Kitabı oku: «Wie die Schwalben fliegen sie aus», sayfa 8
Die Reise in die Stadt
Die Möglichkeit, mit dem Zug zu reisen, war in der Zwischenkriegszeit noch nicht so alt. Die Pustertallinie – von Villach bis Franzensfeste – war 1871 dem Verkehr übergeben worden. 1881 war die Strecke Bozen – Meran eröffnet worden, 1906 folgte die Verlängerung bis Mals. Die Eisenbahn schuf die Anbindung der heimischen Wirtschaft an die internationalen Märkte, das neue Verkehrsmittel öffnete dem Tourismus Tür und Tor, und die Mobilität der Bevölkerung wurde wesentlich erhöht. Bis dahin nahezu unüberbrückbare Distanzen wurden mit einem Mal überwindbar.
Nur wenige Mädchen hatten das Privileg, schon in den 30er Jahren mit ihren Arbeitgebern ganz kommod im Auto an die neue Arbeitsstelle zu fahren, so wie Anna Ortner aus Sexten: „Runtergefahren bin ich mit den Herrschaften im Auto.“ Auch Rosa Moser wurde von den Arbeitgebern direkt in Sarnthein abgeholt. Sie erinnert sich jedoch mit gemischten Gefühlen daran: „Dann ist mir im Auto schlecht geworden, und sie mussten stehen bleiben.“
Die meisten Mädchen aber – zum Zeitpunkt der Reise meist blutjung und der italienischen Sprache kaum mächtig – unternahmen zum ersten Mal in ihrem Leben eine längere Fahrt mit der Eisenbahn. Die Zugreise war ein erster entscheidender Schritt in eine neue Welt. Hilde Pinggera aus Lichtenberg erinnert sich: „Ich war nur bis nach Laas gekommen. Schon Meran und Bozen ist einem besonders vorgekommen, aber das war alles nichts gegen Mailand.“
Erste Verständigungsschwierigkeiten mussten überwunden werden. Berta Tappeiner unternahm mit ihrer Tante die Zugreise von Laas nach Rescaldina. Den Ort hatten die beiden zuvor auf einer Landkarte gesucht, ihn aber nicht gefunden: „Wir sind so aufs Geratewohl losgefahren. Im Zug hat die Tante dann einen Schaffner gefragt, wo das Rescaldina sei. Der hat geantwortet: ‚L’ultimo paese che ha creato Iddio.‘ Da haben wir wieder nichts gewusst.“
Viele Mädchen waren allein unterwegs, manche reisten in Begleitung einer Bekannten, die ebenfalls in Dienst ging, manche mit einer Schwester, Cousine oder Freundin. Anna Pinggera aus Stilfs folgte mit all ihren Habseligkeiten ihrer Schwester, die bereits einen Posten in Rom hatte: „Ich hatte eine alte Handtasche mit sehr wenig Geld, nur für Briefmarken und ein Paar Strümpfe.“ Regina Walcher machte sich zu zweit mit ihren wenigen Habseligkeiten auf Postensuche: „Als ich und meine Schwester nach Mailand fuhren, da hatten wir als Mantel nur einen breiten Schal, ein Sonntagskleid und ein Paar Schuhe.“ Emma Terza aus St. Vigil reiste in den 50er Jahren von Franzensfeste nach Rom. Heute staunt sie über ihren Mut und ihre Entschlossenheit; die lange Reise überbrückte sie mühelos: „Gefahren bin ich in der Nacht. Im Zug konnte ich sogar schlafen, mit dem Mantel unter dem Kopf. Heute hätte ich nicht mehr die Courage.“ An den Tag ihrer Abfahrt, im November 1933, erinnert sich Helena Blaas aus St. Valentin noch ganz genau: „Der Vater hat mich nach Meran gebracht, dann bin ich allein weitergefahren. Ich hatte ein einfaches Kleid an, und die Haare trug ich zu einem Zopf um den Kopf geflochten. In Bozen bin ich ausgestiegen, da habe ich mir gedacht, da kann ich nicht fehlen, es gibt ja nur zwei Züge, einer fährt zum Brenner und einer nach Italien. Aber so einfach war’s nicht. Ein Polizist hat mich gefragt, wo ich hinwolle. Ja, nach Rom. Da müsse ich über die Treppe hinuntergehen, da könne ich schon lesen. In Bologna habe ich umsteigen müssen, ich wusste auch, dass ich ‚facchino‘ sagen musste. Meine Sachen hatte ich in einem großen Koffer.“
