Kitabı oku: «Im goldenen Käfig», sayfa 8
Der Psychiater
Seit unserem letzten Aufenthalt in Marokko war ein Jahr vergangen und der nächste Urlaub näherte sich. Der Gedanke daran, die Familie Bilals erneut zu treffen, jagte mir Angst ein, außerdem war ich in meiner Ehe sehr unglücklich, seit wir das letzte Mal in Marokko gewesen waren. Ich hatte das verzweifelte Verlangen danach, zu lieben und mich geliebt zu fühlen, doch meine Familie hatte mir dieses Recht genommen, indem sie einen Mann für mich ausgewählt hatte, der nicht für mich bestimmt war. So gab ich nicht Bilal die Schuld an meinem Unglück. Obwohl ich ihn lieber als Freund und nicht zum Ehemann gehabt hätte. Als ich Bilal fragte, ob er mich liebe, sagte er: Wenn er mich nicht lieben würde, wäre er nicht bei mir. Doch diese Antwort genügte mir nicht. Ich hatte das verzweifelte Verlangen danach, dass er mir seine Liebe unter Beweis stellte. Mich geliebt zu wissen – das hätte es mir vielleicht erträglich gemacht, nicht lieben zu können. Doch nicht einmal das wurde mir gewährt. Ich fühlte mich, als würde ich ertrinken, platzen und sterben. Ich konnte mir nicht vorstellen, mein ganzes Leben ohne Zärtlichkeiten und ohne die Nähe einer Person zu verbringen, von der ich mich geliebt wusste und die ich liebte. Diese Tatsache bescherte mir unbeschreibliches Leid, ein Leid, dass mich Tag für Tag auszehrte und das Jahrzehnte anhielt.
Nachdem ich viel überlegt hatte, kam ich zu dem Entschluss, dass ich mich befreien müsste. So sprach ich mit Bilal und teilte ihm mit, dass ich mich scheiden lassen wollte, dass ich aber gern ein freundschaftliches Verhältnis zu ihm beibehalten würde. Seine Antwort lautete: Wenn ich mich scheiden lassen wolle, würde er mich zum marokkanischen Konsulat in Bern bringen. Dort könne die Scheidung durchgeführt werden, wonach ich direkt nach Marokko zurückgeschickt werden würde, jedoch ohne Youns, der nach marokkanischem Recht in seiner Obhut bliebe. Er sagte, dass sich die Schweizer Behörden nicht einmischen würden, da wir ja in Marokko getraut worden waren. Ich kannte meine Rechte in der Schweiz noch nicht und so glaubte ich ihm. Eine schreckliche Angst überkam mich, davor, meinen Sohn zu verlieren und auch vor dem großen Skandal, den ich in meinem Land und unter meinem Volk auslösen würde, wenn ich meinen Mann verlassen und wieder zurückgeschickt werden würde. Diese Nachricht wäre für meine Mutter tödlich gewesen, eine fürchterliche Demütigung für meine Brüder aber auch eine große Freude für meine Schwiegermutter und deren Töchter. Bilal sagte oft, wenn wir uns stritten: »Vergiss nicht, was du mir alles zu verdanken hast. Du bist in der Schweiz und hast die Aufenthaltserlaubnis und wenn ich es will, schicke ich dich sofort nach Marokko zurück, doch ohne meinen Sohn Youns.« Diese Drohung ließ mir das Blut in den Adern gefrieren, schlimmer noch als die Drohungen meiner Schwiegermutter. Ich fühlte mich immer bedroht, sowohl in Marokko als auch in der Schweiz, und ich fühlte mich, als lebte ich angekettet in einem Gefängnis. Ich sah keinen anderen Ausweg, als mich all dem zu unterwerfen und wurde schließlich sogar krank. Es blieb mir nichts anderes übrig, als alles zu akzeptieren, als wäre es normal. Ich musste meinem Mann ständig dafür dankbar sein, mich akzeptiert zu haben, wie ich war und mich in dieses Land gebracht zu haben. Trotz alledem hielt ich ihn immer für einen guten Menschen.
