Kitabı oku: «Wie die Schwalben fliegen sie aus», sayfa 6
Erwerbsarbeit in Südtirol
Erste ganzjährige Arbeitserfahrungen machten viele Mädchen als Magd auf einem Bauernhof. Zwar erhielten Mägde mit zunehmendem Alter in der Hierarchie des bäuerlichen Gesindes einen festen Platz und damit auch einen klar abgegrenzten Tätigkeitsbereich, doch die strengen Dienstbotenordnungen ließen wenig Spielraum und sehr begrenzte Lebensperspektiven zu.65 Es war ein hartes Brot: Der Kollektivvertrag von 1930 bescherte den landwirtschaftlichen Arbeitern nur Lohnkürzungen66, aber keine Verbesserung der Lebenssituation. Eine hohe Dienstbotensteuer, die von den Bauern erhoben wurde, ließ außerdem die Nachfrage nach landwirtschaftlichen Arbeitern stark zurückgehen.67
Helena Blaas, die in Eyrs im Gasthof Lamm kochte, bedauerte die Dienstboten, die in der zum Gasthof gehörigen Landwirtschaft tätig waren: „Die Wirtsleute haben in der Gaststube gegessen und daneben die Dienstboten. Das habe ich nicht leiden können. Am Sonntag hat die ‚Herrschaft‘ panierte Schnitzel und allerhand Gemüse und solche Sachen gegessen und die Dienstboten daneben eine Suppe, ich hätte sie nicht einmal den Schweinen gegeben, die war so schlecht, die haben so schlecht gekocht, ich hätte weinen können. Ich habe oft gesagt, kann man nicht für alle die gleichen Knödel kochen.“
Ein Ausweg war für viele der Wechsel zu einer anderen Tätigkeit. Als in den 20er Jahren der Tourismus in Südtirol zu florieren begann und viele neue Hotels und Pensionen entstanden, eröffnete sich ein neuer Arbeitsmarkt für die vielen ungelernten Mädchen. Nicht nur in Südtirol fanden sie ganzjährig, meist aber nur saisonal eine Beschäftigung als Kellnerin, Serviererin, Stubenmädchen und Köchin in Dorfgaststätten, Jausenstationen, Hotels und Pensionen. Zahlreiche Mädchen aus dem Obervinschgau verließen ihre Heimatorte in Richtung Bormio oder Schweiz, wo der Tourismus ebenfalls boomte.68 Hier wie dort wurden sie meist ohne Anmeldung und Versicherung eingestellt. Die Arbeitsanforderungen waren hart. Marianne Parth, die Köchin in einem Gasthof auf dem Reschen war: „In den Gasthäusern hat es keinen freien Tag gegeben. Da hab ich von sechs in der Früh bis zwölf Uhr in der Nacht gearbeitet.“
Das Gastgewerbe bot den Mädchen immerhin ein gewisses Maß an beruflichen und finanziellen Aufstiegsmöglichkeiten. Sofia Höchenberger zu ihrem Werdegang im Gastgewerbe: „Nach der Schule habe ich bald in der Pension Bernina in Meran gearbeitet. In der Pension hatten so ungefähr 24 Personen Platz. Da war ich 16 Jahre alt, ich war Küchenmädchen, ich habe immer abgespült. Irgendwann habe ich gesagt, jetzt habe ich genug vom Abspülen. Drei Jahre habe ich abgespült. Ich habe so 80 Lire verdient. Dann hat mich die Chefin aufgebessert, sie meinte, ich müsse jeden Dreck machen und hätte mir mehr verdient. Im Sommer habe ich im Gampenhof gearbeitet, das gehörte zur Bernina, und im Sommer in der Bernina. Dann habe ich im Hotel Excelsior als Chefmädchen gearbeitet, da hab ich mehr verdient und mehr gelernt. Ich war zweite Köchin. Dazwischen habe ich in der Pension Neuhaus als Extramädchen gearbeitet, da war ich der Köchin zugeteilt.“ Als Köchin zu arbeiten bedeutete nicht nur mehr Lohn, sondern auch eine bessere Position in der Hierarchie des Personals. Anna Frank – sie arbeitete in einem großen Hotel in St. Moritz – erlebte es als große Erleichterung, als sie nicht mehr abspülen musste und man sie anstelle ihrer Schwester dem Chefkoch als Gehilfin zuwies.
