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Kitabı oku: «Fridolins heimliche Ehe», sayfa 9

Yazı tipi:

II

Fridolin kleidete sich an. Er seufzte. Er kämmte sein schönes Gelock; aber er salbte es heute nicht; er salbte es nie, wenn sein Herz Kummer hatte; er vernachlässigte sich. Als er den Kamm wieder reinigte, legte er die Haare, die zwischen dessen Zähnen hängen geblieben, einzeln, eines nach dem andern, auf ein Blatt Papier; er zählte sie. Schwermütig sah er sie an und schüttelte den Kopf. Dreiundvierzig! – Drei und vierzig! – Ich werde ein Kahlkopf. Ich bin bereits ein Kahlkopf in der Idee. Die Natur führt diese Idee in mir aus; langsam, doch unfehlbar. Heute, an meinem Geburtstag, muß ich entdecken, daß ich an einem Morgen dreiundvierzig meiner Haupthaare verliere! – Mein Geburtstag. Wer denkt an ihn? Niemand. Kaum ich selbst. Hat Tante Ritter mir gratuliert? Nein. Warum soll sie mir auch noch gratulieren – sie oder irgend jemand? Zu was? Wer bin ich? Ein Nichts. Ein Wesen ohne Glück, ohne Stern. Diese Falte zwischen meinen Augenbrauen (er stand vor dem Spiegel) wird tiefer und tiefer; mein Leben flacher und flacher. Ich war ein sonderbares, bemerkenswertes Etwas; jetzt bin ich ein nicht mehr zu bemerkendes Nichts!

»O, die Natur in mir ist schlau!« sagte er plötzlich vor sich hin. »Sie sieht, wie ein kluger Hund, daß sie dem kategorischen Imperativ in mir gehorchen muß; sie soll an Ottilie nicht denken; was thut sie? Sie beschäftigt sich mit allem sonstigen Kummer, den ich habe, seufzt darüber, und kommt so zu ihrem Recht. O wie schlau die Natur ist! Vielleicht – wie

weise! Gehen wir zum Frühstück. Drei Viertel

auf Sieben. Kaffee; warmer Kaffee, frisches, weißes Gebäck; was für ein lieblicher Gedanke. Versuchen wir, an diesem einsamen Geburtstag, trotz der einundvierzig Jahre und der dreiundvierzig Haare, doch nicht unglücklich zu sein!«

Mit diesem philosophischen Gedanken trat er über die Schwelle und ging dem Papageienzimmer zu, in dem er zu frühstücken und zu tafeln pflegte. Als er hineintrat, mußte er wohl erstaunen. Auf dem gedeckten Tisch stand ein riesiger Topfkuchen (seine Jugendliebe), von Frühlingsblumen bekränzt; zierliche und majestätische Blumensträuße umgaben ihn; ein hoher silberner Becher, dessen Teckel eine weibliche Figur krönte (durch ihre Embleme suchte sie zu beweisen, daß sie die Knust sei), stand hinter dein Topfkuchen, ihn edel überragend. Ihn überragten wieder drei lebendige Leibschwaben, Rudolf der Ingenieur, Franz und der andre junge Architekt; alle in Schwarz gekleidet und in den feierlichen Ernst des Augenblicks gehüllt. Dies Ganze aber überragte Risotto, der zu hinterst stand, wie ein Glockenturm; aus dessen oberstem Geschoß denn auch zuerst, wie der festliche Gruß der Morgenglocke, ertönte: »Guten Morgen, Professor Fridolin!«

»Guten Morgen, Professor Fridolin!« sprachen die andern ihm nach.

»Da sind wir,« setzte der dicke Rudolf hinzu.

Fridolin sah sie alle an und schwieg. Die Überraschung, die plötzliche Rührung machte ihn stumm.

»Rudolf, du hast das Wort,« murmelte Risotto.