Ich hatte keinen Appetit mehr und nahm sehr viel ab, war von Albträumen geplagt und schlief schlecht. Ich hatte Herzschmerzen und war ständig der Bewusstlosigkeit nahe. Bisweilen lief ich im Zickzack, als wäre ich benommen, und dennoch musste ich um halb fünf Uhr morgens aufstehen, um zur Arbeit zu gehen. Alle bemerkten, dass es mir nicht gut ging. Trotzdem lächelte ich immer und versuchte ein normales Leben führen, doch im Inneren fühlte ich mich wie eine Scheune, die Feuer gefangen hatte, und niemand holte die Feuerwehr. Während meiner Zeit als Sklavin war ich gezwungen gewesen, mich weder zu beschweren noch meine Schmerzen ernst zu nehmen.
Erneut ging ich zu dem alten aber so sympathischen Arzt, mit ihm konnte ich italienisch sprechen. Nach einer Untersuchung und einem kurzen Gespräch sagte er mir, dass ich zu einem Psychiater müsse. »Um was zu tun? Ich bin doch nicht verrückt, oder, Doktor?« »Nein. Der Psychiater wird Ihnen Fragen stellen, um die Ursache für Ihr Unwohlsein herauszufinden.« Er sagte mir, dass der Psychiater Italienisch spräche und in einer psychiatrischen Klinik am Ort tätig sei. Das hat mir ja gerade noch gefehlt. Wenn er mich für verrückt hält, sperrt er mich in der Klinik ein, dachte ich. Zur damaligen Zeit sprachen die Leute schlecht über psychiatrische Kliniken oder Psychologen im Allgemeinen, man sagte, wer zu einem Psychologen ging, wäre nicht richtig im Kopf. In der Tat sagten einige meiner Freunde, denen ich blind vertraute und von denen ich dachte, sie wüssten alles besser als ich, ich solle nicht zu einem Psychiater gehen. Zu einem Psychiater oder einem Psychologen zu gehen, sei ein Zeichen für mangelndes Gottvertrauen, sagten sie. Natürlich war es nicht meine Absicht, Gott nicht zu vertrauen. Leider haben mir diese Freunde, nachdem ich doch entschieden hatte, zu einem Psychiater zu gehen, später gesagt, dass ich dem Psychiater nicht vertrauen und nicht alle Einzelheiten meines Lebens erzählen solle, und dass er einen negativen Einfluss auf meine Gesundheit hätte, anstatt mich zu heilen. Sie sagten, ich müsse einfach Gott vertrauen, dann würde ich schon gesund werden. Kein Mensch könne mich heilen, sondern nur Gott. Ich war hin- und hergerissen zwischen meinem Arzt, der bekräftigte, dass ich einen Psychiater brauchte, und meinen Freunden, die das Gegenteil behaupteten. Erst Jahre später verstand ich, dass ihre Mentalität nichts mit dem Gesetz Gottes zu tun hatte. Damals glaubte ich leider alles, was sie mir sagten. Ich hatte noch keine eigene Meinung entwickelt. Ich wollte jedoch auch meinen Arzt nicht enttäuschen, so ging ich zum Psychiater, dieser saß immer mit übereinander geschlagenen Beinen und dem Notizblock darauf vor mir, auf dem er notierte, was wir besprachen. Er achtete auf meine Bewegungen und Gesten, während ich sprach. »Nun, Frau Laoula, warum sind Sie zu mir gekommen?« »Weil mein Arzt es mir geraten hat.« »Aber wie glauben Sie, dass ich Ihnen helfen kann?« »Ich weiß es nicht. Sie sind der Arzt und sollten wissen, wie sie mir helfen können.« »Sie sind verheiratet, richtig?« »Ja.« »Leben Sie mit Ihrem Mann zusammen?« »Ja.« »Wie läuft es zwischen Ihnen?« »Normal.« »Was meinen Sie mit normal?« »Ich weiß nicht, aber ich glaube, ich will damit sagen, normal eben.« Er sah mich an und stellte mir weitere Fragen, deren Sinn ich nicht verstand, das machte mich nervös und ich begann zu schwitzen. Als er mir Fragen zu meiner Kindheit stellte, verspürte ich einen Stich im Herz, als würde mir eine körperliche Verletzung zugefügt werden. Ich fühle mich schlecht und beendete dieses Thema sofort. Ich war nicht in der Lage, all den Schmerz hervorzuholen, den ich tief in mir begraben hatte. Im Augenblick beschäftigte mich viel Dringlicheres. Ich tat, wie mir meine Freunde geraten hatten. Ich sprach mit dem Psychiater über Gott und den Glauben und gab ihm nicht die Oberhand über mich. In Wirklichkeit wussten sie überhaupt nichts über meine Vergangenheit als Sklavin. Unterdessen befolgte ich ihren Rat, den Psychiater durcheinanderzubringen, um keinen weiteren Fragen über meine Kindheit oder mein aktuelles Leben ausgesetzt zu sein. In der zweiten Sitzung stellte er mir eine Frage, die mich schockierte: »Wie stellt sich die sexuelle Beziehung zwischen Ihnen und Ihrem Ehemann dar?