Für viele brachte das Abenteuer der Zugfahrt eine erste konkrete Ahnung davon, was ihnen an Neuem und Ungewohntem noch alles bevorstand. Anna Gruber aus Antholz reiste allein vom Olanger Bahnhof nach Mailand; erst während der Fahrt kamen ihr so langsam Bedenken: „Ich war schon ‚schneidig‘, aber erst während der langen Fahrt ist mir dann schon vorgekommen, dass ich von zu Hause ganz weit weg bin.“ Auf der Fahrt zum neuen Aufenthaltsort wurden die einen und anderen Bekanntschaften geschlossen, kurze Worte gewechselt. Marianna Parth aus Eyrs erinnert sich lebhaft an die Reise nach Mailand, die für sie offensichtlich ein sehr wichtiges Ereignis in ihrem Leben darstellte: „In Verona musste ich umsteigen, hatte dort zwei Stunden Aufenthalt. Da war noch eine dicke Frau, eine Italienerin. Sie hat mich gegrüßt: ‚Buon giorno, signorina.‘ Sie hat mich gefragt, wo ich hinfahre. ‚A Milano.‘ ‚Anch’io.‘ ‚Ah si? Anche lei?‘ ‚Si.‘ Ich habe ein bisschen Italienisch in der Schule gelernt. Wir sind dann zusammen nach Mailand gefahren. Sie hat mich noch gefragt, wo ich in Mailand hin wolle. Ich habe gesagt: ‚Via Tamburini 4‘.“
Wie exotisch die Zugreise einer jungen, alleinstehenden, nicht Italienisch sprechenden Frau in den 30er Jahren war, verdeutlicht die Reise von Johanna Pamer: „In dem Zug waren viele Leute, und es hat sich ziemlich schnell herumgesprochen, dass dort eine Deutsche drinnen ist. Da sind dann alle dahergekommen, haben geschaut und mich beobachtet. Das war halt damals nicht üblich, dass Ausländer im Zug sind. Plötzlich ist ein Herr, so um die 30, im Zug zu mir gekommen, hat mir seine Identitätskarte gezeigt. Beim Aussteigen in Lecce fragte er mich, ob ich die Herrschaften, zu denen ich wollte, schon kenne. Und er wollte unbedingt meine Koffer tragen. Ich hab gesagt: ‚Nein, die Koffer trag ich mir selber, wie schaut das denn aus, wenn ich mit einem Mann daherkomme.‘ Aber der war nicht zu halten, ist mit meinen Koffern voraus und ich hinterher. Die Herrschaften, die Familie Petrachi und die Pistelli, haben dann schon auf mich gewartet und wollten natürlich wissen, wer der Herr sei. Er hat dann wieder seine Identitätskarte gezeigt, sie haben sich bedankt, er ist wieder in den Zug eingestiegen, und weg war er. Das war ein Polizist – ein Geheimpolizist, der im Zug Dienst hatte. Der wollte halt sichergehen, dass ich die Herrschaften auch finde.“
Karten lösen, umsteigen, italienische Lautsprecherdurchsagen entschlüsseln – das war nicht immer ganz einfach. Maria Girardi fuhr im September 1932 nach Mailand: „Ich bin in Verona in den falschen Zug eingestiegen und bin dann nach Padua gefahren. Der Schaffner wollte zuerst, dass ich 30 Lire Fahrpreis bezahle. Aber wer hatte in den 30er Jahren schon 30 Lire! Ich hatte einfach kein Geld, um die Differenz zum Fahrpreis zu bezahlen. Der Schaffner hat mich dann gratis nach Verona zurückfahren lassen und hat in dem Zug zu seinem Kollegen gesagt, er soll auf mich aufpassen, dass ich nicht in Verona aussteige und möglicherweise noch auf dem Brenner ankomme. Ich war damals 19 Jahre alt und noch nie irgendwo weiter weggefahren.