Rudolf trat vor. Er hustete; dann fiel ihm offenbar ein, daß der Meister, der vor ihm stand, ihn und sie alle gelehrt hatte, ihre Rede ohne Räuspern und Husten, edel und frei zu beginnen, und er begann: »Du hast uns verschwiegen, Fridolin, daß heut dein Geburtstag ist; aber wir wußten es. Wir haben gehört, daß du wieder da bist; also sind wir gekommen,« (er lächelte) »dir durch die Blume« (er deutete auf die Sträuße) »zu sagen, wie wir dich verehren – dich verehren —«

»Und lieben,« fetzte Franz mit seiner treuherzigen Stimme hinzu.

»Und lieben,« wiederholte Rudolf. »Und dir diesen Becher zu bringen; als ein kleines Andenken an deine treuen Schüler —«

»Unsere Namen stehen alle darauf,« schob Risotto ein.

»Und als ein Zeichen unsrer Dankbarkeit, Anhänglichkeit —«

»Und Bewunderung,« sagte der jüngere Architekt.

Rudolf blickte etwas unwillig nach den ihn unterbrechenden Hintermännern zurück; dann fuhr er fort: »Wir wollten auch den kleinen Fridolin auffordern, mitzukommen; aber wo steckt er? Unbekannt. Wir wissen nicht mehr von ihm, als von der Kawisprache —«

»Es liegt auch nichts daran,« warf Risotto ein.

»Wir hätten ihn auch als Dichter für diesen Festtag gebraucht,« fing Rudolf wieder an; »denn er ist leider der einzige von uns, der im Versemachen so einen —« (er suchte das passende Wort) »so einen gewissen Wupptich hat; so den eigentlichen Pli.«

»Pli ist ein Fremdwort,« unterbrach ihn Fridolin, der bis dahin ohne körperliche Regung zugehört hatte. »Ich ziehe, wenn es sein muß, sogar Wupptich vor.«

»Den wir also nicht haben,« fuhr Rudolf fort; »und so haben wir in unsrer Not an Franz appellieren müssen, der, was das Dichten betrifft, eigentlich ein hilfloser Greis ist —«

Franz lächelte resigniert.

»Und an mich, der darin gleichfalls ein hilfloser Greis ist,« fetzte Rudolf gutmütig hinzu. »Wir haben uns gesagt: es muß nun daraus werden, was wird; etwas Dummes oder etwas Gescheites; lyrisch, tragisch, romantisch, equilibristisch, komisch, medizinisch – wenn's nur etwas wird.«

»Und von alledem ist es etwas geworden,« ergänzte Risotto von hinten.

»Jedenfalls ist es höherer Unsinn geworden,« sagte Franz – der nun gleichfalls vortrat – und lächelte treuherzig. »Und auch Risotto und der Waldknabe« (er meinte den jüngeren Architekten) »haben mitgeholfen; und nun werden wir es dir, wenn du erlaubst, mit verteilten Chorstimmen recitieren, wie in der ›Braut von Messina‹.«

Fridolin verneigte sich ausfordernd. Hierauf traten die vier Jünglinge in eine Reihe. »Hannemann, geh du voran!« murmelte Risotto, indem er Franz mit seinem mammuthaften Ellbogen anstieß.

Franz lächelte still in sich hinein, wie über den Unsinn, der sich nun ereignen werde; dann fing er an:

 
»Und einundvierzig Jahre sind nun voll!
So sprach der Klang, der mir zum Ohre goll —«
 

»Wir haben nämlich die unmöglichen Reime den möglichen vorgezogen,« fiel ihm Rudolf ins Wort. »Thut, was ihr könnt,« entgegnete Fridolin;

 
»ich habe
In England mich an viel gewöhnen lernen – —
 

Mein teurer Franz, ich bitte, fang noch einmal an!« Franz lächelte wieder, dann sprach er:

 
»Und einundvierzig Jahre sind nun voll!
So sprach der Klang, der mir zum Ohre goll;
So sprach die Glocke der Erinnerung,
Die mir im Herzen ihren Hammer schwung;
Und Andacht senkte sich in meinen Busen,
Noch ehe ich mein Morgenbrot gespusen.«
 

Rudolf trat vor und fuhr fort:

 
»Vielleicht – so dacht' ich – fühlt er jetzt den Gruß,
Den dieses Herz zu ihm hinüber blus;
Er freut sich des, ist heiter, pfeift und singt,
Vielleicht auch hat ein Ohr ihm jetzt geklingt;
Da fühlt er es: der Tag ist angebrochen.
Den er so sorglich aller Welt verstochen.«
 

Der Waldknabe (trat vor):

 
»Ernst wird sein Geist; ein Seufzer steigt empor;
Er denkt des Tags, der ihn der Welt gebor:
›Wie sind die Jahre doch so rasch zerronnen.
Und Kindheit, Jugend – wie dahingeschwonnen!
Grau liegt der Tag und bleiern um mich her;
Was träumt' ich nicht, als ich ein Kind noch war'!
Das Alter fühl' ich nahn, noch schleicht's auf Socken;
O Jugendblüte! wie bist du geknocken!‹«
 

Risotto (gerührt, mit weicher Stimme):

 
»Nicht also, Meister! Nicht in Gram versunken!
Dir winkt die Jugend, wie sie sonst gewunken!
Was fehlt dir? Blieb dir nicht des Geistes Schwung,
Wenn auch des Leibes Knospenzeit vergung?
Und wir sind da, die liebenden Getreu'n:
Leibschwaben sind wir, wollen's ewig seun!«
 

Franz:

 
»Und dieses also dir gedichtet habend,
Wünsch' ich dir herzlich einen guten Morgen.«
 

»›Habend – Morgen‹ ist gut!« sagte Fridolin heiter; die Rührung verbergend, die sein weiches Herz ergriffen hatte. »Was soll ich euch zum Dank für diesen Morgengruß sagen, meine Freunde? Diese Reime – so sans raison – und doch ist Raison darin. Ihr habt recht. Ich glaube, ihr habt recht. Noch sind wir jung!

 
Mut, Freunde, Mut! wir sind noch nicht zu Boden;
Fünf Regimenter Terzky sind noch unser
Nebst Buttler's wackren Scharen.«
 

»Das ist das Wort!« sagte Risotto, sich die Hände reibend. »Das ist das rechte Wort!«

»Ich glaube wahrhaftig, infolge dieses Unsinns steht mir jetzt eine Thräne im Auge; – mag sie, ich wehre ihr nicht. – Wie soll ich euch danken? – Soll ich euch danken? Nein. Hier habt ihr meine Hand; meine Hände. Zwei – und zwei. Ihr habt mir mehr zuliebe gethan, als ihr wißt; als ihr denken könnt. Ihr seid – — Ich soll euch nicht danken? Doch. Ich werde versuchen, euch zu danken. Auf meine Weise! Hier —!«

Er trat an einen Kasten und öffnete dessen unterstes Fach. Hier lagen die Papiere, Scharteken und Westen nebeneinander, die die Leibschwaben an jenem Tage, als Ottilie einzog, hierher ausgeräumt hatten. Er deutete mit dem ausgestreckten Finger auf die Westen hin. »Ihr habt da hinten eure Namen eingeschrieben,« sagte er. »Diese benamsten Westen sollten euer sein, sobald ich sie entließe. Ich entlasse sie heute. Meine lieben Söhne, nehmt, was euch gehört! Ich bin ein armer deutscher Kunstprofessor; alles, was ich für euch habe, sind Westen, – und das Herz, das darunter schlug!«

»Bei Gott, Fridolin, wir danken dir von ganzem Herzen,« sagte Rudolf gerührt.

»Mir hattest du noch keine vermacht,« seufzte Franz bescheiden. »Du gabst mir freilich statt dessen das Allerbeste, was ich mir wünschen konnte: das brüderliche Du —«

»Solltest du darum zu kurz kommen?« sagte Fridolin. »Wähle dir eine unter ihnen, die noch keinen Namen trägt, und sie ist dein.«

»Was wünschen Sie, Tante Ritter?« fragte er, da plötzlich ihre Erscheinung und ein unverständliches Gemurmel ihrer Lippen ihn unterbrach.