« Ich spürte, wie mir die Hitze in den Kopf schoss, ich schämte mich zu Tode. Ich war es nicht gewohnt, über solche Dinge mit Männern zu sprechen. Es war bereits zu viel für mich, mit einem Mann zu sprechen, und auch noch alleine, dies war in meiner Kultur verboten. Aber das war der Gipfel: »Ich möchte nicht antworten. Bitte, Herr Doktor, stellen Sie mir keine solche Fragen mehr.« »Ich muss Ihnen solche Fragen stellen, Frau Laoula, um die Ursache für Ihr Problem herauszufinden.« Dabei legte er seine Stirn in Falten und sah mich fürsorglich an. Selbst wenn wir Jahre miteinander gesprochen hätten, mein eigentliches Problem hätte er nie herausgefunden. Mein Problem war meine Kultur und Tradition, meine Kindheit, meine erzwungene Hochzeit, die Drohung, ohne meinen Sohn nach Marokko zurückgeschickt zu werden, meine Vergangenheit als Sklavin und die Schwiegermutter, die mich mit dem Tode bedrohte, und nun auch noch meine Freunde, die mir dazu rieten, mich keinem Psychiater anzuvertrauen. Alles war so kompliziert. Ich hatte das Gefühl, dass mich niemand verstand und mir keiner helfen konnte. Wie hätte ich zum Beispiel einem Psychiater erklären sollen, dass ich im Alter von 15 Jahren gezwungen wurde, mich gegen meinen Willen zu verheiraten, und dass mich meine Familie um fünf Jahre älter gemacht hatte, damit ich nach Europa kommen konnte? Als ich in der Schweiz ankam, war ich 16 Jahre alt und musste behaupten, ich wäre 21 – obwohl natürlich viele bemerkten, dass dies nicht der Wahrheit entsprach. Beispielsweise die Busfahrer. Wenn ich mir ein Ticket kaufen musste, boten sie mir eines für Jugendliche an, ich musste jedoch ablehnen und das für Erwachsene nehmen, da ich laut meinen Papieren volljährig war. Die Fahrer sahen mich stets verständnislos an. Ich habe oft darunter gelitten, ein Alter vorzugeben, das ich nicht hatte, heute macht mir dies weniger aus. Als ich beim Psychiater war, war ich 18 Jahre alt, doch alle, auch der Psychiater, hielten mich für 23, wie es in meinen Unterlagen stand. Außerdem, wenn ich ihm gesagt hätte, dass ich gezwungen war, in einer unglücklichen Ehe ohne Liebe und Zärtlichkeit zu leben, hätte er mich vielleicht dazu gedrängt, mich scheiden zu lassen, doch dies war nicht so einfach wie man hätte annehmen können. Meine Kultur und Tradition und selbst meine Freunde hier in der Schweiz hätten dies nicht zugelassen. Auch wenn ich meinen Freunden erklärt hätte, dass ich gegen meinen Willen mit 15 Jahren zur Heirat gezwungen worden war und keine Eheurkunde unterschrieben hatte, sondern dies mein Bruder für mich getan hatte, wäre nichts zu machen gewesen. Für sie hatte meine Ehe Gültigkeit, und wenn ich mich hätte scheiden lassen, hätte ich dadurch das Gesetz Gottes gebrochen. Damals glaubte ich ihnen alles und wollte mich Gott auf keinen Fall widersetzen. Erst 27 Jahre später erfuhr ich, dass ich nach Schweizer Recht nicht legal verheiratet war, angesichts der Tatsache, dass ich minderjährig verheiratet wurde und keine Eheurkunde unterzeichnet hatte, und dass diese Ehe noch nicht einmal vor Gott Bestand hatte. Wie hätte der Psychiater verstehen sollen, dass ich mich seiner Fürsorge nicht anvertraute, weil mir meine Freunde davon abrieten? Wie hätte ich ihm sagen können, dass ich mich nicht scheiden lassen konnte? Und wie hätte er die Bedrohung von Seiten meiner Schwiegermutter verstehen können? Er hätte diese komplexe Situation nicht verstanden, also beendete ich das Thema und ließ es sein. Nicht einmal ich selbst war mir darüber im Klaren, dass ich in der Hölle lebte. Ja, ich hatte mich aus der Sklaverei befreit, jedoch nur, um in einem freien Land wie der Schweiz in einem goldenen Käfig eingesperrt zu sein. Dieser Käfig war meinem Ehemann und seiner Mutter übergeben worden, die mich Tag und Nacht bedrohte, und letztlich war dieser Käfig auch in den Händen meiner Freunde. Ich hatte keine Kontrolle über mein Leben, das von anderen kontrolliert wurde. Ich war gefangen in einem freien Land bis zu dem Tag, an dem ich mich entschied, für immer aus diesem Käfig auszubrechen und den Sprung in die Freiheit zu wagen.
