Kitabı oku: «Fern von hier», sayfa 8

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Das Kind

Manchmal rede ich mit dem Kind, es ist ein kleines Mädchen, doch ich kann nicht beurteilen, ob es mich ernst nimmt. Heute ist es als Clown bemalt; seine kleine Nase leuchtet rot, das Kinn ist weiß und der Mund mit roten Strichen verbrei­tert, so dass es zu lachen scheint. Es hat sein Haar unter einer Mütze versteckt und trippelt neben seiner Mutter um den runden Weiher im Garten. Ich höre, dass es fragt: «Mama, wo ist das Unglück?» Sieht es denn nicht, dass der Hagel die Bäume nicht verschont hat? Zweige und Blätter und verschie­dene bohnen- und raupenförmige Früchte, die man nicht es­sen kann, liegen am Boden. Die Mutter klettert über einen großen, abgebrochenen Ast, aber das Kind will nicht klettern; es bleibt stehen und streckt beide Arme in die Luft.

Ich sitze auf dem Sims am offenen Küchenfenster. Neben mir am schwarzen Brett hängen die Öffnungszeiten des Krämerladens und der Post, auch die Zeiten für den Gottesdienst sind angeschlagen, obwohl niemand unserer Wohngemeinschaft die Kirche besucht. Wir sind Randfiguren, Städter, die sich in diesem Dorf zusammengeschlossen haben. Durch die Anwesenheit des Kindes gibt es so etwas wie einen Alltag. Kürzlich hat das Kind einen Indianer gezeichnet und an die Wand in der Küche geheftet. Auch ein kleines, rotes Haus in einem großen, durchsichtigen Haus hat es gemalt, ein Motiv, das ich noch nie gesehen habe. Die Enten im Garten vermehren sich; das Kind zählt die Jungen. Ohne das Kind wären wir nur eine Siedlung von Enten, die von ein paar Menschen betreut werden. Wir schreiben phantasievolle Namen, die das Kind für die täglichen Speisen erfindet, auf einen Zettel, den wir am Schwarzen Brett befestigen. Das Kind enttäuscht uns nie, weil es sich keinen Augenblick lang vor uns verstecken will; es greift uns offen an.

Ich habe den Eindruck, es verstehe uns gut, aber wir sind ständig erschöpft; trotzdem führe ich ein Tagebuch und schreibe in den Nächten schamvoll Satz um Satz.

Heute Abend ist die Mutter des Kindes mit den andern ins Dorf gegangen, um in einer Gartenwirtschaft etwas zu trinken. Ich bleibe zu Hause und sitze vor dem Fernseher; plötzlich geht das Kind leise durchs Zimmer und stellt den Apparat ab; das andere Licht und das fremde Geräusch waren ihm vielleicht unangenehm. Ich erhebe mich, nehme es an der Hand und führe es in den Garten. Wir setzen uns auf zwei Stühle, die beim Weiher stehen. Das Wasser ist dunkelgrün mit einem Lichtstreifen; es zittert. Dort, wo eine Ente taucht, bildet sich ein kleiner, ein größerer, ein ganz großer Ring. Ich erzähle, dass ein alter Mann im Altersheim, in dem ich arbeite, immer in einem Kleiderkasten Lift fuhr, bis ich ein Schild mit dem Hinweis «Lift defekt» an der Kastentür befestigte. Das Kind lacht nicht. Der Himmel fließt schnell und kommt uns näher mit seinen schwarzen Vögeln. Ich denke an den Traum, den ich in der vergangenen Nacht hatte: Das Kind schwebte als Schatten durch einen langen Korridor, verschwand in Türen, war aber immer wieder vor mir, leicht, fast nicht sichtbar. Ich denke schon seit einiger Zeit daran, dem Kind ein Geschenk zu kaufen. Es ist nicht so, dass ich es freundlich gegen mich stimmen möchte, aber an manchen Tagen ist der Drang, ihm etwas zu schenken, groß.