“ Antonia Saurer war 1930 mit zwei Freundinnen nach Rom unterwegs. Beim Umsteigen in Verona wurde die sechzehnjährige Antonia von ihren Kolleginnen beauftragt, auf Geldtasche und „biglietti“ aufzupassen, während sich die beiden anderen frisch machten. Etwas Wesentliches hatten die Mädchen dabei nicht berücksichtigt: „Sie hatten nicht aufgepasst, dass sie in einen Waggon gegangen sind, der abgehängt wurde und in eine andere Richtung gefahren ist. Als sie das Klo verlassen haben, haben sie mich nicht mehr gefunden. Plötzlich hörte ich meinen Namen ausrufen. Ich bin erschrocken und dachte, was wird wohl passiert sein. Ich bin aufgestanden und in den Gang hinaus und hab mich gemeldet. Ob ich zwei Freundinnen hätte, hat man mich gefragt. Ich hab die Namen gesagt. Man hat mich auch gefragt, ob ich das Gepäck und die biglietti hätte. Ja, es wäre alles da, sie könnten schauen, hab ich gesagt. Sie haben mir erklärt, dass der Waggon mit der Toilette abgehängt worden ist. Sie haben mir auch gesagt, wo er hingefahren ist. Die eine Freundin konnte sich gut verständigen und hat den Beamten auch gesagt, dass ich da und da aussteigen müsste.“
Neue, unauslöschliche Bilder begegneten den Mädchen bereits auf ihrer Fahrt in die große Stadt. Mathilde Andergassen erzählt: „1935, an einem Pfingstsonntag bin ich nach Mailand gefahren. Wir sind an den Reisfeldern vorbeigekommen, und die Leute sind bis zu den Knien im Wasser gestanden und haben gearbeitet. Dass die am Pfingstsonntag gearbeitet haben, das hat mich schon sehr beeindruckt.“ Und Rosa Stofner aus Durnholz gesteht ihre Besorgnis kurz vor der Einfahrt in den römischen Hauptbahnhof: „Ich hatte schon ein bisschen Angst. Eine Stunde vorher bin ich schon am Fenster in meinem Abteil gestanden und hab geschaut, ob Rom kommt. Dass ich es ja nicht verpasse.“
Erste Kontakte mit den Arbeitgebern
Einige der Mädchen hatten ein klares Ziel vor Augen, wussten, wo und wann ihre zukünftigen Arbeitgeber sie erwarten würden. Die Kontakte mit ihnen waren vielfach schon in Südtirol geknüpft worden. Über Eltern, Bekannte, Freundinnen, offizielle oder inoffizielle Stellenvermittlungen war das erste Zusammentreffen bis ins kleinste Detail geplant. Erkennungszeichen wie Blumen, Zeitungen oder farbige Taschentücher sowie genau abgesprochene Treffpunkte sollten dafür sorgen, dass Arbeitgeber und Dienstmädchen sich im Gewirr der großen Bahnhöfe nicht übersehen konnten.
Die Bahnhöfe, Palazzi des Fortschrittes, die neben ihrem funktionalen Nutzen immer auch Repräsentationsbauten waren, wirkten auf die Südtirolerinnen offensichtlich sehr imposant und beeindruckend. Der Bahnhof Milano Centrale wurde 1864 eingeweiht, ein Jahr später folgte Torino Porta Nuova, 1866 Genova Porta Prinicipe, 1867 Napoli Centrale, 1870 Roma Termini, 1871 Bologna Centrale, 1881 Trieste Centrale und 1885 schließlich Palermo. In den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts bekamen die Bahnhofsplätze mehr Gewicht als Orte von Versammlungen, politischen Kundgebungen und Festen. Die Stadt breitete sich zum Bahnhof hin aus, der meist durch eine prächtige Straße erreichbar war. Seine zentrale Rolle im Stadtgeschehen wurde nun auch optisch unterstrichen.