Die Mädchen erlebten ihre Beschäftigung unterschiedlich: Anna Egger äußert sich nicht besonders begeistert über ihre Anstellung als Kellnerin in einer Gastwirtschaft in Brixen: „Das hat mir gar nicht gefallen. Da bin ich nicht lange geblieben. Ich war ein junges Mädchen, und diese Burschen und Männer hatten nichts anderes im Sinn, als dich zu betatschen. Und das konnte ich nicht leiden. Ich bin kein halbes Jahr dort geblieben. Das Gehalt war auch nicht viel höher als das eines Hausmädchens. Es ist halt noch das Trinkgeld dazugekommen, aber ich habe nicht viel Trinkgeld bekommen, weil ich mich nicht habe betatschen lassen.“ Die Arbeit im Gastgewerbe galt als anrüchig, einmal wegen der Anmache der männlichen Gäste, aber auch wegen der Nähe zu den „Fremden“, die den Mädchen Freizügigkeit und Unsittlichkeit vorlebten. Anna Pinggera hingegen fand ihre Arbeit als Kellnerin vielleicht gerade deshalb interessant, weil sie „da viele Leute kennen lernte und viele auch schon kannte“.
Als der Tourismus in Südtirol infolge der Weltwirtschaftskrise in den 30er Jahren und dann durch Option und Krieg einen starken Einbruch erlebte69, fielen für die Mädchen viele Arbeitsplätze weg. „Deshalb haben sie die Mädchen überall herumgeschickt zum Verdienen“, meint Maria Wunderer. Im deutschsprachigen Ausland gab es jedoch wenig Nachfrage, auch waren die Einreisebedingungen zeitweise eingeschränkt.70 Wesentlich leichter erwies sich der Zugang zu Arbeitsstellen in italienischen Städten.
In den 50er und 60er Jahren, der Periode der zweiten Wanderungswelle, als andernorts bereits das „Wirtschaftswunder“ einsetzte, verharrte Südtirol in seinem vorindustriellen Zustand. Die Abwanderung aus der Landwirtschaft, die hier im Vergleich zu anderen Regionen wesentlich später begann, und die Rückkehr Tausender Umsiedler nach Südtirol ließen die Zahl der Arbeit Suchenden in die Höhe schnellen. Arbeitsplätze in der Industrie gab es für die deutsche Bevölkerung nur wenige, auch auf Grund der Zuwanderung von Arbeiterfamilien aus den italienischen Provinzen. Die Möglichkeiten der Schul- und Berufsbildung blieben weiterhin eingeschränkt, da das Schulwesen nach 1945 erst wieder neu aufgebaut werden musste. Das Lehrlingswesen blieb noch weitgehend ungeregelt. Mitte der 50er Jahre machten nur 8 % der Südtiroler Jugendlichen eine Lehrausbildung, 11,8 % besuchten eine weiterbildende Schule, 71,4 % nahmen nach dem Abschluss der achtjährigen Volksschule eine Arbeit an.71 Vielen Mädchen erging es wie Erika Wallnöfer, Jahrgang 1936, aus Prad: „Als ich ausgeschult war, wusste die Mutter nicht, was sie mit mir machen sollte, eine Dienststelle konnte ich noch nicht annehmen.“ Sie erfuhr von der Möglichkeit, in Rom bei den Schwestern „Unserer lieben Frau“ in der Via Como eine Haushaltungsschule zu besuchen. „Dann haben ich und meine Freundin beschlossen, zusammen nach Rom zu gehen. Die Schwestern ‚Unserer lieben Frau‘ hatten eine Pension, sie hatten Studentinnen. Die Praderinnen waren fast alle bei diesen Schwestern in Rom, auch in Mailand und in Turin in der Via Boscovich. Wir waren 18 Monate bei den Schwestern. Nach den Schwestern sind wir dann privat zu Familien, um auf Kinder aufzupassen und um Italienisch zu lernen.“ Zahlreiche Mädchen nutzten diese Gelegenheit. Andere fanden wieder im Gastgewerbe in Südtirol und auch auswärts Arbeit. Dora Wallnöfer lernte in Bozen in der Goldenen Rose kochen: „Das wollte ich zwar nicht, aber ich bin trotzdem gegangen. Ich musste in der Küche alles machen, ich musste auch eine Wohnung putzen, einmal in der Woche hatte ich einen halben Tag frei. Ich habe aber keinen Lohn bekommen. Als mir die Schuhe kaputt gegangen sind, musste ich sie mit einem Spagat zusammenbinden. Nach drei Monaten beschloss ich zu gehen. Ich wollte irgendwohin, wo ich Geld verdiente.“
Die Arbeit im Gastgewerbe war für viele Frauen in Südtirol eine attraktive Alternative zum Dienst bei einem Bauern – nicht nur weil der Lohn in der Regel höher war
Dienstzeugnis von Emma Sagmeister: „In der besagten kurzen Zeit hat sie viel gelernt und verdient es daher, wärmstens empfohlen zu werden.“ Ein gutes Zeugnis war bei einem Wechsel des Arbeitsplatzes von großer Bedeutung.