Das Ungeborene

Es regnet schon wochenlang nicht mehr; der Himmel scheint mit etwas schwanger zu gehen: mit einer geheimen Glut. Die Geburt zögert sich hinaus; schrecklich wird die große Glut sein, die der Himmel aus sich herausstoßen, von sich werfen, auf die verdorrte Erde schleudern wird.

Astrids Betäubung gleicht der Verwirrung der Tiere, die kein Wasser finden; der Schwindel, der wie Nebel ihren Kopf umhüllt, der ihren Blick trübt, ihn angestrengt und dunkel erscheinen lässt, verwirrt auch ihre Gedanken. Nur zögernd überschreitet sie jeden Tag mit dem Einkaufsnetz die staubige, im Sonnenlicht schwankende Straße. Alles in der Nähe löst sich in glühenden Wellen auf; nur was in der Weite, in der Ferne wie Signale hingestellt ist – eine weißgestrichene Holzveranda, ein runder Baum mit kühlen Schattennestern –, kann sich den müden Augen mitteilen. Astrid ist beinah blind.

Wenn sie – geschickt tastend – im Haushalt irgendwo anstößt, weil sich manche Gegenstände nicht am erwarteten Ort befinden, und ein mit frisch gewaschenem Salat gefülltes Sieb zu Boden fällt, schreit ihre Schwester Fanny. Astrid hat sich in den langen Jahren, die sie bei Fanny lebt, an die Ecken gewöhnt; ihr Fuß kennt die Schwellen, ihre Hände finden das Besteck in der Schublade, das Obst auf der Fruchtschale, die frischen Servietten im Kasten.

Die Wohnung liegt in goldbraunem Dämmerlicht; die Rollläden sind bis auf einen Spalt heruntergelassen, die Fenster geöffnet. Jeden Morgen um halb sieben bereitet Astrid für sich und Fanny, die arbeiten muss, den Tee. Es ist für sie eine kleine Genugtuung, eine kindische Rache, Fannys Tasse mit dem Teebeutel links auf den Küchentisch zu stellen. Während sie das kochendheiße Wasser zuerst in ihre eigene, auf der rechten Seite stehende Tasse gießt, sagt sie, jedes Wort laut betonend: «Zuerst für mich», und dann, fast erschrocken über ihre Vermessenheit, beinah mit schlechtem Gewissen: «Nachher für Fanny.»

Gestern Nacht hat es sacht geregnet; die schon wieder trockenen Bäume in den Gärten teilen sich das Ereignis lispelnd mit, und Fannys Haar, das dem widerspenstigen Haar junger Mädchen gleicht, ist wild und knistert. Fanny steht «mitten im Leben». Fanny braucht keine Armbanduhr, sie weiß Bescheid, während Astrid immer mühsam das Datum der Zeitung, die sie jeden Morgen aus dem Briefkasten nimmt, liest. Auch der Wetterbericht erregt ihr Interesse, doch sind ihre Augen zu schwach, um ihn zu entziffern, und ein Radio besitzt Fanny nicht. Ganz ohne Besitz aber ist Fanny nicht. Ihr gehört sogar eine Violine, der sie manchmal quäkende Töne entlockt, um «in der Übung zu bleiben». Astrid besitzt nichts, oder beinah nichts; ein Tagebuch aus ihrer Mädchenzeit und einige andere Bücher, die sie nicht mehr lesen kann und die unter den vielen Büchern Fannys versteckt sind.

