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Kitabı oku: «Fridolins heimliche Ehe», sayfa 11

Yazı tipi:

»Ist das viel?«

»Es ist mehr als genug. Du wirst die Ehre haben. dich auf dieses Sofa zu legen; – so. Ich deck' dich zu. Das Bleiwasser ist da; gut. Erster Umschlag. Das kühlt? – Ich werd' wechseln, so oft es nützlich ist. Unser Rezept heißt: Bleiwasser und Geduld!«

»Ich werd' Geduld haben, Leopold,« sagte die Kleine sanft. »Leopold, ganz gewiß. Du bist so nett und so gut!«

»Also auf Wiedersehn,« sagte er und ging ins andere Zimmer, Ottilien nach, die bei Judicas Mitteilungen über Fridolin geräuschlos hinausgegangen war. »Fräulein Ottilie!« sagte er mit gedämpfter Stimme, indem er vor ihr stehen blieb. »Verzeihen Sie. Nicht daß ich an das rühren will, was – hinter uns liegt. Aber – eine Frage. Eine einzige gestatten Sie mir.«

»Bitte —!« flüsterte sie.

»Die Kleine sprach vorhin von einer ›heimlichen Ehre‹. Was weiß dieses Kind —? Rätselhaft. Und – was wissen Sie?«

»Diese selbe Frage schwebte mir auf den Lippen,« antwortete sie; »von mir zu Ihnen. Aber ich hätte, fürcht' ich, den Mut nicht gehabt. Schauen Sie mich nicht so an; ich weiß, ich bin wieder rot. In – in irgend einem Brief hab' ich von einer ›heimlichen Ehe‹ gelesen, ohne ein Wort zu verstehen. Können Sie mir sagen, was das ist?«

»Ich will annehmen,« erwiderte Leopold, indem er die klugen Augen auf sie heftete, – »ich will annehmen, der Verfasser des Briefs sei eben wegen dieser ›heimlichen Ehe‹ plötzlich abgereist.«

»Nehmen Sie es an.«

»Und dieses Rätsel soll ich Ihnen lösen —«

»Wenn Sie können; ich bitte.«

»Fräulein Ottilie! Ein – ein jeder Mensch – Aber das Bleiwasser. Entschuldigen Sie einen Augenblick! – — – Hier, meine brave Patientin! eine neue Kühlung. Nun denk an etwas Angenehmes, meine kleine Judica, und lieg still! – — – Sie liegt still. Sie hat müde Augen —«

»Heute nacht schlief sie wenig,« erwiderte Ottilie.

»Also ich fahre fort,« sagte Leopold; immer die Stimme dämpfend. »Ich glaub' aber, ich kann Ihnen das so im Stehen nicht sagen; bitte, setzen Sie sich.

Ein jeder Mensch – — Ein jeder Mensch ist ein Ganzes, hat also zwei Hälften; nicht wahr, das ist klar. Jener Mensch hat zwei sonderbare Hälften: eine männliche – und eine weibliche. Nun, und die eine ist mit der andern verheiratet. Das ist seine ›heimliche Ehe‹.«

Ottilie sah ihm lange ins Gesicht, ohne etwas zu sagen, ohne die Lippen zu bewegen. Dann nickte sie mehrmals, fast unmerklich, mit dem Kopfe.

»Sie verstehen mich?«

»Ich verstehe Sie,« gab sie leise zur Antwort.

»Ohne daß es – daß es Sie erschüttert?«

Sie erglühte, doch sie lächelte sanft. »Ich hab' vor allem das Verlangen nach Wahrheit,« flüsterte sie.

»Sie denken nicht übel von mir, daß ich es Ihnen sagte?«

»Nein.«

»Sie sehen also, diese heimliche Ehe ist ein psychologischer Zustand; weiter nichts. Vielleicht etwas Aehnliches, wie meine heimliche Verlobtheit – — Das Bleiwasser. Sie entschuldigen! – — – Hier, meine kleine Judica. Wahrhaftig! sie schläft. Ob es sie aufweckt, wenn ich den Umschlag wechsle? – Nein. Himmlischer Kinderschlaf! – — – Wir haben schon Hilfe,« sagte er in seinem leisen, ruhigen Baß, als er zu Ottilie zurückkam. »Morpheus ist schon da.«

Ottilie sah ihn mit stiller Dankbarkeit an. Ihr Atem eilte aber, ihr Busen hob sich stark. Die Gedanken in ihr schienen sich zu jagen. »Nun hätt' ich noch eine Frage,« flüsterte sie endlich. »Lachen Sie mich nicht aus.«

»Es ist durchaus keine Gefahr —!« murmelte er, indem er sich wieder setzte und sie ansah.