Johanna Tschurtschenthaler aus Sexten reiste am 20. Dezember 1951 mit ihrem künftigen Arbeitgeber in ein kleines Bergdörfchen bei Bologna. Auf dem Bahnhof in Bologna musste sie umsteigen und sich beeilen, um den Anschlussbus nicht zu verpassen. Staunend betrachtete sie den riesigen Bahnhof: „Die ganzen Leute auf dem Bahnhof – ich hatte nur zu schauen.“ Maria Federa stieg am Mailänder Bahnhof aus: „Der Bahnhof in Mailand war riesig, ich war richtig verloren.“ Auf die Gadertalerin wartete bei ihrer Ankunft ihr Arbeitgeber, ein Erkennungszeichen bei sich führend. „Bevor ich weggefahren bin, haben mir die Herrschaften geschrieben, dass wenn ich am Bahnhof in Mailand aussteige, ein Herr mit einem Hund auf mich wartet. Damit ich ihn erkenne. Ich bin ausgestiegen, Herren mit Hund gab es mehrere. Dann hab ich es einfach bei einem probiert, und der war dann auch gleich der richtige Herr.“ Maria Stolzlechner hielt bei ihrer Ankunft am Turiner Bahnhof ihr Erkennungszeichen in der Hand: „Am Bahnhof musste man durch eine Art Gatter durchgehen. Ich hatte mit den Herrschaften ausgemacht, dass sie dort auf mich warten. Ich musste ein weißes Kuvert in der Hand halten – das war mein Erkennungszeichen, und wir haben uns dann auch sofort gefunden.“ Auch Sofia Höchenberger kam mit ihren 20 Jahren allein mit dem Zug in Bergamo an. Mit den Arbeitgebern stand sie schon in Südtirol in Briefkontakt – die erste Zusammenkunft war detailliert abgesprochen: „Sie haben mir geschrieben, dass der Herr mich am Bahnhof abholt, dass er neben dem Auto steht. Die Nummer von der Targa39 haben sie mir gegeben. Das Auto musste ich suchen, um ihn zu finden. Als ich das Auto gesehen habe, hab ich den Herrn gefragt: ‚Sind Sie der Herr Barzanò?‘ Er sagte: ‚Ja.‘ Ich konnte einsteigen und wir sind zum Haus gefahren, in die Via Statuto, Casa Nessi, da hatten sie die Wohnung.“ Helena Blaas war mit einem nicht mehr ganz „frischen“ Erkennungszeichen bestückt: „Ich musste einen Strauß Rosen tragen, damit mich die Frau erkennt. Aber die Rosen hatten wir schon in Meran gekauft, die waren schon welk.“ Ihre Arbeitgeberin konnte Helena zunächst weit und breit nicht erblicken, plötzlich nahte eine Frau in hellblauem Kostüm. „Sie hat im Brief geschrieben, sie würde ein hellblaues Kostüm tragen. Sie war klein und sehr dick, sie hat über einen Zentner gewogen. Sie hat mich angebrüllt: ‚Warum haben Sie sich nicht sehen lassen?‘ (…) Dann sind wir ins Taxi eingestiegen. Während der Fahrt hat sie mich gefragt, ob ich kochen könne. Ich habe ihr geantwortet, ich könne nichts. Das hatten wir ihr schon geschrieben. Aber es ist trotzdem gut gegangen.“ Anna Telfser aus Schlanders erkannte ihren Arbeitgeber an dem vereinbarten Taschentuch, das dieser in der Hand hielt. Dennoch sollte es erst später zur Begegnung zwischen den beiden kommen: „Ich habe schon den Herrn mit dem Taschentuch gesehen, aber ich habe mir gedacht: Nein, wer weiß. Ich hatte noch keine Lust. Ich bin dann zuerst zur Hedwig [eine Freundin aus Südtirol A. d. V.] und wir sind dann mit dem Taxi hinausgefahren. Ich war dann noch vor ihm dort.“ Anna Frank aus Schluderns traf ihre römischen Dienstgeber schon am Bozner Bahnhof. Bereits bei der ersten Begegnung machten diese unmissverständlich klar, was die damals 19-Jährige erwarten würde: „Die Mutter hatte mir einen Blumenstrauß für die Frau mitgegeben. Als ich ihn überreichen wollte, befahl sie mir, den Strauß in den Abfalleimer zu werfen, weil er doch nur welke, bis wir ankämen. Da wurde mir schon etwas mulmig. Die Herrschaft ist in die erste Klasse eingestiegen und ich in die zweite.“ Gesellschaftliche Hierarchien wurden von Anfang an unmissverständlich festgelegt, wie folgendes zeitgenössische Sprichwort zeigt: „In prima classe viaggiano i principi, gli inglesi ed i vanitosi, gli sposi e i passeggeri con biglietto gratuito (= deputati).“40
Stazione di Torino Porta Nuova in den 20er Jahren. Die Bahnhöfe stellten für viele den ersten Kontakt mit der fremden Welt dar.