Der Lockruf der Stadt
Eine Stelle in der Stadt war mit der Vorstellung eines interessanten und abwechslungsreichen Lebens verknüpft. Die großen wirtschaftlichen Zentren in Europa, darunter Mailand, Genua, Turin, Florenz, Rom oder Neapel, zogen Menschen an. Zwischen 1870 und 1900 verdoppelte sich die Einwohnerzahl der italienischen Hauptstadt auf 420.000. Voraussetzung für das Städtewachstum war die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich intensivierende Landflucht. Die Städte genossen ein enormes Prestige und weckten Hoffnungen auf bessere Lebensbedingungen und sozialen Aufstieg.1 Auch junge vom Land stammende Mädchen drängten in die Stadt. Die Dienstmädchenwanderung wurde zur Möglichkeit für weibliche Angehörige der ländlichen Unterschicht, am Urbanisierungsprozess teilzunehmen.2
Tiefgreifende gesellschaftspolitische Wandlungen waren auch im Vereinten Königreich Italien im Gang: Der Industriekapitalismus hatte die Agrarwirtschaft abgelöst, die ständisch organisierte Gesellschaft wurde zur Klassengesellschaft.3 Regionen wie die Lombardei, Piemont oder Ligurien waren schon in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts wirtschaftlich weit stärker entwickelt als süditalienische Gebiete. Die Zentren Norditaliens waren Mailand, Turin und Genua. Mit drei Millionen Einwohnern zählte die Lombardei zu den fortschrittlichsten und aktivsten Regionen des neuen Staates. Mit ihren kapitalstarken Oberschichten, ihren Industrien, Verkehrsverbindungen und vor allem technischen Ausbildungsmöglichkeiten bildeten diese drei Städte die Drehscheibe der Modernisierung. Mailand mit seinen Beziehungen zur reichen Schweiz und dem fortschrittlichen Frankreich wurde zum Stützpunkt der ausländischen Industrien, die auf den italienischen Markt drängten. Mit der Einweihung des Schweizer Gotthardtunnels 1882 wurde die Hauptstadt der Lombardei zudem zum strategischen Nadelöhr der italienischen Eisenbahn. Demgegenüber fiel der strukturarme Süden des Landes von einer Krise in die nächste. Die Zugverbindungen zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden waren schlecht und langsam.4
Die norditalienischen Städte waren auch der stärkste Magnet für Haus- und Kindermädchen aus Südtirol. Beliebt waren außerdem Florenz und Rom. Aber auch im Süden Italiens nahmen Südtirolerinnen eine Stelle an, so in Lecce, Neapel, Messina und Palermo. Für manche verhieß eine Dienststelle in der Stadt die Möglichkeit, der Enge des Dorfes und der Strenge des Elternhauses zu entfliehen. Einige hofften zumindest den Weg in Richtung finanzielle Selbstständigkeit beschreiten zu können. Arbeiten und hart zupacken hatten die Mädchen schon in Südtirol gelernt, nun war es für sie an der Zeit, eine gewisse individuelle und finanzielle Selbstständigkeit zu erlangen.5 In der Stadt, so hieß es, seien die Löhne höher und die Chancen größer, eine Stelle bei einer „herrschaftlichen“ Familie zu finden, wo sich die Arbeit auf den Haushalt beschränkte und vielleicht sogar mit anderen Angestellten, einem Zimmermädchen, einer Köchin oder Putzfrau, geteilt werden konnte. Kurzum, man hoffte auf eine leichtere Arbeit, einen höheren Lohn, eine bessere Ernährung und auf neue Erfahrungen durch den Eintritt in eine nicht-bäuerliche Welt. Der Trentiner Historiker Diego Leoni beschreibt diese Motivlage folgendermaßen: „Innanzitutto, la sopravvivenza. Il tema del cibo, del mangiare è sempre presente. (…) Al secondo posto però, viene messa quasi sempre la scelta di libertà rispetto al lavoro di campagna, alla vita chiusa del paese, alla mentalità dei compaesani, alla famiglia.“6
Nach der damals geltenden Auffassung waren Stellen im privaten Haushalt außerdem oft besser angesehen als die Arbeit in Gastwirtschaften oder Hotels.