»Daß ich Ihnen doch auch beglückwünschen will!« sagte sie lauter. »Ich halt's nun nicht länger mehr aus. hab' vorhin nichts sagen dürfen, Herr Professor; hatt' den jungen Herrn versprechen müssen, mir gar nichts merken zu lassen, daß ich's wüßte, was für ein Tag heute ist. Und daß Sie immer gesund und glücklich sind, Herr Professor!« (Sie drückte ihm die dargebotene Hand.) »Und daß Sie gar nie mehr brummig sind;« – sie lächelte mütterlich. »Na, und daß wir immer beisammen bleiben, der Herr Professor und ich.«

»Tante Ritter,« erwiderte Fridolin, »sehn Sie diese Jünglinge an: sie beerben mich, jeder nimmt sich die Weste, die ich ihm vermache. Kann ich auch Ihnen eine Weste schenken? Nein. Aber es geht mir heut umgekehrt wie jenem Richard dem Dritten, vor dem Sie in Ihrer holden Jugend gezittert haben, als der große Ludwig Devrient ihn spielte: ›ich bin in der Gebelaune heut‹. Sie haben sich in Ihr goldenes Medaillon eine Locke von mir gewünscht. Im braunen Zimmer finden Sie, auf einem Blatt der ›Dioskuren‹, dreiundvierzig Haare von mir. Nehmen Sie sie hin! Und in die Rückseite des Medaillons – o Großmut! – stift' ich Ihnen meine Photographie; die, welche Sie schmeichelnderweise so ähnlich finden, weil ich darauf lächle. Ich verspreche Ihnen, auch im Leben zu lächeln, so oft ich kann. Sollt' ich wieder einmal brummen, Tante Ritter, so öffnen Sie dieses Medaillon, halten Sie mir diese lächelnde Photographie vor Augen, und ich werde lächeln. Und nun gehn Sie und schicken Sie das taube Küchenmädchen an die Thür: man hat schon zweimal geklingelt. Und gehn Sie zur Küche und richten Sie ein kaltes Frühstück mit edlem Rheinwein für diese Jünglinge her; denn es ist unsre wohlerkannte Pflicht, aus jenem Becher zu trinken!«

III

»Es klingelt zum drittenmal,« bemerkte Risotto.

»Jetzt wird geöffnet,« antwortete Rudolf.

Die Thür ging auf, und ein unbekannter junger Mann, mit noch zartem, dunkelbraunem Flaum auf der Oberlippe, trat ein. Er sah aus wie ein Mann, der geradeswegs vom Bahnhof kommt, nach einer durchfahrenen Nacht: etwas verwildertes Haar, interessante Blässe, überwachte Augen, bestaubter Reiseanzug. Indessen erglühte sein blasses Gesicht, als er, noch immer schweigend, näher trat, offenbar den Hausherrn mit den Augen suchend. Fridolin schwieg gleichfalls und betrachtete ihn.

»Nicht wahr, ich irre nicht – Sie sind es,« sagte endlich der junge Mann, mit sehr erregter Stimme.

»M glaube, daß ich es bin,« erwiderte Fridolin. »Wenn Sie mir gefälligst sagen wollen —«

»Ich muß mich entschuldigen,« fiel ihm der Fremde ins Wort, »daß ich so sehr früh morgens, und so gradeswegs von der Reise – ohne Toilette zu machen – Ich hatte nicht Zeit – nicht Ruhe. Ich mußte augenblicklich hierher – — Entschuldigen Sie. Ich komme wegen meiner Schwester, mein Herr.«

Fridolin sah dem aufgeregten Jüngling, der mit einer sehr wohlklingenden, männlichen Stimme so verworren sprach, höchst aufmerksam ins Gesicht. »Ich will schwören,« sagte er plötzlich, »das ist Fräulein Ottiliens Bruder!«

»Ja, der bin ich, mein Herr. Ich komme, Sie zu fragen« (sein feines, edles Gesicht nahm einen auffallenden, fast drohenden Ausdruck an), »was diese ganze Geschichte – dieses ganze Benehmen gegen meine Schwester bedeutet.«