»Ihre ›heimliche Verlobtheit‹ – — Was für einen psychologischen Zustand meinten Sie damit? – Nicht wahr, ein neugieriges Frauenzimmer; das denken Sie jetzt.«

»Reden Sie nicht so! – Was sollte ich Ihnen nicht sagen? Ihnen sag' ich alles. Meine ›heimliche Verlobtheit‹? – Ich bin vielleicht ein kühler, nüchterner, phantasieloser Mensch, Fräulein Ottilie; aber was hilft das: die Natur in uns hat ihren Willen, ihre Phantasie. Man will mich ergänzen, Fräulein Ottilie; – ich meine, in mir die Natur. Ich hab' nämlich in mir keine weibliche Hälfte; – also trachtet man in mir danach, also träumt man davon. In stillen Stunden träumt man in mir von ihr. Nun, – und dann kommt sie. Ich fühle, daß sie da ist; ich sehe, ich höre sie; wir – lieben uns. Ich meine das unvollständige Ich in mir und seine Ergänzung. Also seine Braut. Das – nun ja, das ist meine ›heimliche Verlobtheit‹; – aber verstehen Sie das? Nicht wahr, mein Fräulein, Sie verstehen es nicht.«

»Warum sollt' ich nicht,« sagte sie, ohne ihn anzusehn.

»Es war also eine abgemachte Sache,« fing er wieder an und bemühte sich zu lächeln. »Ich glaubte an sie. Ich dachte: wenn ich sie finde, verstehen wir uns sogleich; wir ergänzen uns einfach; – und ich werd' sie finden, das ist gewiß! – Dann kam jener Abend – — Lachen Sie über mich; es thut nichts. Jener Abend in Berlin, wo ich Sie sah. Ich hätte geschworen, Sie sind es. Ich sagte es Ihnen; – nicht wahr, ich hab' es Ihnen gesagt? Und darauf hielten Sie mich für einen Narren; natürlich. Nur Sie? Ich selbst! – Darauf reisten Sie ab. In mir blieb man dabei: sie ist es; sie ist es! Ich reiste Ihnen nach. Ich – — Und so kam alles – — Und nun wissen Sie alles, Fräulein Ottilie; – und nun, bitte ich, lassen Sie uns vom Wetter sprechen.«

VII

Leopold stand auf. Er ging durchs Zimmer, von Ottilien abgewandt; dann trat er ans Fenster. Ottilie blieb still. Sie saß und rührte sich nicht.

Endlich verließ er das Fenster und trat wieder ins andere Zimmer, zur schlafenden Judica. Als er zurückkam, saß Ottilie noch immer auf demselben Fleck. »Sie schläft mit viel Talent,« sagte er ruhig. »Wir haben aber noch Geschäfte, Fräulein. Soll ich nicht an den – Professor telegraphieren, wo Sie und Judica sind?«

»Wohin?« antwortete sie. »Ich weiß nicht, wo er ist.«

»Also aufs Geratewohl nach Berlin, in seine Wohnung. Nicht wahr?«

»Gewiß. Alles, wie Sie wollen. Alles, was Sie wollen, ist gut.«

»Dann wollte ich wohl noch eins! – Daß Sie ausgehn, Fräulein. In die Luft. Sie sehn übel aus; – ich rede schon wieder als Arzt,« fetzte er mit einem leicht gemeinten, doch aus Mißgriff ernsthaften, innigen Lächeln hinzu.

»Ich danke Ihnen,« sagte sie herzlich. »Ruhe war' mir besser, glaub' ich. All diese Nächte hab' ich – schlecht geschlafen . . . Lassen Sie mich hier!«

»Dann sollten Sie versuchen, ob Ihnen die horizontale Lage nicht gut thäte, und das Schließen der Augen. Auf dem Diwan hier.«

»Und Judica —?«

»Haben wir denn nicht mich? – Ich werd' mich teilen, Fräulein, und abwechselnd die Rose im anderen Zimmer und die blasse Lilie in diesem Zimmer bewachen. Verzeihen Sie; ein schlechter Witz unter aller Würde! Ich schäme mich. Es scheint, der Kopf wird immer schwach, wenn«

»Das Herz,« wollte er fortfahren; er brach aber ab. Er stand wieder in verschwiegener, ruhiger Haltung da. – »Noch ein Geschäft, wollt' ich sagen!«