Zielorte der Südtiroler Dienstmädchen von 1920 bis 1945
Zwischen Wunsch und Zufall – Wege in die Stadt
Die unmittelbaren Beweggründe, warum einige Südtiroler Mädchen die Möglichkeit einer Stelle als Hausmädchen in einer italienischen Stadt wahrnahmen und andere nicht, sind im persönlichen Umfeld der Mädchen und in ihrem Charakter zu suchen. Für die meisten Mädchen bestand zwar die Notwendigkeit einer Erwerbsarbeit, trotzdem erforderte es Mut, Neugierde und den Wunsch nach Veränderung, zumal einige junge Frauen hier in Südtirol schon in einem Arbeitsverhältnis standen. Trotz der einengenden wirtschaftlichen, sozialen und politischen Gegebenheiten offenbarten die Mädchen Lebensfreude, entwickelten eigene Lebensentwürfe und versuchten diese auch in dem vorgegebenen Rahmen zu verwirklichen. „Wir waren voller Hoffnungen“, drückte es Maria Riedl aus. Maria Stolzlechner „wollte einfach die Welt kennen lernen“. Emma Terza träumte sogar davon, auf einem Schiff zu arbeiten. Schließlich entschloss sie sich eines Tages, nach Rom zu gehen und sich die Welt anzuschauen. Sie wollte „mal rauskommen und etwas sehen“, ein Wunsch, der viele bewegte.
Mit der Angliederung Südtirols an Italien eröffnete sich für die Südtiroler Mädchen ein neuer Arbeitsmarkt mit starker Nachfrage nach Hauspersonal. Für die vielen kaum ausgebildeten Mädchen aus Südtirol bot er Arbeitsstellen, die im Gegensatz zur Schweiz, zu Österreich und Deutschland ohne bürokratische Hürden, wie etwa Ausreise- und Aufenthaltsgenehmigungen, angetreten werden konnten.
Der größere Teil der Mädchen der ersten Wanderungswelle verließ Südtirol in Richtung Süden bereits vor der Volljährigkeit. Diese lag damals bei 21 Jahren. Die meisten waren zwischen 17 und 19 Jahre alt und somit in einem Alter, in dem sie einerseits schon einige Arbeitserfahrungen hinter sich hatten, andererseits aber für eine Heirat noch zu jung waren.7 Einzelne von ihnen waren bereits in Südtirol liiert oder hatten ein uneheliches Kind. In den 50er Jahren waren es neben den vielen jungen Mädchen auch ältere Frauen, die bereits vor dem Krieg in italienischen Städten gearbeitet hatten und nun erneut dort eine Dienststelle antraten.8
Beeindruckend ist die Entschlossenheit, mit der die erst dreizehnjährige Anna Unterthiner, die bei einer Tante aufgewachsen war, für sich die Entscheidung traf, eine Stelle in Como anzutreten: „Und damals sind bei uns die Faschisten aufgekommen, und da war es so, dass wenn du in ein Büro oder so gegangen bist und nicht Italienisch konntest, dann hast du nichts erreicht. Die haben nichts verstanden oder nichts verstehen wollen. Und deshalb wollte ich Italienisch lernen. Mit meinen Eltern habe ich gar nicht darüber geredet, aber ich habe mich schon von ihnen verabschiedet, als ich nach Como gefahren bin. Es war ihnen gar nicht recht, aber ich hatte ja schon alles ausgemacht. Meine Tante wollte mich zuerst auch nicht gehen lassen, aber sie hat dann schon verstanden, dass ich Italienisch lernen will. Aber die Nachbarn – böse Zungen –, die haben zu meiner Tante immer gesagt: ‚Das Madl siehst du nie mehr.‘ Eine ganze Woche lang haben sie so geredet, bis die erste Nachricht aus Como gekommen ist, als ich der Tante einen Brief geschrieben habe. Ich hätte noch in die Schule gehen müssen. Ich bin dann nämlich zu meiner Lehrerin, das war eine Klosterfrau, gegangen, um mich zu verabschieden. Dann hat sie zu mir gesagt: ‚Du musst ja noch zur Schule gehen.‘ Ich habe dann gesagt, das tu ich schon unten.“