»Was für ein Benehmen? – Mein Bester, ich verstehe Sie nicht!«

»Ich bitte, mein Herr,« sagte der junge Mensch, indem er heftig errötete: »keine Ausdrücke der Vertraulichkeit; – ich bitte sehr. Wenn ich je gedacht hätte, daß meine Schwester eine solche Behandlung – eine solche Behandlung!« wiederholte er – »von Ihnen erfahren würde, – ich hätte nie zugegeben, daß sie dieses Haus betreten hätte, mein Herr.«

Fridolin starrte ihn an. Die Leibschwaben traten alle vier in jugendlicher Aufregung näher und blickten auf den Meister, was er sagen werde. »Wer versteht dies?« fragte Fridolin endlich. »Ich nicht. Wenn Sie wirklich dieser Bruder sind – aber Sie sind es – man sieht es – der Fräulein Ottilie am Gardasee besuchen wollte —«

»Ich habe sie auch besucht, mein Herr; oder vielmehr, ich wollte sie besuchen – aber sie war fort. Nachdem Sie sie auf diese unverantwortliche, auf diese ganz unglaubliche Weise verlassen hatten!«

Jetzt errötete Fridolin; und es währte eine Weile, bis er Worte fand. »Sie haben Ausdrücke,

mein junger Herr Verlassen? Ich bin abgereist.

Ja. Ich hab' Fräulein Ottilie bei meinem Bruder zurückgelassen, dessen Tochter sie erzieht. Wenn das —«

»Sie hatten sie bei Ihrem Bruder zurückgelassen? Wie können Sie das sagen, mein Herr, da dieser Bruder schon fort war? – Sie sind abgereist, mein Herr, Sie haben meine Schwester mit dem Kind allein gelassen; im Hotel, ohne Geld – wie eine Betrügerin, die ihre Rechnung nicht bezahlen kann; – meine Schwester, mein Herr. Ich kenne Ihre Beweggründe nicht; aber ich bin so frei, Ihnen grade heraus zu sagen, daß ein Ehrenmann —«

»Oho!« rief Risotto aus und drängte sich vor.

»Schweigen Sie, Risotto!« sagte Fridolin, der sich philosophische Ruhe zu erkämpfen suchte. »Wenn ich verteidigt werden muß, so verteidige ich mich selbst. Mein Herr!« sagte er, sich zu dem Jüngling wendend (Gott im Himmel, wie kann man mit einem Baß und einem Schnurrbart dieser Ottilie so ähnlich sehn!) »mein Herr, ich würde Ihnen ewig dankbar sein, wenn Sie einstweilen noch auf die moralische Beurteilung des Falls verzichten und mir mitteilen wollten, wie diese unbegreifliche Geschichte zusammenhängt! wie Sie dies alles erfahren haben, wo Fräulein Ottilie sich jetzt befindet – wo sie jetzt ist!«

»Wo sie jetzt ist? – Mein Herr, das wünschte ich von Ihnen zu erfahren; dazu reis' ich ja her; dazu reis' ich Tag und Nacht. Und um Ihnen ins Gesicht zu sagen —«

»Ich bitte, haben Sie noch ein wenig Fassung und Geduld, sagen Sie mir noch nichts – (die ganze Ottilie!) reißen Sie mich lieber aus meiner eigenen grenzenlosen Unruhe – gehn wir historisch zu Werke, wenn's Ihnen möglich ist. Die historische Entwickelung, mein Herr! Sie kamen nach Riva —«

»Ja, ich kam nach Riva! Ich hatte meiner Schwester geschrieben, daß ich auf der Durchreife nach Rom sie besuchen werde« (Fridolin nickte) – »auf einen Tag, oder zwei« (Fridolin nickte wieder) – »ich gehe also ins Hotel, ich suche sie auf. Sie ist fort! ›Diese Dame ist fort!‹ sagt der Kellner und lacht mir unverschämt ins Gesicht. Ich wende mich an den Wirt. ›Diese Dame ist fort,‹ sagt er – mit so einem zweideutigen, verdammten Grinsen – —

»Was wünschen Sie, mein Herr?« sagte der junge Mann auf einmal zu Fridolin; »warum starren Sie mich denn fort und fort an?«