»Was für eins?«

»Dieser – Frivolin hat in Riva, und also natürlich auch später, Geld für Sie ausgelegt. Ich habe bei mir; genug. Wär' es Ihnen nicht lieber, Fräulein, mein Schuldner zu sein? Sagen Sie mir nur, was, wieviel er für Sie ausgelegt hat; ich schreib' ihm ein Billet und schick' ihm das Geld – und diesen Hut, den er hier hat stehen lassen – durch den Kellner auf sein Zimmer.«

»Sie sind sehr gütig,« sagte sie, halb erfreut, halb erschrocken. »Was für eine Last wär' mir von der Seele; – aber die Berechnung!«

»Sie haben keine Notizen —?«

»Doch; alles notiert. – Aber es zusammenzurechnen – —« Sie lächelte hilflos. »Ich hätte jetzt

nicht den Kopf dazu; ich bin zu müde, zu dumm.«

»Wollen Sie mir Ihre Notizen anvertrauen? Zu Bruchrechnungen, glaub' ich, wär' ich heut auch nicht fähig; aber einfach addieren und multiplizieren kann ich wohl noch. Legen Sie sich schlafen. Ich bitte, denken Sie, ich sei heute Ihr Arzt. Wollen Sie das denken, Fräulein Ottilie?«

»Ja,« flüsterte sie. Nachdem sie ihm ihr kleines Taschenbuch gegeben, streckte sie sich aus. Nur noch einen stillen, dankbaren Blick warf sie ihm zu; dann schloß sie die Augen.

Verlangte sie mehr nach Schlaf, oder danach, mit sich allein zu sein? – Wer weiß es. Nach einigen Versuchen, die beste Lage zu finden, lag sie still, als schliefe sie nun fest. Leopold betrachtete sie eine Weile; dann ging er leise zu Judica hinein, legte ihr wieder Bleiwasser aufs Gesicht, und zog sich die Stiefel von den Füßen. Dann nahm er aus seiner Reisetasche ein Paar Morgenschuhe, trat hinein und freute sich, wie leise er nun ging. Er rechnete, schrieb das Billet an Frivolin und das Telegramm, trug beides geräuschlos hinaus; auch Frivolins Hut. Dann saß er wieder da; horchte, pflegte und schwieg.

Was dachte er? – Wer weiß es. Von zehn zu zehn Minuten ging er – man kann sagen, unhörbar – zu Judica hinein; sonderbarerweise kam er aber immer wieder ins andre Zimmer zurück. Endlich war ihm, als habe er dies nun schon mindestens zwanzig- bis dreißigmal gethan; und zu der tiefen Stille um ihn her hatte sich in ihm ein tiefer Hunger gesellt. Doch in heroischer Ruhe saß er da. Er beobachtete die verschiedenen Gefühle, die der Hunger in ihm erregte; die Rückwirkungen des öden Magens auf das vernachlässigte Gehirn; die interessanten Fortschritte der Abspannung, die thörichte Empfindlichkeit der Kopfhautnerven, die sich durch Wehthun beschwerten. Niemand wird satt von des andern Schlaf, dachte er; das war ja schon längst eine ausgemachte Sache! – Wie dieser Wurm, der Magen, sich krümmt. Wie still, wie reizend sie daliegt. Wie ähnlich. Sie ist es. Wozu leugn' ich mir's weg. Ganz umsonst! Sie ist es!

»Leopold!« rief plötzlich Judicas Stimme – jetzt wieder krähend wie ein junger Hahn – aus dem andern Zimmer. Darüber wachte Ottilie auf und fuhr in die Höhe. »Was gibt's? Was ist geschehn?« fragte sie, noch schlaftrunken.

»Nichts, als daß die Kleine sich rührt,« antwortete Leopold und trat durch die offene Thür. Ottilie stand auf und folgte ihm. Das Kind lag noch ruhig auf seinem Sofa, und hielt den Umschlag fest, damit er ihm nicht vom Gesicht herunterfalle; aber die Augen waren groß aufgeschlagen und ein heiteres, rasches Nicken begrüßte Leopold. »Du, Leopold,« sagte sie, »ich glaub', ich hab' geschlafen.«

»Und ich weiß es sogar,« sagte er und strich ihr sanft über das Köpfchen.