Menschenmenge vor den Fahrkartenschaltern des Hauptbahnhofs Mailand
Die Bahnhofsmission
Nicht immer hatten die Südtirolerinnen schon in der Heimat Kontakte zu ihren zukünftigen Arbeitgebern aufgenommen. Häufig reisten die Mädchen ohne bereits getroffene Abmachungen in italienische Großstädte, um vor Ort ihr Glück zu versuchen. Toni Wallnöfer aus Laas war mit ihren 16 Jahren eine dieser Unerschrockenen: „Um acht Uhr abends bin ich in Bozen losgefahren, und am Morgen war ich in Rom. Dort bin ich ausgestiegen und wusste zunächst nicht, was tun. Ich habe eine Frau angesprochen, um sie nach dem Weg zu diesem Deutschen Haus41 zu fragen. Die Frau konnte Deutsch, sie hat mich zum Bus gebracht und dem Busfahrer Anweisungen gegeben, wo ich aussteigen musste. Mit mir waren noch 200 Bewerberinnen aus Deutschland da, die alle als Kindermädchen arbeiten wollten.“
Die Ankunft der Arbeit suchenden Mädchen in den italienischen Großstädten wurde nicht dem Zufall überlassen. Die „Unione delle donne dell’Azione Cattolica Italiana“ (ACI) war 1909 gegründet worden und erwartete mit ihren Bahnhofsmissionarinnen Tausende von Dienstboten, die in die Stadt drängten.
Auch bürgerliche Frauenvereine sahen in der Betreuung der eben in der Stadt angekommenen Landmädchen eine wichtige Aufgabe. Unter der engagierten Leitung einer bedeutenden Feministin des Viktorianischen Zeitalters, Josephine Butler, waren in England am Ende des 19. Jahrhunderts von puritanisch-protestantischen Kreisen nationale und internationale Initiativen zur Bekämpfung von Mädchenhandel und Prostitution gegründet worden. Sozial engagierte und religiös bewegte Frauen aus überwiegend bürgerlichen Kreisen – oft beschäftigten sie selbst Dienstmädchen und waren deshalb persönlich interessiert, wussten aber gleichzeitig über die Schattenseiten des Dienstmädchenmetiers Bescheid – übernahmen auf den Bahnhöfen die Betreuung allein reisender, Arbeit suchender, junger Frauen.
Mit Beginn des 20. Jahrhunderts erhielt die zuvor auf Gelegentlichkeit ausgerichtete Hilfe ständigen Charakter. Professionell ausgebildete, teilweise bezahlte Mitarbeiterinnen übernahmen zu festen Zeiten die Betreuung auf den Bahnhöfen von Großstädten und auch an Grenzübergängen.42
So breitete sich für allein reisende junge Frauen ein schützender Mantel aus einem weit verzweigten Netz verschiedener Organisationen aus. Eines war den Bahnhofsmissionarinnen unterschiedlichster Couleur gemeinsam: Sie begriffen ihren Einsatz vor allem als Kampf gegen sittliche Gefahren, die allein stehenden Frauen auf ihrer Reise in die Fremde und während ihres Aufenthalts in der Stadt begegnen konnten. Die Helferinnen sollten verhindern, dass die Mädchen in den falschen Zug einstiegen oder dass sie sich von gewissenlosen Männern ins Schlepptau nehmen ließen. Die Bemühungen zum Schutz der Mädchen sowie der Argwohn gegenüber den Männern, die sich ihnen möglicherweise näherten, entsprangen einer damals allgemein verbreiteten Furcht vor unkontrollierten – besonders männlichen – sexuellen Trieben. Vor allem junge Frauen, die nicht mehr unter der Aufsicht ihrer Eltern standen, waren lüsternen Blicken und Händen fast wehrlos ausgeliefert.