Daher bat ich den Psychiater, mir keine weiteren Fragen zu stellen, doch er verstand nicht warum. Der Arme, er tat nur seine Arbeit. Am Ende musste er aufgeben. Er gab mir Medikamente, doch nachdem ich diese genommen hatte, fühlte ich mich schlecht und torkelte umher wie eine Betrunkene. Als ich beispielsweise in das Zimmer von Youns gehen wollte, ging ich stattdessen zur Haustür hinaus, ehe ich bemerkte, dass das Kinderzimmer ja auf der gegenüberliegenden Seite des Flures lag. Ich hatte Angst, dass ich mein Kind fallen lassen würde. Ich blieb den ganzen Tag mit dem Kleinen im Bett, während er neben mir spielte. Zur Arbeit zu gehen war unmöglich. Nach zwei Tagen hörte ich auf, diese Medikamente einzunehmen. Beim nächsten Mal fragte mich der Psychiater: »Wie ist es Ihnen ergangen? Schlafen Sie besser?« Ich erzählte von meiner Reaktion auf die Medikamente und dass ich sie nicht mehr nahm. »Sie müssen Sie nehmen. Sie zeigen Symptome einer Depression, wissen Sie das? Probieren Sie die halbe Dosis aus und wir werden sehen.« Ich versuchte dies einige Tage, doch ich fühlte mich weiterhin nicht gut, auch nicht mit der halben Dosis. Mir kam es so vor, als sei ich nicht mehr ich – als verlöre ich die Kontrolle über mich. Es wurde schlimmer als zuvor, so hörte ich auf zum Psychiater zu gehen und nahm keine Medikamente mehr. Meine Freunde hatten mir Zweifel eingeredet, indem sie sagten, der Psychiater würde mich nicht heilen, sondern nur noch mehr schaden. Erst einige Jahre später bedauerte ich sehr, die Therapie nicht fortgesetzt und die Medikamente in der niedrigeren Dosis nicht eingenommen zu haben. Am Ende war ich eingeschlossen in meiner Welt voller Schmerz, in der mich niemand verstand.