»Thu das noch einmal; o, das thut gut. Ganz zuletzt hab' ich geträumt! Da kam ein Mann auf mich zu, mit so einem kleinen rötlichen Schnurrbart wie Frivolin, sah mich sehr bös an und sagte, ich hätte achtunddreißig Grad und eine heimliche Ehre; und davon wachte ich auf.«

Ottilie lachte. Leopold nickte nur, als hätte das Kind etwas sehr Ernsthaftes und Verständiges gesagt, nahm ihr den warm gewordenen Umschlag ab und wechselte ihn. »Die Rose fängt schon an zu welken,« sagte er. »Wir werden bald wieder eine gesunde Judica haben; nur noch ein wenig Geduld.«

Die Kleine sah ihn an; auf einmal faßte sie seine niederhängende rechte Hand und küßte sie.

»Was machst du?« sagte er.

»O, du bist so gut!«

Ottilie, die hinter Leopold stand, murmelte etwas; aber so leise, daß er nicht hörte, was.

»Auch Tante Ottilie ist gut,« setzte Judica hinzu.

»Darauf will ich schwören!« erwiderte Leopold.

»Schwören mußt du nicht; das soll man ja nicht. Du, Leopold —«

»Was, mein Kind?«

»Mein Kind, sagst du. Aber das bin ich auch. Ich bin nun euer Kind!« – Sie lächelte sehr zufrieden, sehr vergnügt. – »Du und Tante Ottilie, ihr seid nun mein Papa und meine Mama.«

»Meinst du?«

»Gewiß! Leopold! Warum habt ihr beide eigentlich keine rechten Kinder?«

»Weil wir nicht verheiratet sind.«

»Warum heiratet ihr euch denn nicht?«

Judica verwunderte sich, daß Leopold ihr keine Antwort gab; daß er nur stumm mit seiner Hand über die ihre strich. Auch Ottilie sagte nichts. Sie rührte sich nicht. Das einzige, was sie that, war, daß sie in den neben ihr hängenden Spiegel sah; doch nicht um sich, sondern um Leopold zu betrachten . . . Eine Glocke unterbrach das Schweigen. Es war die Glocke des Hotels, die zur Tafel rief.

»Aha!« sagte Judica und richtete sich auf.

»Wollen wir nicht essen?« bemerkte nun Leopold, nachdem er einen tiefen Atemzug gethan hatte.

Ottilie nickte. »Wir essen hier, nicht wahr?« erwiderte sie. »Das heißt – ich nahm ohne weiteres au, daß Sie noch bei uns bleiben.«

»Könnt' ich Sie denn verlassen, eh Sie zu Hause sind?« antwortete er kurz.

»Zu Hause!« murmelte sie. – Ich zu Hause? Wo? setzte sie in Gedanken hinzu. – Sie faßte sich aber und ging zur Thür. »Ich werde klingeln, ich werde bestellen,« sagte sie, ohne zurückzusehn. »Bitte, nehmen Sie Platz!«

»Du —!« sagte das Kind auf einmal, als Ottilie hinaus war, und blickte Leopold in das bleiche Gesicht. »Tante Ottilie« (flüsterte sie) »gibt dir keinen Kuß; willst du von mir einen haben?« – Und in aller Unschuld hielt sie ihm ihre Lippen hin.

Er lächelte gerührt; hob sie empor, hielt sie in seinen Armen und küßte sie auf den Mund.

VIII

Die letzte Abendsonne schien ins Zimmer herein; Ottilie stand am Fenster (und die Aussicht mußte unerschöpfliche Reize für sie haben, da sie schon lange so stand); Leopold saß auf dem Diwan, in eine Zeitung vertieft, über die er hinwegblickte. Es klopfte. Er ging an die Thür. Draußen stand der Kellner, mit einem Brief in der Hand.

»Für wen?« fragte Leopold.

»Ja, wenn man das wüßte!« sagte der Kellner mit einem verzweifelt gescheiten Lächeln. »›An Ottilius Ritter, Nürnberger Hof, Leipzig.‹ Hier wohnt Fräulein Ritter; Fräulein Ottilie Ritter, wie im Fremdenbuch steht. Also das stimmt.«

»Nun ja! Geben Sie her.«

»Es steht Sie aber nicht ›Fräulein‹ da; sondern es steht Sie da nichts. Und nicht Ottilie, sondern Ottilius. Also das stimmt nicht.«

»Da wär' er also nicht an das Fräulein —«

»Erlauben Sie; dieses ›Ottilius‹ kann Sie auch ein Versehen sein; ein Schreibfehler. Es kann heißen sollen ›Ottilie‹. Also dann stimmt es.«

»Nun also! Da ist kein Zweifel —«

»Erlauben Sie; es ist doch ein Zweifel: denn wenn man an eine Dame schreibt, so schreibt man doch ›Fräulein‹; nicht wahr? Wenn man aber nicht an eine Dame schreibt —«