Antonia Saurer war einer sehr unangenehmen Situation ausgesetzt, als sie unerwartet den Zug wechseln musste: „Mitten in der Nacht musste ich aussteigen und mit dem ganzen Gepäck in den Wartesaal gehen. Und warten bis drei oder vier Uhr in der Früh. Der Wartesaal war voller Männer, da habe ich was aushalten müssen. Ich habe Angst vor ihnen gehabt, ich war ja erst 16 Jahre alt und noch nirgends gewesen. Da habe ich gebetet. Ich weiß nicht, wie ich damals die Courage gehabt habe.“ Johanna Tschurtschenthaler verlor im Bahnhofsgetümmel ihren Arbeitgeber aus den Augen: „Der Herr hat sich ziemlich beeilen müssen, weil wir sonst den Bus versäumt hätten. Ich immer hinter ihm her, und plötzlich seh ich keinen Herrn mehr. Da war ich schon das erste Mal enttäuscht, und ich dachte mir nur: ‚Was soll ich nur tun, was soll ich nur tun?‘ Und schon waren schnell ein paar Männer bei mir. Die wollten wissen, was ich mache und wohin ich will.“
Die Mädchen waren einerseits selbst der Gefahr ausgesetzt, andererseits wurden sie als Risiko für die gesittete bürgerliche Gesellschaft gesehen.
Stereotype Beschreibungen von frivolen und unmoralischen Dienstboten waren weit verbreitetet. Ausgehend von einem idealen bürgerlichen, katholischen Frauenbild, hieß es in einem Programmauszug der Katholischen Aktion aus dem Jahr 1903: „La giovane gagliarda, sottraendosi all’occhio materno, si getta nelle nostre città, officine … di immoralità, d’irreligione … Per la prima volta discendono dal monte nelle grandi città ove, sebbene fra mille pericoli, trovano facile collocamento perché … sono più docili e buone delle altre.“43
Auch die Caritas war in der Bahnhofsmission tätig. Hilde Pinggera erinnert sich an ihre Ankunft in Mailand in den 30er Jahren: „Wenn man am Bahnhof herauskommt, geht eine große Treppe hinunter, und da standen immer links und rechts Frauen von der Caritas. Die haben die Mädchen, die allein gekommen sind, angesprochen, wenn sie gesehen haben, dass sie nicht wussten wohin. Sie haben sie dann ins nahe Kloster gebracht.“
Eine Dame der Bahnhofsmission eilte auch Marianna Parth zu Hilfe. Denn trotz vereinbarten Treffpunkts und eindeutigen Kennzeichens war bei der Zusammenkunft etwas schief gelaufen. Mit einem roten Schal stand sie am Bahnhof – und wartete auf ihren Arbeitgeber: „Ich bin dagestanden am Bahnhof, aber er ist nicht gekommen. Was ist das für einer, hab ich mir gedacht. Zuerst macht er mich kommen, und dann ist er nicht da. Ich habe den Koffer genommen und bin den Leuten nachgegangen. Ich wollte nicht mehr dastehen, wenn keiner kommt. Vielleicht wartet er weiter unten irgendwo, dachte ich mir. Aber langsam wurde ich ängstlich.“ Die Hilfsbereitschaft einer – vermutlich im Dienste der Bahnhofsmission stehenden – Frau brachte Marianna an einen sicheren Ort: „Da war ein Fräulein, die hatte eine Binde umgebunden und konnte drei, vier Sprachen sprechen. Sie hat gleich gesehen, dass ich eine Deutsche bin. Sie hat mich gefragt, wo ich hin will und ob ich abgeholt werde. Dann hat sie den Koffer genommen, sie hatte eine schöne Villa neben dem Bahnhof. Dann hat sie mit dem Hauptmann telefoniert, der mich hätte abholen sollen. Seine Frau hat ihn dann entschuldigt und gesagt, dass ihr Mann sich verspätet hat. Als ich die Suppe fertig gegessen habe, ist der Hauptmann gekommen und hat mich abgeholt.“ Im Herbst 1933 kam Helena Blaas am Bahnhof von Rom an, auch sie wurde von einer Bahnhofsmissionarin „notversorgt“: „Gesehen hab ich niemanden am Bahnsteig. Und da war noch ein Mädchen, die war auch auf der Suche nach ihren Arbeitgebern. Da hat uns eine Frau auf Deutsch gefragt, wo wir hinwollen. Wir haben geantwortet, dass wir in Stellung gehen wollen. Sie forderte uns auf, mit ins Büro zu kommen und dort zu warten. Ich habe gesagt, dass ich zur Familie Frank komme, und sie haben die Adresse im Telefonbuch gesucht.“