Der Himmel hat seine Glut irgendwo verschenkt, und der Sommer nimmt seinen Fortgang. An den Nachmittagen, während Astrid mit steifem Rücken auf einem Stuhl in der geradezu leichtsinnig großen, alten Wohnung sitzt, denkt sie sich für ein ungeborenes Kind Namen aus wie eine schwangere Frau: «Norbert, wenn es ein Knabe ist; für ein Mädchen ist Annette ganz hübsch.» Das Kind wäre ihr Besitz, den sie nicht mit Fanny teilte. Wie eine jener Eingeborenen, die sie früher in Filmen oder in Missionsheftchen sah, bände sie es an sich, trüge es immer auf dem Rücken oder auf der Brust und schenkte ihm Atem und Seele und Leben, Sekunde für Sekunde; sein Duft und sein Blühen gäbe ihr Freude. Kein Wind könnte es peitschen, keiner zerpflücken; sie lebte mit ihm in ihrem eigenen Kreis, um den das Schicksal die Nacht wie einen Zaun baut. Sie spürte ihre Erniedrigung nie mehr. So wie ihre Augen nur noch kleine oder ferne Dinge wahrnehmen, die sie bewusst fixiert, während alles Große und nahe Gelegene sich in Nebel auflöst, nimmt sie in Gedanken nur noch das Ungeborene wahr; es wird wichtig wie ihre auf der rechten Seite des Küchentisches stehende Teetasse, in die sie das Wasser zuerst gießt.

Der Prinz

Die alte Frau dachte, der Bahnhof gliche einer Kathedrale oder einem Theater, einem Ort jedenfalls, in dem Rituale gefeiert werden. Sie wusste, dass der Bahnhof jeden Morgen gereinigt wurde, doch jetzt war er schmutzig. Sie ging durch den dunklen, kalten Korridor zur Schalterhalle; ein weißblonder Junge trat aus der Herrentoilette mit einer Zahnbürs­te in der Hand und lächelte sie an – er lächelte wie jemand, der sich vorgenommen hat, einen bestimmten Menschen aus einem bestimmten Grund anzulächeln. Der Junge glich Jonas, ihrem Sohn. Sie hatte den Brief, in dem sie Jonas ihre Ankunft angekündigt hatte, vorgestern in einen Briefkasten in ihrer Straße geworfen. Dort stand, eng an den Kasten gedrückt, ein verwahrlost aussehendes Mädchen. Etwas barsch hatte die alte Frau um Entschuldigung gebeten – nicht, weil es nötig gewesen wäre, dass das Mädchen zur Seite rückte; es war klein, und sie hätte den Brief auch so, über seine Schulter hinweg, einwerfen können, aber sie war misstrauisch und ärgerlich: Was hatte das unglückliche Geschöpf zu kontrollie­ren? Als die alte Frau dann wegging, drehte sie sich zweimal um und beobachtete das Verhalten des Mädchens, argwöhn­te, es würde den Brief vernichten, indem es ein brennendes Zündholz in den Schlitz warf. Herausziehen hätte es ihn mit seinen dicken Fingern nicht können. (Sie vermutete, dass die Finger des jungen Mädchens dick waren; angeschaut hatte sie sie nicht.) Das sonderbare Ding stand wieder nah beim Kasten, ohne sich zu rühren; die alte Frau blieb den ganzen Tag unruhig und machte sich Vorwürfe, dass sie den Brief nicht einige Straßen weiter in einen andern Kasten einge­worfen oder dass sie nicht telefoniert hatte. Aber sie telefo­nierte ungern, hatte Angst vor Wörtern, die aus weiter Ferne direkt ins Ohr hineingesagt wurden.

Als die alte Frau an der kleinen Station des Ortes, wo Jonas wohnte, aus dem Zug stieg, sah sie, dass ein Junge und ein Mädchen in einem Tümpel zwischen parkierten Autos Fußball spielten; sie lachten, wenn das schmutzige Wasser aufspritzte. Der angetrunkene Chauffeur eines kleinen, gelben Lastwagens schleppte eine Kiste mit leeren Bierflaschen in einen Laden. Ungläubig sah die alte Frau, wie der kleine Lastwagen am Straßenrand zu schaukeln begann; ohne ersichtliche Ursache schaukelte er auf und nieder. Bäume plusterten sich auf wie nasse Vögel. Sorgsam trug die alte Frau den selbst­gebackenen Kuchen für den Sohn. Später erschrak sie, weil ein Auto sehr nah und schnell seine Schnauze aus dem Verkehrsstrom bedrohlich gegen sie streckte; seine Bremsen kreischten. Schon von weitem bemerkte sie aber das blaue Haus, das wie ein Kachelofen aussah und wo Jonas sie gewiss erwartete. Das letzte Mal, als sie kam, stand er mit dem Rücken gegen seinen großen Spiegel und betrachtete sich in einem kleinen Spiegel, den er in der Hand hielt, von hinten. Jonas war schön. Seine vollen Wangen waren für sie der Beweis, dass sie ihn als kleinen Jungen gut gepflegt hatte und jetzt noch über ihn wachte. Jonas war der Prinz, der sie eines Tages erlösen würde aus ihrer armseligen Hässlichkeit.