»So schreibt man ›Herrn‹; hier steht aber weder ›Herrn‹ noch ›Fräulein‹; also ist's einfach ein Schreibfehler. Also ›es stimmt‹!«

»Allerdings, danach stimmt es,« sagte der denkende Kellner; »und da wir keinen andern Ottilius Ritter im Hause haben, als das Fräulein —«

»So geben Sie endlich her! Guten Abend!«

Leopold nahm den Brief, trat ins Zimmer zurück und ging zu Ottilien, die (so fesselnd war die Aussicht) noch immer am Fenster stand. Jetzt erst, im vollen Licht, erkannte er die kleine Schrift auf dem Couvert: Fridolins Schrift. Eine plötzliche Bewegung lief ihm über die Hand; auch über das Gesicht. Sie verschwand aber wieder, plötzlich, wie sie kam. »Ein Brief an Sie!« sagte er mit unveränderter Stimme.

Auch Ottilie erkannte die Aufschrift. Was wird sie nun thun? dachte Leopold. – Sie schloß die Augen, als sie die kleinen Buchstaben erkannt hatte, und verzog die Lippen; dann sah sie eine Weile starr auf das Papier, offenbar in Gedanken verloren. »Herr Leopold,« sagte sie plötzlich, »bleiben Sie doch stehn. Lesen Sie mit mir.«

»Den Brief? Ich mit Ihnen?«

»Ja. Ich bitte. Wir lesen ihn zusammen; – nicht wahr? Ich halt' ihn so gegen das Licht. Können Sie sehn?«

»O gewiß, gewiß,« murmelte er. Er war bewegt; es ward ihm mühsam, zu reden. Sie sahen einander nicht an; er blickte ihr über die Schulter und las mit ihr.

»Mein teurer Ottilius!«

Jetzt sah sie ihn an. »Das ist ja doch nicht an mich!« sagte sie verwirrt.

»Bitte, lesen wir noch eine Weile weiter!«

»Es gehört zu den gewöhnlich für unpraktisch gehaltenen, in Wahrheit aber praktischen Dingen, kurz nach, kurz vor dem persönlichen Sehen zu schreiben. Bis es dem Schicksal gefallen wird. Dich, Darlehn, mir zurückzugeben (beachte die sorgsame Interpunktion) —«

»Das ist nicht an mich!« sagte Ottilie lächelnd.

»Dieses Rätsel müssen wir lösen,« erwiderte Leopold. »Müssen wir nicht?«

Sie antwortete nichts; sie las aber weiter wie er.

»Bis dahin setze ich mich hin und schreibe an Dich. Es wird der erste warme Tag in Deutschland; Thoren nennen ihn heiß. Doch was wollte ich Dir sagen? – Bei einem Blick aus die von Dir gebrauchte Bürste, die noch vor mir liegt, fällt es mir wieder ein. Also, – Ottilius!

»Als Du Dich – vor zwei Stunden war's – mit dieser Bürste hier bürstetest, sagtest Du mir, daß Dein Lebenswunsch sei, Dich ganz der Kunstwissenschaft zu ergeben, wenn Dein Geist dazu ausreiche. Dein Geist! – Ich traue ihm Großes zu, Ottilius. Ich erwarte Schönes von ihm. Ich verlange von ihm Gutes. Großes, Schönes und Gutes! – Das Schicksal gibt Dich mir für Leopold, den Treulosen, der die Kunst verließ, um sich von der großen Kokette, der Natur, an der Nase herumführen zu lassen —«

Leopold verneigte sich.

»Ja, Ottilius! Du wirst unter unsere Fahne treten, meinen Beruf ergreifen, mich fortsetzen, mein Erbe werden; mein zweites Ich. Darum sagte ich Dir noch auf der Treppe, mein Kind: ich habe jetzt wieder einen Zweck auf der Welt; Du bist dieser Zweck. Seit ich Dich vom Schicksal geschenkt bekommen habe – geliehen, wollte ich sagen; aber ich hoffe, Du bleibst mir – seitdem bin ich nicht nur stolzer, Ottilius, auch hagestolzer; hagestolzer als je. Ich hab' Dir's noch nicht gesagt, aber warum sollt' ich es Dir verschweigen, Dir; – ich liebte Deine Schwester. Es war ein Vorgefühl Deiner, glaub' ich, Ottilius —«