In Marokko
Im Januar fuhren wir mit Markus, einem Freund von Bilal, nach Marokko. Er kam um Mitternacht, um uns abzuholen, mit seinem Wohnmobil, das wie ein kleines Haus war, mit einem großen Bett, einer Dusche, einer Küche, zwei Sitzbänken und einem Tisch in der Mitte. Markus war sehr sympathisch und ein positiver Mensch, er lachte immer. Seine Gesellschaft war sehr angenehm. Drei Tage und drei Nächte fuhr er, während Bilal und ich ihm abwechselnd Gesellschaft leisteten, damit er während der Fahrt nicht einschlief. Er ruhte sich täglich nicht mehr als ein oder zwei Stunden aus, um anschließend weiterzufahren. Er hatte sich für die Nebenstraßen entschieden, die durch die Berge und die ländlichen Dörfer und entlang des Meeres verliefen. Für mich war es die erste Reise meines Lebens, die so wunderbar und schön war. Die Schönheit der Natur raubte mir den Atem. Ich war voller Vorfreude, das erste Mal Frankreich und Spanien zu sehen. Nachdem wir in Gibraltar angekommen waren, überquerten wir das Meer mit der Fähre. Youns, der Wasser liebte, war außer sich vor Freude, als er zum ersten Mal auf einer Fähre in der Mitte des Ozeans war. Obwohl er erst ein Jahr und fünf Monate alt war, verstand er schon vieles und konnte bereits viele Gefühle zeigen. Er war ein intelligentes, aufgewecktes und doch ruhiges Kind. Er beobachtete alles und nahm alles wahr, und wenn er etwas nicht verstand, fragte er mich. Wir waren nicht nur Mutter und Sohn, sondern auch beste Freunde. Noch waren es tausend Kilometer Fahrt von Tanger bis zu unserem Ziel. Wie immer war das Haus meiner Schwiegereltern voller Menschen, die Bilal erwarteten. Alles war wie immer, nur mit dem Unterschied, dass wir dieses Mal weniger Geschenke gekauft hatten. Wir hatten gebrauchte Spielsachen und Kleidung dabei, die wir von Freunden geschenkt bekommen hatten. Bilal hatte nur Uhren und Schokolade für alle gekauft. Er hatte seine Familie daran gewöhnt, jedes Jahr neue Uhren von ihm zu bekommen, für die er Hunderte von Franken ausgab. Den Bus hatten wir mit gebrauchter Kleidung, die jedoch in gutem Zustand war, vollgeladen. So konnten wir viel Geld sparen. Ich hatte entschieden, die Schulden zurückzuzahlen und in ein anständiges Haus zu ziehen, das mehr kostete, so bat ich Bilal, in Marokko einzusparen. Für ihn war dies sehr schwierig. Er hatte Angst, die Zuneigung und Liebe seiner Familie zu verlieren, die er im Austausch gegen die Geschenke, die er ihnen machte, erhielt. Ich hielt es für richtig, die Schwiegereltern finanziell zu unterstützen, die jungen Leute hingegen konnten arbeiten und ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. So hatten sie nie die Möglichkeit gehabt zu lernen, allein zurechtzukommen. Die Brüder und Schwestern von Bilal waren stets mit seinem Geld aufgewachsen und hatten nichts anderes gelernt, als zu essen und zu faulenzen. Mittlerweile waren einige davon verheiratet und gaben vor, dass wir auch ihre Familien unterstützen müssten, die ständig größer wurden.
Bevor wir dieses Mal nach Marokko reisten, entschied ich, Bilal davon zu erzählen, was mir seine Familie angetan hatte. Schluchzend und unter Tränen erzählte ich, dass seine Mutter mir mit dem Tod gedroht hatte, dass sie schwarze Magie angewendet hatte, um ihn und mich zu trennen und dafür zu sorgen, dass ich krank wurde und dass ich, während ich bei ihnen gewohnt hatte, von seinen Schwestern und Brüdern verprügelt worden war. Ich erzählte, dass mir seine Mutter ins Gesicht gespuckt und mich ohne Ende beleidigt und gedemütigt hatte, dass seine Eltern mir nicht erlaubt hatten, meine Familie zu besuchen, dass ich sie in dem ganzen Jahr, in dem ich bei ihnen wohnte, nicht gesehen hatte. Außerdem erzählte ich ihm, dass seine Familie ihn betrog, um sein Geld zu bekommen, dass seine Eltern planten, das Haus, dass er ihnen gebaut hatte und die Grundstücke, die er gekauft hatte, auf den Namen seiner Brüder und Schwestern eintragen zu lassen, und nicht auf den seinen. Bilal vertraute seiner Familie blind und dachte, dass sie alles in seinem Namen eintragen lassen hatten, was er in Marokko gebaut hatte, doch so war es nicht. Bilal war schockiert und enttäuscht. Offensichtlich, so sagt er selbst, kannte er seine Familie nicht gut. »Jetzt sind sie aber zu weit gegangen!«, rief er aus. »Ich überlasse ihnen meine Frau und sie behandeln sie wie eine Sklavin? Bastarde! Haben sie vergessen, was ich ihnen alles Gutes tue? Hör zu, Aicha, ich werde ihnen das heimzahlen. Ich werde sie alle verprügeln und aufhören, ihnen Geld zu geben.« »Nein, ich bitte dich! Sag deiner Mutter nichts. Sie hat geschworen, mich umzubringen, wenn ich dir etwas erzähle. Vielleicht kennst du sie nicht, aber sie ist zu allem fähig.« »Ich hatte ständig ein seltsames Gefühl, hätte aber nicht gedacht, dass es so kommt. Ich glaubte, sie zu kennen, doch ich habe mich getäuscht. Seit meiner Jugend wohnte ich nicht mehr bei ihnen, da ich mein Zuhause früh verlassen habe. Ich kam ab und an zu Besuch oder wenn ich ihnen das Geld brachte, das ich verdient hatte. Doch jetzt ist mir alles klar und ich werde sie dafür bezahlen lassen, wenn du mich nicht davon abhalten würdest.« Doch wie ich Bilal kannte, hätte er sie alle verprügelt und am nächsten Tag hätte er sich wieder mit ihnen versöhnt. So hätte sich für mich nichts geändert, höchstens verschlechtert.
