mir vor, ihn das nächste Mal im Restaurant der Kunsteisbahn, wo er vor einem Teller Pommes frites und einem Glas Coca saß, oder auf der Traminsel anzusprechen.

Manchmal gebärdet sich der Oktober, als sei er ein Bote des Frühlings; er lässt den Föhn tanzen und Rosawolken über den Himmel streuen, dann werden die Menschen unruhig, küssen zur Unzeit den Falschen oder stürzen sich von einer Brücke; manche verunglücken aus lauter Verwirrung oder zünden ein Haus an. An einem solchen Tag bin ich immer auf der Hut und bemühe mich, am Morgen nicht unbändig zu lachen, sonst weine ich am Abend. Damals ging Rolf vorbei, und da fiel mir ein, dass ich mir vorgenommen hatte, ihn an­zusprechen. Ich wollte ihm sagen, er sei anders als die gewöhnlichen Jungen, wie auch ich mich als besonderes Mädchen fühlte, das von niemandem verstanden wurde. Meine Schulkameradinnen zogen übermütige Buben den stillen, braven Schülern vor; mich aber interessierte Rolf, weil er mir geheimnisvoll schien. Ich ärgerte mich, weil ich eine ziemlich altmodische Windjacke trug, die meiner älteren Schwester gehört hatte, doch dann trat ich ihm in den Weg. Seine Nase war vom Wind gerötet, seine moosfarbenen Pupillen sahen durch mich hindurch. Ich grüßte hastig, verzog meine plötzlich starren Lippen zu einem Lächeln, drehte mich um, hinkte an seine Seite und bliebt dort plappernd, schnaufend und immer verlegener werdend, denn er schritt weiterhin wacker aus, ohne zu nicken oder mich wegzujagen oder auch nur anzusehen. Er hatte Brot eingekauft, das in ein weißes Papier gewickelt war, und trug das gleiche schäbige Jäckchen wie immer. Seine von Ballett und Eislauf stark gewordenen Beine steckten in zu großen Schuhen. Was hatte ich eben zu ihm ge­sagt? Ich wusste es nicht mehr, nahm aber an, ich hätte mich vorgestellt mit Namen, Alter, Klasse, Beruf des Vaters, Adresse und Referenzen, wie es sich gehörte. Wir waren doch keine kleinen Kinder mehr, die im Park Fangen spielten und nach zwei oder drei Stunden begeistert auseinandergingen, ohne den Namen des Spielkameraden erfragt zu haben. Kleine Kinder interessieren sich für Nebensächlichkeiten wie Namen, Beruf des Vaters, Wohnquartier und Schultyp nicht; es ist ihnen gleichgültig, aus welchem Milieu ihre Spielge­fährten stammen; nur den Menschen an sich stellen sie auf die Probe und fällen über ihn ein Urteil, das nicht gültig bleiben muss.

Diesem glücklichen Alter war ich seit einigen Jahren entwachsen, und Rolfs Schweigen verstörte mich. Ich lobte mit flach gewordener Stimme seine exakt gezogenen Kreise auf dem Eis und erkundigte mich, welche Klasse des Ballettkurses er besuchte; wollte er Tänzer werden? Ich begann zu schwitzen – interessierte es ihn denn gar nicht, was ich tat? Welchen Kurs ich besuchte? Welchen Beruf ich erlernen wollte? Welche Interessen ich hatte? Wut ergriff mich und Mitleid mit mir selbst, mit meinem mutigen, verkannten Ich, meiner Offenherzigkeit diesem hochmütigen Jungen gegenüber, hinter dessen Schweigen sich vielleicht nur Dummheit und Leere verbargen. Vermutlich besaß er kein Hundertstel meines Gefühls und hegte nur banale Gedanken; ich war nun fast sicher, dass er noch nie ein Buch gelesen hatte, von Psychologie und Jugendproblemen einen Dreck verstand und hartherzig und eingebildet war.