Als Leopold so weit gelesen hatte, stand er nicht länger still; er trat einen Schritt zur Seite, um wenigstens einiges von Ottiliens Angesicht zu sehn. War sie auch schon so weit gekommen? bis zu dieser Stelle? – Ja; offenbar. Sie lächelte. Aber, wie es schien, ohne Schmerz. Sie nickte vor sich hin. Dann erwiderte sie Leopolds Blick: »Nun verstehe ich,« sagte sie, fast mit Heiterkeit. »An Ferdinand, an meinen Bruder ist dieser Brief. Er nennt ihn Ottilius. Das ist also die Lösung! – O! O! Was für ein Geschick!«

»Wollen wir nun nicht ganz zu Ende lesen?« fragte Leopold mit halber Stimme. »Fräulein Ottilie! Was thut's?«

Sie schwieg, doch sie lasen.

»Es war ein Vorgefühl Deiner, glaub' ich, Ottilius, nun hab' ich euch beide; seid, bleibt meine Freunde, und ich habe die Welt! – Du willst die Kunstwissenschaft studieren. Ich soll Dein Meister sein, sagst Du. Willst Du bei mir wohnen? Wenn mich mein Bruder wieder verläßt, ist die Hälfte der Wohnung frei. Das braune Zimmer wäre für Dich. Jeder lebt, wie er will. Das Papageienzimmer wird dann neutrales Gebiet für uns beide. Doch brauchst Du es nicht einmal zu betreten; denn Du hast zu Deinem Zimmer einen eigenen Aufgang, drei Treppen hoch. Wir können also, in vollkommenster Unabhängigkeit, nebeneinander sterben, ohne daß der eine etwas vom andern erfährt. Zeig mir ein Haus in Berlin und Umgegend, wo das so bequem geschehen kann, wie in meinem! – Aber wie Du willst. Komm zurück und sieh!

»Sobald ich aus Neustadt, von meinem geistlichen Bruder, Nachricht habe —

»Später. Hier wurde ich unterbrochen; auf eine Stunde oder mehr —

»Nachschrift. Halb zwölf. Abermals unterbrochen. Bruder Philipp kommt selbst! Zugleich Telegramm aus Leipzig. Von Leopold! Ha! – Sobald Philipp da ist, mit dem zweitnächsten Zug, ziehen wir euch nach. Ich werde Dich wiedersehn . . . ›Welt geh nicht unter, Himmel fall nicht ein!‹ – Dieser Brief eile mir voraus! der glückliche.

Dein offenarmiger Fridolin.«

Sie hatten beide zu Ende gelesen, und schwiegen beide. Was soll ich sagen? dachte Leopold. Endlich sagte er: »Begreifen Sie, Fräulein Ottilie, wie dieser Brief hierher kommt? Verstehn Sie's besser als ich?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Tante Ottilie!« rief jetzt die kleine Judica mit sanfter Stimme vom anderen Zimmer her. Alsbald ging Ottilie hinaus; Leopold blieb stehn.

Die unerschöpflichen Reize der Aussicht schienen auch ihn zu verführen; er trat ans Fenster und blickte irgendwohin: wohin, ward ihm allerdings nicht bewußt. Ein lebhafter Wortwechsel auf dem Korridor, der sich näherte und lauter ward, sing endlich an, ihn zu beschäftigen. Die Stimme des denkenden Kellners ließ sich hören, von einer andern, jüngeren übertönt. Plötzlich ward die Thür geöffnet; – »denn es schien doch alles zu stimmen!« rief der Kellner, sich offenbar verteidigend, aus. »Sie sind ein – —!« rief der andere, Jüngere dagegen, verschluckte aber das Hauptwort, und trat dann ungestüm in das Zimmer ein.

»Mein Herr!« sagte der Eindringling, als er Leopold erblickte. »Etwas Aehnliches hab' ich noch nicht erlebt!«

»Darf ich fragen, was —«

»Ihr ganzes Benehmen, mein Herr! Sie – Sie —« (er mußte Atem holen) – »Sie drängen sich meiner Schwester als Reisebegleiter auf, Sie führen sie in der Welt herum, statt nach Hause, Sie mißbrauchen offenbar ihre Verlegenheit —« (hier holte er wieder Atem) – »und endlich nehmen Sie meine Briefe an sich, mein Herr!«

»Ah! Fräulein Ottiliens Bruder —«

»Ja, ihr Bruder, mein Herr! Sie sehn. Und ich nehme mir die Freiheit, Ihnen zu sagen, daß ein Ehrenmann —«

»Ferdinand!« rief Ottilie dazwischen, die in die offene Thür getreten war; Judica hinter ihr. »Bruder! Woher kommst du?«