Für Rosa Moser stand fest: „Ich wollte nicht bei einem Bauern in Dienst gehen.“ Vor allem deshalb nahm sie das Angebot einer Familie aus Bologna an, die in Astfeld auf Urlaub weilte. Dass viele Mädchen der bäuerlichen Arbeit entkommen wollten, bestätigt auch eine Aussage Edith Gentas: „Viele sind von zu Hause weg, weil sie nicht auf den Gütern arbeiten wollten, das war ja auch eine Schinderei.“
Als sich die sechzehnjährige Toni Wallnöfer an ihrem Arbeitsplatz in der Schweiz als Kindermädchen „langweilte“, wie sie es ausdrückt, beschloss sie nach Rom zu gehen. Auch wenn sie es nicht ausdrücklich erwähnt, so knüpfte sie wohl an diesen Entschluss die Vorstellung viel versprechender und abwechslungsreicher Möglichkeiten.
Kreszenzia Mair, die von einem Hof oberhalb von Schenna stammte, wollte immer schon weit weg, erzählt ihre Nichte: „Kreszenzia hatte eine Lücke zwischen den Schneidezähnen. Früher hat man gesagt, wer die Zähne weit auseinander hat, der kommt weit herum.“
Anna Wunderer ging bereits in den 20er Jahren gegen den Willen des Vaters nach Mailand. Ihre Schwester Maria erinnert sich: „Die Schwester Anna arbeitete in Bormio in einem Hotel, da waren italienische Gäste. Als sie von dort zurückgekommen ist, es war etwa 1924/25, hat sie gesagt, sie geht nach Mailand. Sie hatte erfahren, dass man dort als Hausmädchen arbeiten konnte. Die Mutter wollte sie nicht gehen lassen. Als der Vater davon erfuhr, da hat er sie verhauen. In der Früh ist sie dann abgehauen, zum ersten Zug, ohne etwas zu sagen.“ Maria selbst ging 1930 nach Mailand: „Weil die anderen alle gegangen sind, wollte ich auch einmal gehen. Ich wollte auch sehen, wie es ist, und ich wollte auch etwas verdienen. Ich hätte nicht müssen. Die Mutter hat mich zwar gehen lassen, aber sie hat gemeint, es würde mir sicher verdrießen. Ich bin aber trotzdem gefahren.“
Freiheit, Stadtluft, raus aus der Enge und Härte des eigenen Landes – diese Motive waren auch für die vielen Mädchen aus Prad wichtig. Bekannte, Freundinnen oder Schwestern berichteten in Briefen oder nach der Rückkehr über ihre positiven Erfahrungen, über die besseren Arbeitsbedingungen und die höheren Löhne.
Sophie Wallnöfer, die in einem Hotel bei San Remo arbeitete, schrieb ihrer Schwester, sie solle doch nachkommen, in Bordighera müsse man nicht ständig Holzböden schrubben wie in Sulden. Hedwig kam der Aufforderung nach. Auch Maria Ortler folgte begeistert dem Angebot ihrer Freundin: „Als ich 16 war, hatte ich eine Freundin, die gleich alt war wie ich, die Rosa Pinggera aus Prad. Und die ist nach Mailand gekommen, wie weiß ich nicht mehr. Die hat mir geschrieben, bei ihr wäre ein Platz frei, wenn ich kommen möchte, sie suchen jemand. Ja nichts wie los, wir waren acht Kinder, wir haben das Geld gebraucht, das war im Jahr ’37. Und dann bin ich dahin gekommen.“
Auf einer Postkarte an Rosa Kobler, datiert auf den 7. Dezember 1924, drückt eine Verwandte ihre Sehnsucht nach dem südlichen Florenz aus: „Wie geht es mit dem Ital. Lernen. Ich möchte auch gerne wieder hinunter, vielleicht könntest mir eine Stelle verschaffen. Firenze muß sehr schön sein, denn sie heißt doch die Stadt der Blumen.“ Maria Brenner hegte, wie sie sagt, schon seit der Schulzeit den Wunsch nach Italien zu gehen, vor allem Rom schien ihr ein erstrebenswerter Aufenthaltsort zu sein. Die Ewige Stadt übte wohl auch auf die Südtiroler Mädchen eine besondere Anziehungskraft aus, war sie doch religiöses Zentrum und Sitz des Papstes. Einmal einen Blick aus unmittelbarer Nähe auf diesen werfen zu können, war der Wunsch vieler.