»Verzeihen Sie – (Ottilie als Knabe! – Der interessanteste ausgewachsene Knabe, den ich in meinem Leben gesehn!) Nur weil diese wahrhaft merkwürdige Aehnlichkeit – — Ich bitte Sie, ich beschwöre Sie sogar, fahren Sie fort.«

»Nun ja; ich frage also – — Das heißt, ich wollte diesem Wirt zunächst deutlich machen, daß er sich jedes unpassenden und beleidigenden Mienenspiels zu enthalten habe; aber die italienischen Ausdrücke sielen mir nicht ein! – ›Ich frage ihn also: ›die ganze Gesellschaft ist fort?‹ – ›O ja,‹ sagt er, ›so nach und nach. Zuerst die drei Herren, einer nach dem andern. Ganz in der Stille. Zuletzt ist die Dame mit der Kleinen allein; macht eine Theaterscene mit Thränen; erklärt mir dann, sie habe kein Geld, könne mich nicht zahlen. Wenn Sie mich nicht zahlen können, sag' ich ihr, so werden Sie erlauben, daß ich mir anderweitig helfe; denn es gibt auch hierzulande Polizei, Madame, und es gibt Gerichte —‹«

»Großer Gott!« rief Fridolin aus, der sich nicht länger hielt. »Polizei! Gerichte! – Was ist geschehn? In Verhaft —?«

»Ich bitte Sie, mein Herr, lassen Sie meinen Arm,« sagte der junge Mensch, wieder heftig errötend. »Nein, nicht in Verhaft. Wär' sie in Verhaft, so spräch' ich nicht so ruhig zu Ihnen, wie ich es thue, sondern sagte Ihnen —« (erbitterter) »sagte Ihnen —«

»Haben Sie noch einmal die Geduld, mein Herr, objektiv zu bleiben; nur noch ein einziges Mal! (Wie gut dieses Aufbrausen ihm steht!) Haben Sie die Güte, mir mit drei Worten zu sagen, was geschehen ist!«

»Nun also mit drei Worten: sie ist fort! Denselben Abend ist ein Herr gekommen; er hat sie angeredet; wie es also scheint, hat er sie gekannt. Dann hat sie ihm allerlei erzählt, was der Wirt nicht verstanden hat; denn er versteht wenig Deutsch. Dann hat dieser Herr für meine Schwester die ganze Rechnung bezahlt; – wobei der Wirt wieder lächelte,« setzte der junge Mann hinzu und biß sich auf die Lippe. »Am andern Morgen sind sie alle drei – das Kind, meine Schwester und dieser Herr – miteinander abgefahren; im Wagen, nach Trient.«

»Leopold! Ich denke und hoffe, es war Leopold!« rief Fridolin aus.

»Ich weiß nicht, wer ›Leopold‹ ist,« erwiderte der Jüngling. Ich weiß nur, daß dieser Herr, über den der Wirt so unverschämt lächelte – und ich konnte auf das Wort impudenza im Augenblick nicht kommen! – daß dieser Herr sich vor der Abreise ins Fremdenbuch des Hotels eingeschrieben hat: Frivolino, pittore. Berlino. Weiter weiß ich nichts.«

»Frivolin!« rief Risotto aus. »Da haben wir die Pastete!«

»Ich hatte Sie ersucht, mein Sohn, zu schweigen,« fiel ihm Fridolin in die Rede. »Was ist das? Wie kommt der kleine Frivolin an den Gardasee? Ist er uns nachgereist? Was hat er gewollt? – Und dieser Don Juan muß Fräulein Ottilie auslösen? nach Trient begleiten? – Trient? Telegraphieren wir augenblicklich nach Trient!«

»Das wäre sehr überflüssig,« erwiderte Ottiliens Bruder, der bei den Worten »Don Juan« sich aufs neue verfinstert hatte. »Ich war ja in Trient! Ich fuhr von Riva dorthin. In jedem Hotel fragte ich nach einer jungen Dame, einem Kind und einem Herrn, – bis man mir in der ›Corona‹ sagte, die drei Herrschaften, die ich bezeichnet hätte, feien da gewesen, hätten zu Abend gespeist; doch noch in der Nacht seien sie weitergefahren mit dem Schnellzug nach Norden zu. Dies ist das letzte, was ich erfahren habe. Der Portier sagte ein Wort von ›Bolzano‹, von Bozen; ich fuhr nach Bozen; hab' sie dort in jedem Hotel, jedem Kaffeehaus, in jeder Straße gesucht. Nichts. Keine Spur. Und darauf bin ich denn direkt nach Berlin gefahren; zu Ihnen, mein Herr.«