»Hoffentlich noch nicht zu spät,« antwortete er, mit dem Gesicht eines Menschen, der zu Begrüßungen und Umarmungen noch keine Zeit hat, und mit einem drohenden Blick auf Leopold. »Ich stieg leider in Bitterfeld aus —« (seine Erbitterung wuchs) »kam dann aus Versehen in einen falschen Zug – nach Halle. Von da jetzt hierher; um sechs statt um eins. Mein Herr! Keine Umstände. Geben Sie mir den gestohlenen Brief!«

»Mein Herr!« fuhr nun Leopold auf. »Für wen halten Sie mich —«

»Nun, für den Herrn Frivolin – oder wie Sie heißen. Geben Sie mir meinen Brief!«

»Guter Gott!« rief Ottilie. »Für Herrn Frivolin hältst du diesen Herrn? Diesen Herrn – meinen Freund! Meinen – — Was für ein Irrtum! Gib ihm lieber die Hand. Beide, beide Hände. Und nimm hier deinen Brief; – verzeih mir, Bruderherz, ich hab' ihn gelesen; ich sag' dir nachher, warum. Nimm ihn; und entfalte deine edle Stirn und laß dir einen Kuß geben; und nun setz dich und lies!«

»Meinen Brief – geöffnet – —«

Indessen weiter kam der Jüngling mit seinem Murmeln nicht mehr; er sah die ersten Worte »Mein teurer Ottilius«, lächelte glücklich und stolz, trat näher ans Fenster und las. »Fridolin an mich!« sagte er still vor sich hin. Dann bewegte er nur noch die Lippen, als läsen sie mit. Nach einigen Zeilen hatte er schon vergessen, wo er war; er sah nicht, daß Ottilie mir Leopold ins andere Zimmer trat, noch daß die kleine Judica ihn neugierig anschaute; er hörte weder Leopolds gedämpften Baß, noch Ottiliens Flüstern.

»– — Herr Leopold!«

»Was, mein Fräulein?«

»Sagen Sie nicht mehr ›mein Fräulein‹; es klingt so unnatürlich, so kalt; es thut mir weh. Was erleben wir alles heute; – und was für sonderbare Entdeckungen haben wir gemacht. Und Bekenntnisse. Und – — und glauben Sie noch, daß ›ich es bin‹?«

»Gott helfe mir, Fräulein Ottilie, ich kann nicht anders!« erwiderte Leopold.

»Hm!« sagte sie gerührt. »Sie haben mir heute Ihr ganzes Herz preisgegeben, und ich sollt' es nicht thun? – Ihr Glaube steckt an. Woher kommt es, Herr Leopold? Ich glaube nun wirklich auch, daß ich es bin. Und daß Sie es sind. Lassen Sie meine Hand!«

»Ottilie —!«

»Es fing schon in Riva an – — Warum bin ich zu stolz, Ihnen das zu gestehn. Seit Ihrem rührenden Brief – und seit eine gewisse Erkenntnis über mich kam – — O, was machen Sie. Denken Sie« (sie fühlte seinen Arm; ein Lächeln suchte um ihre Lippen lebendig zu werden, aber es starb sogleich) – »denken Sie, ich könnt' Ihnen noch wieder davonlaufen, nachdem ich das gesagt habe?«

»Ottilie! Tag und Nacht hab' ich geglaubt, Sie sind es; nun, da Sie mir's selber sagen, ist es unglaublich! unglaublich!«

Er schien es aber doch zu glauben; denn er umschlang sie, und während nebenan Thüren, Schritte, Stimmen, Worte laut wurden, hielt er sie so umschlossen, als wäre sie sein Ich und er hätte sich selbst gefunden und konnte nach einem Naturgesetz nicht mehr von sich lassen.

»– — Na, da haben wir's!« war das erste, was er wieder hörte. Ottilie machte sich los. Fridolin (und unter seinem Arm durch die kleine Judica) stand mit Ferdinand in der Thür; hinter ihnen noch eine lange, langhaarige, schmalschultrige Gestalt.

Es gab für Ottilie keine Wahl; sie mußte noch einmal erröten.