Irma Kuen und ihre Schwester Erna verlockte ein Plakat in Meran mit der Aufschrift „Suchen Mädchen für Mailand“, das Abenteuer zu wagen. Der Vater von Rebekka Rungg war überzeugt, dass seine Töchter ausreichend versorgt wären und die Arbeit daheim für alle reichte: „Es hat immer nur geheißen, ihr habt Arbeit und zu essen. Das war alles. Wir sind dann von uns aus gegangen, damit wir endlich zu einem Gewand kommen. Die Bernadette hat angefangen, sie ist als Erste nach Mailand. Und so haben wir uns abgewechselt. Einmal ist die eine, einmal die andere weg. Unser Bruder Heinrich hat immer gesagt: ‚Warum gehen sie denn immer? Sie haben’s wie die Schwalben, wie sie fliegen sie aus, bleibt doch da, immer in die Walsch hinunter, geht doch einmal in die Schweiz.‘ Wir waren nie in der Schweiz. Die eine hat die andere hinuntergezogen.“
Neben dem Lohn sahen viele auch die Möglichkeit, Italienisch zu lernen. So auch Johanna Pamer: „Ich war immer schon im Gastgewerbe als Kellnerin und hab halt nicht so gut Italienisch sprechen können. Und da hab ich mir gedacht, ich geh zu einer italienischen Herrschaft, damit ich die Sprache besser lerne. Eine andere Gelegenheit gab es damals nicht.“ Anna Tappeiner aus Laas wollte eigentlich nach Genf gehen, um dort Französisch zu lernen. Als man ihr riet, zuerst ein bisschen Italienisch zu lernen, was die Aneignung der französischen Sprache erleichtern würde, suchte sie sich eine Stelle im oberitalienischen Raum.
Nicht nur die Beherrschung der italienischen Sprache war im Südtiroler Gastgewerbe erwünscht. In den 30er Jahren suchte man im Anzeigenteil des Katholischen Sonntagsblattes nach Köchinnen, „welche perfekt die italienische Küche“ beherrschten.9 Auch das mag einige veranlasst haben, sich nach einer Stelle in einer italienischen Stadt umzusehen.
Politische Gegebenheiten in Südtirol waren die Ursache dafür, dass es Berta, die Schwester von Anna Tappeiner, nach Rescaldina bei Mailand verschlug. Sie begleitete ihre Tante, eine Lehrerin, als diese vom faschistischen Regime dorthin zwangsversetzt wurde.10
Bei Rosina Lechner aus dem Pustertal waren es die Folgen einer Kinderlähmung, die sie bewogen, eine Stelle in Florenz anzunehmen: „Gegangen bin ich vor allem wegen meinem Fuß, weil das einfach so schlimm war bei uns im Winter. Ich wollte irgendwohin, wo es keinen Schnee gibt.“
Nicht immer waren die Mädchen in ihrer Entscheidung frei. Anna Frank wurde von ihrem Vater gezwungen, eine Stelle in Rom anzunehmen, nachdem er ohne ihr Wissen bereits Abmachungen getroffen hatte. Bei Paula Nössing aus Kastelruth wurde die Entscheidung, in den Dienst zu gehen, zwar in der Familie abgesprochen, den endgültigen Entschluss fällte der Vater: „Ein kinderloses Ehepaar aus Mortara wollte unbedingt ein deutsches Dienstmädchen, weil sie gemeint haben, die würde besser arbeiten. Mein Vater wollte, dass ich gehe. Er wollte, dass ich was sehe, dass ich von zu Hause wegkomme.“
Auch bei Helena Blaas entschied das Familienoberhaupt für die Tochter: „Mein Vater hat in Meran viele Leute gekannt. Einer Frau hat er geschrieben, dass ich was verdienen muss. Diese Frau hat eine Tochter gehabt, die bei der Familie Frank in Rom gearbeitet hat. So bin ich nach Rom gekommen. Der Vater hat alles für mich gemacht.“