Die Prinzessin

Vera wohnte seit einem Jahr in einem winzigen, weißen Haus an der Küste; vor ihr war nur der Himmel – ein kleines, totes Blau am Tag, ein Sammetbeutel voll goldener Kugeln in der Nacht – und das Meer; sie deckten die Vergangenheiten, die Vera mit stundenlangem Gekritzel hervorlocken wollte, zu wie Schatten von Riesen.

Veras kleine Tochter trat ins Haus, setzte sich, nachdem sie drei oder vier Butterbote verzehrt hatte, an den Tisch und verfertigte eine ihrer unzähligen Zeichnungen: Am Himmel rollten zwei Sonnen, im Gras stapften eine dickbäuchige, kahle Prinzessin und ein Zwerg.

Vera hatte Kindern gegenüber immer Unbehagen empfunden; bevor sie selber Mutter wurde, konnte sie die kleinen Geschöpfe nicht an sich drücken wie andere Frauen, sowenig wie sie es über sich brachte, ein Tier zu kraulen; das fremde, ungewohnt riechende Fleisch flößte ihr Abscheu ein. Sie verstand es noch heute nicht, mit Kindern zu scherzen; sie fand sie frech und unberechenbar, und ihr Übermut erschreckte sie. Sie fühlte sich ihnen unterlegen wie damals, als sie als sechsjähriges Mädchen zum ersten Mal ins Schulzimmer getreten war und die vielen schrecklichen Wesen gesehen hatte, die so laut und herausfordernd und grausam waren und deren Freuden und Leiden sie nicht teilen konnte. Sie war das einzige Kind ihrer Mutter gewesen und liebte nur ihre eigenen Freuden und Leiden; sie waren bedeutsam; vertraut und fein wie das Glück und die Schmerzen der Gräfinnen in den Romanen ihrer Mutter. Das Lachen der Schulkameradinnen fand sie roh, ihr Weinen peinlich, ihre Hände und Füße hässlich. Das Mädchen, das neben ihr in der Bank gesessen war, hatte an der rechten Hand nur vier Finger besessen; jede Berührung dieses Kindes hatte ihr Gänsehaut verursacht.

Sie erinnerte sich nur ungern an ihre Freundschaft mit Martha, die sich ihr aus dem einzigen Grund aufgedrängt hatte, weil sie beide – im Gegensatz zu den übrigen Kindern – katho­lisch waren. Marthas Kichern, ihre plumpen Wangen, ihre wie polierten Augäpfel, ihre Albernheit, das Schreiben von «wichtigen Mitteilungen» auf Papierfetzen, die sie ihr unter der Bank zugeschoben hatte, ihre Geständnisse, ihr Flüstern im Pausenhof, in der Kirche, hinter dem Haus – alles hatte Vera angewidert, doch sie hatte getan, als ob sie wäre wie Martha, um ihren Stolz und ihre Einsamkeit zu schützen; instinktiv hatte sie erkannt, dass man Edelsteine am sichersten in billigen, unansehnlichen Behältern aufbewahrt.