Der Oktober, der den Frühling vorwegnahm, verdross mich; all die Leute, die ihre Mäntel aufknöpften, kicherten und kopflos und mit glänzenden Augen über die Straßen liefen, um unnützes Zeug einzukaufen oder in der Erwar­tung, auf dem andern Trottoir sei das Licht noch lieblicher, noch süßer und weicher. Es war gewiss faltenlos und ohne Narben wie eine junge Haut, die über den Himmel gespannt war, aber auch dünn und zart wie eine solche; bald würde es zerreißen und die klare Nacht würde herunterfallen und die schönen Gefühle zerschlagen.

Plötzlich strebte Rolf von mir weg; mit offenem Mund blieb ich stehen und sah, dass er geradewegs auf einen Herrn zulief; es war der Herr, der seit einigen Tagen auf den Plakaten des Theaters seine erstaunlich schönen Zähne bleckte. Mit der einen Hand schüttelte er nun Rolfs Hand, mit der andern tätschelte er seinen Rücken – mit einer dritten hätte er ihm das Brot abgenommen, eine vierte ihm auf den Kopf gelegt und ihn mit der fünften an sich gedrückt … «Wenn er ihn nur nicht noch ableckt», dachte ich und machte auf dem Absatz kehrt.

Nun lag über der Straße ein Schatten und die Leute gingen gebückt, so dass ich nur ihre Scheitel und Hüte sah; ihre Zuversicht schien erloschen – ob sie nicht am liebsten geweint hätten wie kleine Kinder, die man an einem fremden Ort vergessen hat? Papiere, Tramkarten und Zigarettenschachteln flatterten um die Ecke. Meine Beine waren schwach wie nachlässig geknetetes und geformtes Plastilin; ich kam kaum vom Fleck und hätte mich am liebsten an den Straßenrand gesetzt. Ich hinkte stärker als vorher und meine Schulmappe war schwerer als die Aktentaschen der Herren, die in die Straßenbahnen sprangen. Sicher war Rolf ein ungewöhnlicher Junge; er würde ein berühmter Tänzer, ich aber endete als Krüppel. Mein Hals schien anzuschwellen von Tränen und ich sah die Welt auf dem Grund eines tiefen Wassers, zitternd, verschwommen und unscharf; ich mochte ihr gar nicht mehr angehören. Heute Abend im Bett würde ich so lange weinen, bis der Schlaf mich in tausend Decken gewickelt hatte und davontrug – wenn er mich wieder auswickelte, war ich in einer farbigeren, glanzvolleren Welt, in der den Kranken Flügel wuchsen und wo sie mit lächelnder Nachsicht empfangen wurden von den Schmetterlingen und Engeln, die sich manchmal auch in jenen Gegenden aufhielten.

Französischstunden

Die Herbstblätter vollführen auf dem Trottoir einen verrückten Reigen der Greise. Andreas weicht ihnen aus und geht weiter die lange Straße entlang, an deren Ende er wohnt. Im Vorgärtchen kleben vergilbte Blätter wie wertlose Briefmarken, ein Zigarettenstummel rollt über die unterste Stufe der Treppe, und ein älteres, angetrunkenes Ehepaar schwankt über den Platz, aus dessen Mitte eine verkümmerte Linde ragt. Das Zifferblatt einer Uhr blickt aus einem geöffneten Fenster und erinnert Andreas an seine Kindheit; er befand sich immer auf der Flucht: auf der Flucht vor dem Stundenruf der Standuhr mit dem pflichtbewussten Gesicht, das dem Gesicht seines Vaters ähnlich war. Im Uhrenbauch sah er eine kreisrunde Scheibe, durch die er jeweils neugierig starrte und wo ein Messingherz hin- und herschwang und an zwei Schnüren andere, abscheuliche Organe hingen.