Als ein Offizier, der in Trafoi stationiert war, ein Dienstmädchen für Bekannte in Rom suchte, erfuhr die Mutter von Hedwig Platter davon: „Die Mutter hat dann gesagt, sie will mich nicht überreden, aber wenn, dann könnte nur ich als Älteste gehen. Die anderen Schwestern waren jünger und wären vielleicht auch nicht gegangen. Und ich habe mir gedacht: ja, dann sehe ich halt einmal ein Stück Welt.“ Italienische Urlauber sprachen die Mutter von Maria Erlacher an: „Der Senator, der war komplett blind, er und seine Frau und seine Schwägerin als Begleiterin haben in St. Vigil ihren Urlaub verbracht. Für drei Monate hatten die Herrschaften eine kleine Villa in St. Vigil gemietet. Und der Senator hat meine Mutter gefragt, ob sie nicht ein Mädl wüsste. So hab ich mich vorstellen müssen, und ich hab ihnen gleich gut gefallen. Dann bin ich gegangen, ich war noch nicht ganz 17.“
Auch moralische Brandmarkungen durch die Dorfgemeinschaft veranlassten Mädchen, ihren Heimatort zu verlassen und dorthin zu ziehen, wo niemand sie kannte. Paula Wallnöfer trieb die Erkenntnis „Bei den Herrschaften bin ich immer ein Mensch gewesen!“ immer wieder in die Fremde. Sie hatte mit 15 Jahren ein Kind zur Welt und damit „Schande“ über die Familie gebracht. Von den Leuten im Ort erfuhr sie keine Wertschätzung mehr. Dieselbe bittere Erfahrung machte auch Maria Blaas, ebenfalls Mutter eines „ledigen“ Kindes. Wie Paula Wallnöfer ließ sie ihr Kind in der Obhut ihrer Eltern zurück, die Trennung war eine schmerzvolle Erfahrung mehr.
Die 17-jährige Antonia Auer überließ hingegen die Pflege ihres einjährigen Sohnes gern ihrer Mutter: „Es ist mir nicht schwer gefallen, mich dann von meinem Kind zu trennen, wie ich nach Mailand gegangen bin, ich bin gern gegangen. Auf das Kind aufzupassen, das hab ich nicht so gern getan, aber gern hatte ich den Karl immer. Ich wollte einfach arbeiten, für mich und für den Karl.“
Die meisten Frauen sehen in ihrer Abwanderung in eine italienische Stadt nichts Außergewöhnliches. Anna Ortner: „Das war zu der damaligen Zeit etwas durchaus Übliches. Viele Mädchen sind in meinem Alter nach Italien gegangen, das war nichts Besonderes.“ Auch Regina Walcher meint rückblickend: „Denn wer im Stande war zu arbeiten, ging auch gern fort, denn dann konnte man selbst etwas verdienen, konnte sich auch ein Kleid oder Schuhe kaufen, sodass man sich unter die Leute trauen konnte.“ Maria Jesacher, die in den 50er Jahren nach Rom ging, zeigt das Dilemma zwischen den Arbeitsanforderungen zu Hause und dem Wunsch nach besseren Arbeitsbedingungen: „Ja, das war damals halt so. Wenn man nicht das ganze Jahr eine Dienststelle annehmen wollte, dann gab es schon Saisonstellen im Gastgewerbe. Aber da musste man sich Sommer und Winter verpflichten, und das wäre bei uns nicht gegangen. Im Sommer mussten wir ja auf dem Feld helfen, und da durften wir nur im Winter weg vom Hof. Freundinnen haben mich dann dazu überredet, dass ich den Winter über mit nach Rom gehe.“
„… und hab daraus ersehen daß du in Mailand bist. Im Herbst werde ich auch nachkommen …“ Postkarte an Emma Sagmeister von ihrer Schwester Ida.
„… wie geht es mit dem Ital. lernen? Ich möchte auch gerne wieder hinunter, vielleicht könntest mir eine Stelle verschaffen? Firenze muß sehr schön sein …“ Postkarte an Rosa Kobler von einer Kusine.