Angesichts dessen, dass er vor Wut über seine Schwestern und seine Mutter kochte, dachte ich, es wäre besser, ihm nichts von den sexuellen Übergriffen zu erzählen, die ich durch seine Brüder erlebt hatte. Bilal hätte diese schwere Demütigung nicht ertragen. Ich hatte Angst, dass er sie schwer verprügeln würde. Außerdem schämte ich mich viel zu sehr, um darüber zu sprechen. Ich fühlte mich schmutzig und schuldig. Was mir am meisten Angst einjagte, war, dass Bilal mich hätte verstoßen können, weil mich sein Bruder vergewaltigt hatte und dass dies ein wirklicher Grund für ihn hätte sein können, sich von mir scheiden zu lassen, sobald wir in Marokko ankamen, und so hätte er mir meinen Sohn genommen. Zur damaligen Zeit war es bei uns üblich, dass der Vater das Sorgerecht für die Kinder hatte. Eine Frau ging aus einer Scheidung mit leeren Händen hervor, ohne Kinder und ohne finanzielle Unterstützung. Zum Glück änderten sich diese Dinge für die Frauen auch in Marokko zum Positiven. Von Gesetzes wegen ist es nun verboten, Minderjährige gegen ihren Willen zu verheiraten, doch ich musste leider feststellen, dass sich viele Eltern darüber hinwegsetzen, so wie es damals bei mir war. Wie bei mir wird das Geburtsdatum gefälscht oder das Mädchen gezwungen, vor dem Notar zu bestätigen, dass es heiraten will. Ich habe gehört, dass es in Casablanca sogar Auffangzentren für Mädchen gibt, die ein uneheliches Kind erwarten. Diese Mädchen werden oft aus der Familie und der Gesellschaft ausgestoßen, weil sie diese unverzeihliche Schande über die Familie gebracht haben. In diesen Zentren wird ihnen und ihren Kindern Unterstützung angeboten und sie haben die Möglichkeit, einer Arbeit nachzugehen, um finanziell unabhängig zu sein. Außerdem haben die Frauen jetzt von Gesetzes wegen nach einer Scheidung das Sorgerecht für ihre Kinder, haben Anspruch auf Unterhalt für die Kinder und auf die Hälfte dessen, was sie gemeinsam mit ihrem Ehemann besessen haben. Darüber hinaus verbietet das Gesetz dem Ehemann, seine Ehefrau zu schlagen. Doch wie aus einer Dokumentation im marokkanischen Fernsehen hervorging, halten sich nur wenige Männer an diese Gesetze. Die Frauen und ihre Familien werden auf schlimmste Weise bedroht, wenn die Frau auf ihre gesetzlichen Rechte besteht. Die Frau hat noch nicht all ihre Rechte in unserer Gesellschaft, die so stark von der Tradition beeinflusst wird, erobert. Vielleicht gelingt dies erst dann, wenn die älteren Generationen gemeinsam mit den alten frauenfeindlichen Konventionen sterben.
Sobald Bilal seine Familie sah, umarmte und küsste er sie und schien alles vergessen zu haben, was ich über sie erzählt hatte. Er verhielt sich weiterhin, als wäre nichts geschehen. Tief in meinem Herzen wusste ich, dass es nichts ändern würde, wenn ich es ihm erzählt hätte.
Markus brachte mich in seinem Wohnmobil zu meiner Familie. Als er die Natur und die Ruhe meines Landes sah, das ihm sehr gefiel, entschied er sich, einige Tage zu bleiben. Als er wieder fahren wollte, funktionierte der Motor des Wohnmobils nicht mehr, so musste der arme Markus einige Wochen dort verbringen, bis ein Ersatzteil aus der Schweiz und eine Fachkraft ankamen und es einbauten.