»Heiliger Gott! (Wenn er mich so ansieht, hat er ganz die Augen der Schwester; diese braunen Augen.) Wir wissen also nichts; nichts. Unter Fridolins Schutz in die Welt hinein! – Wohin? – Was soll man thun? – Was soll man jetzt thun? – Auch mein Bruder verschwunden; – ich verstehe nichts. Verschwunden, und seine Judica zurückgelassen; – Rätsel über Rätsel! – Mein Herr! – Herr Ritter also – Ferdinand Ritter – nicht wahr —«

Der Jüngling nickte.

»Was ich etwa dabei verschuldet habe, Herr Ritter (ganz die Rittersche Nase) – davon nachher. Jetzt handelt sich's darum, diese verlorene Schwester zu entdecken! – Telegraphieren! – Wohin? – Ueberallhin; natürlich. Wo kann sie sein? Da sie nicht in dieses Haus zurückgekehrt ist – was das einfachste, das natürlichste gewesen wäre —«

»Also Sie glauben, mein Herr,« unterbrach ihn der Bruder, »daß meine Schwester nach einer solchen Behandlung hierher zurückkehren wird?«

Fridolin errötete. (Wie diese männliche Ottilie in seiner Impertinenz entzückend ist!) »Gut, mein junger Herr; – reden Sie, ich handle. Reden Sie, was Sie wollen; ich telegraphiere. Franz! Setz dich, mein Sohn. Hier an den Tisch. Feder und Papier. Tinte. Ein Telegramm! An meinen Bruder Philipp; in Neustadt. Wenn er von Riva plötzlich abgereist ist, wohin wird er gereist sein? Nach Hause. Wohin wird Fräulein Ottilie mit seiner Tochter gereist sein? Vermutlich ebendorthin. – Vermutlich? Zuviel gesagt. Sagen wir: vielleicht. Versuchen wir's. Also ein Telegramm!«

Franz saß; Fridolin diktierte:

»Bist du da? Ist Fräulein Ottilie mit Judica dir nachgereist? Oder was weißt du von ihr?

Fridolin.«

»Wieviel Worte?« fragte er, nachdem Franz geschrieben hatte.

»Mit der Ueberschrift einundzwanzig,« antwortete Franz.

»Streiche ›ist‹! ›Ist‹ ist überflüssig. ›Ist‹ ist nicht lakonisch; nicht telegrammesk. Schreibe statt ›bist du da‹ einfach: ›Zurückgekehrt?‹ Und dann setze hinzu: ›Drahtantwort bezahlt.‹ Zwanzig Worte. In Ordnung.«

»Und nun —?« fragte Franz, indem er aufstand.

»Nun nimm das Telegramm, deinen Hut, und hab die Güte und lauf!

»Setzen Sie sich gefälligst, Risotto!« fuhr Fridolin fort, während Franz sich entfernte. »Wir telegraphieren weiter! – Wenn Sie mir freundlichst, im Interesse der Sache, sagen wollten, Herr Ritter: wohin Ihre Schwester sich etwa sonst gewendet haben könnte, wenn sie weder hierher, noch zu dem Vater Judicas gereist ist.«

»Wohin sonst?«

»Zu ihrem Onkel vielleicht; zu ihrem und meinem Onkel, bei dem sie war, ehe sie hierher kam.«

»Eine Vermutung, die alles für sich hat! – Wenn Sie mir die Adresse dieses Onkels geben wollten.«

»Hier ist seine Karte,« antwortete der junge Mensch, indem er sie aus der Brieftasche zog, und reichte sie Fridolin hin. »Oder soll etwa ich —«

»Dies alles ist meine Sache, meine Pflicht; ich bin ja der Schuldige, der Verantwortliche; Sie sagen es selbst. Schreiben Sie, Risotto! Zuerst die Adresse, nach dieser Visitenkarte. Haben Sie's? – Sie haben. – ›Bitte um gütige Auskunft: Fräulein Ottilie Ritter bei Ihnen? Oder wo? Drahtantwort bezahlt.‹ Meine Adresse darunter. Genau zwanzig Worte. Gut.«

»Soll ich gehn?« fragte Risotto.