Vera hatte Martha viel später einmal unvermutet getrof­fen; Martha war verlobt, überhitzt wie ein Lampion, bevor aus ihm die Flammen schlagen und das Papier wie nichtige Worte durcheinanderwirbelt und verschwindet, als wäre es nie da gewesen. Vera hatte damals jeweils am Abend mit Ekel ihre eigenen, langen, weißen Glieder, die mit braunen Punkten übersät waren, betrachtet und gedacht: «Wer mag die schon.» Dann aber hatte sie einen ehemaligen Fremdenle­gionär geheiratet, einen schmalen, dunkelhäutigen Burschen, dessen Gesicht aussah, als ob Mehl über Paprika gestäubt wäre; entschärft, verwischt. Nach drei Jahren wurde die Ehe geschie­den, und ein Jahr später heiratete sie einen groß­gewachsenen Engländer mit glatten, runden Gliedern wie aus Teig und einwärts gerichteten Füßen, der ziemlich vermögend war, Frösche sammelte und sich am liebsten unter Wasser aufhielt; seine Augen hinter der Taucherbrille erin­nerten sie an zwei Tropfen Lebertran. Diese Ehe dauerte nur zwei Jahre.

Ihre Ehen waren für sie beklemmende Träume, die sie vergessen hatte. Sie hatte nie geliebt; für den fremd bleibenden Legionär, den Vater ihres Kindes, hatte sie eine etwas verrückte Leidenschaft empfunden, die erst nach seinem Verschwinden – dann aber schnell – erloschen war, was sie enttäuscht hatte; sie hatte erwartet, sie würde des Nachts leidend seinen Namen flüstern. (Nur in jener Nacht, als der Gatte das Weite gesucht hatte, hatte sie, obwohl sie von dem skanda­lösen Ereignis noch nichts wissen konnte, im Traum seine Fotografie vom Nachttisch heruntergeschlagen und das Glas zertrümmert.) Der nach Hausfrauenart pedantische Engländer samt Tabakpfeife und tantenhafter Furcht vor Katzen war ihr nur lästig gewesen. Deshalb bestürzte sie die Liebe zu ihrer Tochter; sie hatte in ihrem Leben nie Angst gekannt, nur Ekel und Widerwillen und Gleichgültigkeit und eine Trauer, die sie – wie einen großen, dunklen, fernen Falter – mit Dankbarkeit bewunderte. Nun hatte sie Angst um sich und um ihr Kind; sie fürchtete, sich selber oder das Kind zu verlieren.

Es war Abend. Das Töchterlein, das nach Veras Mutter Saskia getauft worden war, lag auf seiner Matratze in der hin­tern Ecke des einzigen Raumes, dort, wo helle und dunkle Wolken wie gute und böse Engel hinter dem Fenster vor­bei­flogen; Hand in Hand oder Rücken an Rücken. Das Fenster hatte ein Stück des Ölbaumes abgeschnitten und eingerahmt. Saskias dunkle Lippen besaßen einen zarten, lilafarbenen Glanz wie die Lippen von Mulatten und öffneten sich leicht im Schlaf, die Wimpern glichen feinen, samtbraunen Blumen­blättern. Scheu betrachtete Vera die nun vollendete Zeichnung, die das Mädchen selber an der Wand neben dem Fenster befestigt hatte, und mit einer seltsamen, schmerzlichen Freude erkannte sie, dass sie darauf die Farben, die sie soeben so eigenartig glücklich gestimmt hatten, wiederfand; als ob das Kind, fasziniert von seiner äußeren Erscheinung, versucht hätte, sie dem Papier mit den knapp erzählten Wahrheiten aufzuprägen: Braun und lila waren die beiden Sonnen, und lila und braun war die mächtige Prinzessin, der nun langes, starkes Haar zum Kopf herauswuchs wie ein Gewirr von Seilen. Nur der Zwerg war weiß geblieben, durchsichtig; er schien unter der Last der Farben über ihm zusammenzubrechen. Plötzlich glaubte Vera, in ihm sich selber und in der aufgeblähten Prinzessin, die wie ein mit zwei strahlenden Kronen versehenes Untier in der Mitte thronte, ihre Tochter zu erkennen – oder war es Martha, die hier Atem holte, um ihr ein letztes Mal Widerwärtiges ins Ohr zu zischeln? Ekel würgte sie, wie sie ihn, seit sie hier einsam wohnte – umgeben von sauberem Sand, roten Felsen, glänzendem Wasser und einem Himmel, der so reinlich war wie das geplättelte Badezimmer ihrer verstorbenen Mutter – nicht mehr gekannt hatte. Dann aber sah sie ihre Tochter im Traum lächeln; sie beugte das Knie und küsste das Kind auf die von der Sonne verbrannte Wange, auf welcher ein wenig Sand klebte.