»Hab' ich's nicht unterwegs zu Philipp gesagt?« fuhr Fridolin fort. »hab' ich's nicht gesagt, daß dieser stille Mensch, dieser Naturforscher —? – Ich bitte, mein lieber Leopold, sag mir nichts; beleidige mich nicht, indem du mir noch erst durch Worte erklären willst, wie dies alles sich historisch entwickelt hat. Die Zeit, die mich mit einem Kurierzug – in drei Stunden und fünfundzwanzig Minuten – hierher beförderte, hat mich auch mit Beschleunigung auffassen gelehrt! – — Fräulein Ottilie, Gott sei Dank, Sie sind wieder da. Sie leben. Und – und es geht Ihnen gut. Wollen Sie mir und meinem geistlichen Bruder das Unglück von Riva verzeihen? Und wollen Sie uns die Hand darauf geben, Fräulein Ottilie, daß wir Freunde bleiben?«

Sie gab ihm bewegt die Hand; sie wollte auch etwas sagen; aber Pastor Philipp, dessen angesammelte Gefühle – Wehmut und Entsagung – auf seinem blaßgrauen Angesicht keinen Platz mehr fanden, nahm bereits das Wort. »Mein Fräulein!« sagte er, indem er den Hut in seiner Hand leise hin und her schwenkte. »Wir sind kurzsichtige Menschen; – selten hab' ich es so gefühlt, wie heute. Als ich damals meinen Hut bei Ihnen stehen ließ – den ich übrigens noch nicht brauche; es eilt mir nicht – da dachte und ahnte ich nicht, welche Lösung und wann, und wo, wir erleben würden. Es hätte« (er ward weich; zu weich) »auch vielleicht anders kommen können.« (Er faßte sich wieder:) »Es ist nicht anders gekommen. Des Himmels Wille geschehe! – Ich glaube, mein Fräulein, Sie beugen sich heute gern vor dem Unerforschlichen, der uns alle leitet; Sie sagen heute mit mir, daß alle Philosophie, alle Vernunft zu kurz kommt, und« (er lächelte) – »und daß wir doch nur eine höhere Affenart sind ohne Religion!«

»Amen!« sagte Fridolin. »Heut will ich nicht streiten. Wo ist Ferdinand?« – Er wandte sich zu dem Jüngling, der sich noch immer stumm bemühte, den ganzen Zusammenhang der Dinge zu fassen. »Hauptmann, ich bin in deiner Abwesenheit ein bißchen vorlaut gewesen,« sagte Fridolin: »ich hab' mit Tante Ritters Hilfe das braune Zimmer schon für dich hergerichtet. Kind, ich wollte für dich arbeiten, solang' ich dich nicht sähe. Willst du?«

»Ob ich will!« rief Ferdinand mit Begeisterung aus. »Meister! Fridolin! Freund!«

»Ich glücklichster aller Menschen!« sagte Fridolin; – »und das alles an meinem Geburtstag! – Leopold! Warum schüttelst du so lächelnd den Kops? Behauptest du noch glücklicher zu sein als ich? – Streiten wir nicht. Sag mir nur eins« (er trat vor Leopold hin und sah ihm mit allerhöchstem Ernst ins Gesicht, während er halblaut fragte:) »ist sie es?«

»Ja, Fridolin, sie ist es,« antwortete Leopold ebenso leise und mit demselben Gesicht.

»Nun, dann sind wir einig!« erwiderte Fridolin laut. »Kinder, Freunde,« fuhr er heiter fort, seine Bewegung bekämpfend, »halten wir zusammen! Es ist mein Geburtstag; es ist ein festlicher Augenblick; – stellen wir uns. Zur Gruppe! Es gibt so viele Dinge, die sehr oft auf der Bühne und nie in der Wirklichkeit vorkommen; die ich mir aber angewöhnt habe zu thun, damit sie auf der Bühne weniger unnatürlich erscheinen. Monologe zum Beispiel. Ich halte Monologe, damit der Schauspieler sagen kann: dies ist nach der Natur! – So laßt uns eine Gruppe machen; die Bühne wünscht es. Eine Gruppe, wie sie min hoffentlich auch das Leben aus uns macht! Leopold und Ferdinand – Natur und Kunst. Philipp und ich – Himmel und Erde; aber Sie, Fräulein Ottilie, müssen freundlich der Engel bleiben, der zwischen uns vermittelt! Und wenn Leopold eines Tages heiraten sollte – warum sollte er nicht – so mieten wir ihm ein Quartier in der Königgrätzer Straße, Berlin. Willst du, Leopold? – Er will! Dies alles telegraphiere ich an meine Leibschwaben, nach Berlin. Ich glaube, es gibt noch Glück! Nun, dann bleib' es bei der ›heimlichen Ehe‹!«

»Heimliche Ehre heißt es, Onkel Fridolin,« belehrte ihn die Kleine. »Aber, du! warum gibt jetzt Tante Ottilie, da hinten in der Ecke, Leopold einen Kuß?«