»Ja, kleiner Risotto, gehn Sie, opfern Sie sich für die Sache. Wir müssen heute schnell, entschlossen und groß sein! Fort mit dem Telegramm! – — Risotto ist fort. Versäumen wir nichts, mein Herr. Wohin könnten wir unsern Hilferuf noch erschallen lassen? Wohin könnte Fräulein Ottilie sich gewendet haben, wenn nicht zum Onkel? An wen und was ließe sich denken?«

»Ich wüßte nur eine Tante in Potsdam,« antwortete der Jüngling. »Diese Tante in Potsdam lud sie erst neulich ein, sie zu besuchen —«

»Lud sie erst neulich ein! Also eine Vermutung, die alles für sich hat! (Selbst das Wort ›Potsdam‹ klingt angenehm, wenn dieser Bruder Ottiliens es sagt.) Wir telegraphieren nach Potsdam! Die Adresse, wenn ich bitten darf?«

»Ich weiß sie nicht.«

»Auch nicht die Straße

»Nein.«

»Das ist nichts für den Telegraphen; – das ist eine Aufgabe für die findende menschliche Vernunft. Mein teurer Rudolf! In der nächsten Viertelstunde geht ein Zug nach Potsdam; in fünf Minuten – längstens! – bist du am Bahnhof; in dreiviertel Stunden drüben auf der großen Potsdamer Brücke. Du wendest dich an die Polizei, erfragst dir diese Tante – — ihr Name, Herr Ritter?«

»Frau Altschwager; Antonie Altschwager; Witwe; Blumenmacherin, – oder etwas dergleichen.«

»Oder etwas dergleichen! – Anhalt genug, mein teurer Rudolf, für einen Kopf wie deiner. Du erfragst sie, besuchst sie, erfährst dort, wie es steht. Gott sei Dank, meine Freunde, wir haben Ferien, wir können diese Sache im großen Stil behandeln und betreiben, wie sie's von uns verlangt! – Du bist noch nicht fort? – Ah, er geht schon fort. Nimm meinen Segen mit, mein Sohn, und verdiene dir meinen Dank!«

»Wann kann er wieder hier sein?« fragte Fridolin sich selbst und sah nach seiner Uhr. »Wir haben drei Viertel auf Acht. Sagen wir: in zwei Stunden; sagen wir mit Berücksichtigung der menschlichen Gebrechlichkeit: drei. – Und abgereist mit diesem Fridolin? Sagt unsre Vernunft uns nichts über diesen Fridolin? Ließen sich nicht auch seine Spuren verfolgen? – Ich glaube, ihr erzähltet mir einmal, er wohne hier mit einem Bruder zusammen; einem Bruder mit roten Haaren und ohne Talent. Waldknabe! hab' ich recht?«

Der Waldknabe nickte.

»Du wirst seine Wohnung wissen?«

»O ja. Allerdings.«

»Weit von hier?«

»O nein.«

»Also nimm deinen kleinen fashionablen Deckel, mein Sohn, und lauf! Suche diesen Bruder. Frag ihn, was er von dem verschollenen Fridolin weiß —«

»Wollen wir nicht lieber durch den Lokaltelegraphen —?« fragte der junge Architekt, da er eben die Aufwärterin mit dem Frühstück eintreten sah.

»Durch deine eignen werten Beine ist besser, mein Sohn; ›würd' ich sonst, Liebchen, dir es raten‹? Du bist ja schneller dort, und schneller zurück. Verdiene dir das Frühstück, indem du es in diesem Augenblick philosophisch verachtest!«

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06 aralık 2019
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