Der Engel

Arthur war keineswegs gedankenfaul, und er bildete sich wei­ter, indem er Kurse besuchte, die ihm gewandte Umgangsformen, Kochen, Fotografieren und Stenografie beibrachten. Er bemühte sich, den menschlichen Kontakt zu pflegen, doch wo er sich auch in die unsichtbaren Zelte einschleichen wollte, in welchen er die andern einzeln oder in Gruppen vermutete – stets stand ein Engel davor und verwehrte ihm den Eingang mit der Geste eines Coiffeurs, der es bedauert, keine weitere Kundschaft mehr bedienen zu können.

Arthur versuchte sich Bilder zu machen über einige Frauen und Männer und Kinder, die in seiner Straße wohnten, während andere ihm gleichgültig waren. Die Straße hieß Wölk­leinstraße und ihre Häuser waren grau und unterschie­den sich nicht voneinander. Auf einem Balkon stand ein Engel aus Gips, der ein niedliches Doppelkinn hatte und schon erwähnt wurde – vielleicht in einem etwas unverständlichen Zusammenhang; dort wohnte ein Bildhauer. In Gedan­ken stellte Arthur das Buffet der Leute, das er durchs Fenster sah, ihre Art, sich am Kragen zu zupfen, und ihre Wünsche, die den seinen glichen, zusammen, wie ein Kind sich aus einem Blatt, aus Zündhölzern, aus einem Apfelstiel und aus einem Taschentuch ein Haus baut, in welchem nicht nur seine Puppe wohnt, sondern auch es selbst, seine Freundin, ein Zwerglein aus einem Märchen und der Buchstabe R, den es neulich in der Schule lernte. Zu den Kindern hatte er aber keine Beziehung – er konnte sich kaum an seine Kindheit erinnern; wenn man ihn danach gefragt hätte, hätte er geantwortet: «Ich habe gespielt», doch niemand fragte ihn etwas, niemanden gelüstete es, ihn zu schütteln, wie man es mit einem Getränk in einer Flasche tut, bevor man es braucht. Er arbeitete in einem Büro, wo er jeden Morgen «Beginne!» las, ein Wort, das er auf ein Stück Karton gemalt und an die Wand geheftet hatte, und wo er während der Arbeit hie und da eine Bemerkung über ein Fußballspiel fallenließ. Er besaß keine Laster – selbst das Tragen einer Sonnenbrille bereitete ihm Unlust, da er sich durch sie betrogen fühlte; er liebte die Verdunkelung oder Verschleierung der Welt nicht, sondern fürchtete alles, was die Klarheit beeinträchtigte, oder das, was er für Klarheit hielt. Dass Worte mit der Endung «-ung» ihn mit Schauern des Wohlbehagens durchrieseln durften, war etwas anderes – er sprach sie mit einer wohlklingenden Stimme aus, die verblüffend laut aus seinem winzigen, lip­penlosen Mund strömte: «Sitzung», «Verschiebung», «Ordnung». Einmal war ihm aufgefallen, dass die linke Hälfte seines Gesichts stumpf aussah, gewalttätig, furchterregend, während die rechte Hälfte den Ausdruck eines schlafenden Kindes hatte. Diese Entdeckung beunruhigte ihn flüchtig, wie es jemanden erschreckt, wenn er merkt, dass er das Licht anknipst, um besser hören zu können.