Andreas’ Herz benimmt sich auf eine peinliche Art und Weise anders, als man es von einem korrekten Herzen erwarten darf; er schämt sich seiner, und wenn er es schont, seinetwegen den Kaffeekonsum einschränkt und sich das Rauchen verbietet, ergreift ihn Unbehagen; er hasst und liebt sein Herz in einem, und sein verschwollenes Gesicht nimmt dabei einen strengen Ausdruck an; im Spiegel sieht er, dass er seinem Vater gleicht, und spürt ein ertrinkendes Untier, das seine Luftröhre umklammert und sich mit heftigen Klimmzügen nach oben arbeiten will; immer schluckt er es hinunter.

Andreas schließt die Haustür auf und tritt in den Korridor. Sein Zimmer liegt zu ebener Erde; er hat die Wände wasserblau gestrichen, und in einem Blumenständer hocken Blattpflan­zen, die das Aussehen von erstarrten Riesenheu­schre­cken haben. Statt des üblichen Vorhangs verhüllt ein dunkelblaues Tuch aus zerschlissenem Samt das große Bogenfenster. Die Möbel sind hässlich und billig. Neben dem Bett steht der Plattenspieler. Andreas bevorzugt «tropfende» Musik, wie er sie bei sich nennt: keine Blas- und Streichinstrumente, sondern Harfe, Gitarre und Cembalo. Musik hüllt ihn in Regenschauer, plätschert in Gossen, sprudelt in Bechern, strömt durch resedagrüne Täler, singt in Dachtraufen. Dem Gasofen des Zimmers ist ein immerwährender Pfeifton eigen, so hoch, dass er durchs Ohr bis zur Schädeldecke sticht und sie durchbohren will. Andreas hat sich an den Ofen gewöhnt; er überhört und übersieht ihn beinah, begegnet überhaupt der Außenwelt übertrieben höflich und weicht ihr nach Möglichkeit aus. Wenn sie ihn zu stark beeindruckt oder erschreckt, scheint sein Inneres einstürzen zu wollen.

Andreas war Lehrer, doch da die Kinder ihm jeden Tag fremder erschienen – sie veränderten sich jeweils über Nacht; selbst ihre Sprache wurde unverständlich, und sie missverstanden auch ihn öfter –, atmete er auf, als ihm gekündigt wurde. Er erteilt nun jeden zweiten Abend einem Fräulein, das er im geheimen «Blattlaus» nennt, da es sich mit Vorliebe grün kleidet, eine Französischstunde; es hat ein neugierig spähendes Gesicht und einen Körper, der nur mit dem Wort «dumm» treffend charakterisiert werden kann; er ist nicht nur plump, sondern wirkt steif und gefühllos.

In einer Vase auf dem Tisch befindet sich ein Geschenk der Blattlaus: Plastiktulpen. Als trüge sie ein in eine Decke gewickeltes, frierendes Kind, versuchte sie das zu kleine Sei­denpapier während des Gehens durch den weißen Novembernebel immer wieder über den leblosen, grellfarbenen Blumenstrauß zu ziehen.

Andreas knipst die Ständerlampe an, lässt den Rollladen herunter, zieht die Schuhe aus und stellt sich unter die Gipsscheibe, die, in der Mitte der Zimmerdecke, eine Sonne darstellt. Er wartet, dass Segen auf ihn fiele wie Manna, wie der Heilige Geist, wie Schneeflocken, wie Samen, den der Wind in die sich öffnende Erde streut. Bald wird die Hausglocke schrillen, und die Blattlaus wird ihren stumpfen, fremden Körper in seine Einsamkeit schieben und sich am Tisch nie­derlassen und dort wie die Plastiktulpen thronen. Während sie französische Sätze herunterleiert, fließen die wasserblauen Wände auseinander, die Blattpflanzen, die sich vor der Blattlaus fürchten, richten sich auf, schlenkern ihre langen Arme und Beine und galoppieren davon auf einem schmalen, weißen Weg zwischen den Wassern.

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