Ein „Reisekostendarlehen“, eine Notunterkunft, die Begleitung zu den Arbeitgebern – das boten die Helferinnen vor Ort den in ihren Augen hilflosen jungen Mädchen an. Katholische Zeitungen lieferten minutiöse Beschreibungen wie eine ideale Reise verlaufen sollte: Vorzuziehen waren Reisen in Gruppen, mit kundigen Personen oder in speziell ausgewiesenen Frauenabteilen. Gewarnt wurde insbesondere vor Gesprächen mit anderen Reisenden und davor, sich Ratschläge oder Tipps von fremden Personen einzuholen. Es wurde angeraten, niemandem das mitgeführte Geld oder den Personalausweis zu zeigen oder gar jemandem die Koffer anzuvertrauen. Auf keinen Fall sollte Auskunft über das Ziel der Reise gegeben werden, beim Aufenthalt in kleinen Stationen sei es besser, den Zug nicht zu verlassen.44 Auch die städtischen Arbeitgeber wussten von der Bahnhofsmission und informierten ihre zukünftigen Hausmädchen schon vorab über deren Dienste, wie im Fall von Hilde Pinggera: „Der Doktor hat mir gesagt, wenn ich auf dem Bahnhof ankomme und wir würden uns nicht treffen, soll ich mich an die Schwestern halten, die würden mir weiterhelfen.“ Die helfenden, richtungweisenden Hände am Bahnhof wurden von vielen Reisenden dankbar angenommen. Vor allem im Reisen ungeübte Frauen waren auf die Hilfe der Bahnhofsmission angewiesen, während erfahrenere und bereits ortskundige Frauen die weite Reise gelassener nahmen. Es gab aber auch Mädchen, die sich über zu viel soziale Kontrolle und Überwachung beschwerten. Für Anna Unterthiners Geschmack waren die hilfsbereiten Schwestern etwas zu hartnäckig: „In Mailand waren auf dem Bahnhof Klosterschwestern, die haben immer herumgeschaut, ob was los ist. Und ich bin dagestanden, mit meiner Frisur und meinem Gewand und meinen Taschen – die haben gleich verstanden, dass ich nicht von da bin. Da wollten sie mich gleich mitnehmen. Sie hatten in der Nähe des Bahnhofes ein Heim für Mädchen. Ich bin natürlich nicht mit ihnen mitgegangen, weil ich schon mit meinen Herrschaften ausgemacht hatte, dass wir uns am Bahnhof treffen. Das wollten sie mir fast nicht glauben. Ich musste mich direkt wehren, dass sie mich nicht mitgenommen haben.“
Nicht nur Bahnhofsmissionarinnen kümmerten sich um die allein reisenden Mädchen. Auch Passagiere und das Bahnhofspersonal waren um das Wohl der jungen Frauen besorgt. Helena Blaas, unterwegs nach Rom, wurde auf ihrem Zwischenstopp in Bologna von einem „facchino“ bestens betreut: „Er hat mich ermahnt, ich solle ja nicht mit Männern reden, ja keinen Wein trinken. In einer Stunde komme er wieder, dann bringe er mich zum Zug nach Rom. Er ist ein paar Mal gekommen, zu schauen, ob mich die wartenden Männer auch in Ruhe lassen. Der hat wirklich auf mich geschaut, mich in den Zug begleitet und mir die Hand gegeben. Ich habe ihm fünf Lire Trinkgeld gegeben, das war ein gutes Trinkgeld.“
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