Arthur war Grundbuchbeamter, geschieden, und liebte heimlich ein Mädchen, das ebenfalls in der Wölkleinstraße wohnte, ein Stockwerk höher als der Bildhauer, auf dessen Engel es manchmal hinunterblickte. Es hieß Cäcilia, war Krankenpflegerin und glich einem schönen, kräftigen Vogel, der eine Brille trägt. Arthur stellte sich Cäcilia keusch, klavierspielend und stickend vor. Als er sich bei ihr nach einem kranken Bürokollegen erkundigt hatte, den sie im Spital pflegte, bemerkte er, dass sie stockend und ungenau sprach. Ihre Stimme erinnerte ihn an Nebel, genauer gesagt, an eine Fahne, die an einem nebligen Tag von einem Aussichtsturm weht, doch im Tal sieht sie niemand, und wen gelüstet es, einen dunklen Berg zu erklimmen, wenn unten die Sonne scheint?

Eines Abends, als Arthur am offenen Fenster stand, bemerkte er einen Knaben, der über die Straße tänzelte und einem jüngeren Mädchen befahl, Kieselsteine in die Sandalen zu füllen, worauf er dasselbe tat. Anschließend rannte er mit der Kleinen um die Wette, doch entfernte er vorher heimlich seine Steine und wurde Sieger, während die Verliererin mit schmerzerfülltem Gesichtchen um die Hausecke humpelte. Der Himmel schwamm über die Dächer und zwischen den Ästen und Blättern hinter den Häusern und in den Augen der Kinder, die keine Farbe zu haben schienen. Der Knabe hatte einen glänzenden schwarzbraunen Haarwirbel, und seine Bewegungen schienen stets sportliche Übungen zu sein. Die weißen Arme des Mädchens wuchsen wie Raupen aus dem roten Kleidchen und erinnerten Arthur an die Arme seiner Frau Martha. Es war ihm bis zu diesem Augenblick nie geglückt, sich seine Frau, mit welcher er drei Jahre verhei­ratet gewesen war, genau vorzustellen, sie zu sehen, wie man einen Stuhl sieht; man weiß um seine vier Beine, selbst wenn er das vierte verstecken sollte, und man kennt die Beschaffenheit seiner Lehne, auch wenn ein Kleidungsstück darüberhängt. Marthas Augen waren ruhig und ein wenig drückend gewesen wie eine niedere, weiß getünchte Decke, die dunkler ist als der Boden, auf welchem das Lampenlicht liegt. Wenn er sah, dass ein Feuerlein aus ihren Pupillen sprang oder dass sie den Schritt verlangsamte, ohne ihn wissen zu lassen, weshalb, wurde er wütend und ratlos. Er schrieb in sein Notizbuch: «Sie ist träge, rührselig und eitel», um einen Beweis zu besitzen, dass diese ihre Eigenschaften vorhanden waren, um es immer wieder nachlesen zu können, dass er sie für falsch hielt: Ihr Wille, gut und angenehm zu scheinen, dünkte ihn schlechter als ihr Charakter. Manchmal weinte sie, ohne dass er den Grund für ihre Trauer hätte erraten können, und er war davon überzeugt, dass sie die Menschen roh fand, Felsblöcke, zwischen welchen ihr Weinen wie ein Bächlein, bei dessen Anblick man «entzückend» sagt, hindurchglitt. Er verdäch­tig­te sie eines geheimnisvollen Umgangs mit dem Engel des Bildhauers. Er beobachtete das Lächeln, das sie jener Gipsfigur schenkte, und das Nicken und Flügelschla­gen, mit welchen der holde Jüngling sie oft begrüßte, war ihm nicht ­entgangen. Allerdings hatte diese Angelegenheit bei der Scheidung keine Rolle gespielt, da er sich geschämt hätte, seine Eifersucht auf die Statue eines unbedeutenden Künstlers zu verraten.

Einmal erschien ihm der Engel im Traum, schüttelte die Locken und sprach, Arthur habe richtig vermutet, er sei der Engel, der die Zelte der Menschen bewache, worauf Arthur ihn fragte, ob er auch vor seinem Zelt stehe, doch der Engel erwiderte zungenschnalzend, Arthur besäße kein Zelt, sondern nächtige unter freiem Himmel, auf der nackten Erde, weder von einem Strauch, noch von einer Frau liebkost. Er fuhr wörtlich fort: «Du gleichst einem Apfelkern, der auf einer gefrorenen Schneedecke liegt – ein hungriger Vogel wird dich finden.» Da es nach diesen seltsamen Worten genau sechs Uhr früh war und der Wecker schrillte, löste sich der Engel in nichts auf.

Es wurde dunkel. Der Nachmittagshimmel zog sich mit seiner Sonne wie ein Trompeter mit seinem Instrument zurück. Die Stimmen einiger Kinder, die noch immer draußen spielten, liefen wie das Schreien von Affen und Vögeln zusammen. Die Lampen spannten Lichtbänder über die Wege. Eine Katze strich vorbei, und Arthur fiel ein, dass Martha Tiere geliebt hatte. Sie brachte ein fettes Meerschwein in die Ehe, das sie «Onkel Andreas» nannte, und eine tote Grille in einem kleinen, selbstgezimmerten Sarg, die Glück bringen sollte. Arthur aß gerne Hasenbraten oder Geflügel, doch weiter reichte sein Interesse für Tiere nicht; es hatte ihn geekelt, wenn seine Frau Onkel Andreas’ Nase geküsst hatte, und die Stimme besagten Onkels war ihm unangenehm gewesen. Auch den Sarg mit der toten Grille auf dem Nachttisch hatte er nicht geliebt.

Arthur beobachtete Cäcilia, die in ihrer Wohnung ans geöffnete Fenster trat. Er dachte, dass ihr gewiss schwindlig sei, dass sie in einem Nebel lebe, ungeliebt, ihrer selbst überdrüssig, doch jetzt würde sie als Schatten zu ihm durch die Luft schwimmen und unter seiner Liebe aufleuchten. Er zit­terte, während er seine Finger wie dünne, schwarze Äste über das Gesims streckte, um Cäcilia aufzufangen. Ihre Brillengläser funkelten, und Arthur beobachtete argwöhnisch das Erröten des Engels, das nicht zu übersehen war. Eine Frau, die himmlische Erscheinungen hatte, ging vorbei. Arthur grüßte sie nie, da sein Verstand sich bei ihrem Anblick wie das Gefieder eines fröstelnden Vogels sträubte, doch nun fühlte er das Bedürfnis, mit ihr zu sprechen, hielt jedoch nach dem ersten Wort inne, als er sah, dass Cäcilia und der Engel durch die Luft schwebten, um eine himmlische Erscheinung vorzutäuschen, doch die Frau ließ sich nicht irreführen, sondern schüttelte den Kopf, verdeckte ihr Gesicht und entfloh. Da Cäcilia wohl zu allerlei gespenstischem Schabernack aufgelegt, jedoch ein an Leib und Seele gesundes Mädchen war, gelüstete es sie nicht, die Nacht schwebend an der Seite eines Gipsengels zu verbringen, weshalb sie den Beschützer der zeltenden Menschen auf den Balkon zurückgeleitete, sich mit einem Kopfnicken von ihm verabschiedete und durchs Fenster in ihre Wohnung kletterte, wo alsbald das Licht erlosch.

Arthur erwog, ob Cäcilia auch zu den Menschen gehöre, die kein Zelt besitzen, doch das eben Geschehene schien ihm das Gegenteil zu bestätigen; ihr vertrauter Umgang mit dem Gipsengel ließ befürchten, dass Arthur umsonst hoffte, sie würde eines Tages seine Liebe erwidern. Es erschien ihm natürlich, dass derjenige, der ein Dach über dem Kopf besitzt, einem armen Vagabunden keine Beachtung schenkt. Glich sie nicht dem Vogel, von dem der Engel prophezeit hatte, er würde Arthur wie einen Apfelkern aufpicken? Traurig wandte er sich vom Fenster ab, schlüpfte im Dunkeln aus seinen Kleidern und ging zu Bett. Der Schlaf schlich herbei und legte sich so sanft neben ihn, wie keine Frau es tut.

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