Dieses Mal machte ich Bilal deutlich, dass ich mehr Tage mit meiner Familie verbringen wollte, allerdings ohne dass mir seine Mutter und seine Schwestern hinterherschlichen. Auch er begleitete uns, schlief aber bei Markus im Wohnmobil mitten in der Landschaft. Dies demütigte mich und machte mich traurig. Ich hätte ihn gern bei meiner Familie gehabt, aber ich wusste auch, dass seine Mutter nicht zuließ, dass ihr Sohn bei meiner Familie blieb. Im Großen und Ganzen war ich sehr glücklich, Zeit mit meiner Familie zu verbringen und ihr endlich über mein Leben in der Schweiz erzählen zu können. Am Abend nach dem Essen saßen wir zusammen auf den Teppichen in einem Zimmer, während das schwache Licht einer Kerze, die auf dem kleinen runden Tisch in der Mitte stand, das Zimmer erhellte. Alle sahen mich voller Interesse an, während ich von meinem Leben in der Schweiz erzählte: vom Wetter, vom üppigen Gras und den reichen Ernten, und von dem majestätischen Fluss, der die Stadt durchzog, von den Leuten und ihren Sitten und von ihrer Art sich zu kleiden. Ich erzählte auch von Dingen, die meine Familie noch nie gesehen und von denen sie noch nie gehört hatte. Wie zum Beispiel von den Rolltreppen in den Geschäften, der Waschmaschine, der Spülmaschine, vom Staubsauger und anderen Dingen. »Was? Maschinen, die Kleidung und sogar Geschirr waschen?«, sagte Rabiha, und Fadma staunte mit offenem Mund und großen Augen. »Und was machen die Frauen den ganzen Tag, wenn diese Maschinen die Hausarbeit erledigen?«
Ich erklärte, dass der Rhythmus des Lebens in Europa viel schneller und ganz anders als der unseres Dorfes war. Dass die Mehrheit der Frauen zur Arbeit ging, dass die Leute mehr materielle Dinge besaßen und daher auch mehr Bedürfnisse hatten. Die Leute verwendeten mehr Teller und Gläser und Bestecke beim Essen. Nicht wie wir auf dem Land, die mit der Hand von nur einem Teller aßen und alle Wasser aus derselben Tasse tranken, die aus Aluminium oder Terrakotta gemacht war. Außerdem berichtete ich, dass die Menschen in Europa mehr Kleider besaßen, täglich duschten und sich oft umzogen und sie daher Kleidung und Geschirr oft waschen mussten. Daher mussten sie Maschinen erfinden, die ihnen die Arbeit erleichterten. Des Weiteren mussten ihre Häuser geputzt werden, bis sie glänzten. Darum sind die Leute dort ständig unterwegs und haben weniger Zeit als wir auf dem Land.
Sie hörten mir voller Interesse und Neugier zu. An ihrem Gesichtsausdruck konnte ich erkennen, dass sie versuchten, sich alles vor ihrem geistigen Auge vorzustellen, um es besser zu verstehen. Auch mein Stiefvater bombardierte mich mit Fragen zur Politik und zur Landwirtschaft. Er fragte mich, ob es in diesem Jahr in der Schweiz geregnet habe und ob die Leute bereits ihr Land gepflügt hätten, ob die Ernte im vergangenen Jahr gut gewesen sei und so weiter. Voller Erstaunen hörte er, dass es in der Schweiz das ganze Jahr über ausreichend Regen gab, sogar im Hochsommer. Dass der Sommer nicht so warm war wie der in Marokko. Dass das Getreide, vor allem der Mais, so hoch wuchs, wie ich groß war oder gar höher. Dass einige Früchte, wie Äpfel oder Birnen, reif von den Bäumen fielen und dass nicht einmal die Kühe Lust hatten, diese zu essen, da sie vom Gras im Überfluss satt waren. Ich erzählte, dass das ganze Land wie ein grüner Teppich war, von Frühlingsanfang bis zum Einbruch des Winters, dass das Land im Winter vollständig von Schnee bedeckt war und so weiter. Die ganze Familie war verblüfft, von diesem Land erzählt zu bekommen, dass für sie nach einem Paradies auf Erden klang.
Zum ersten Mal hätte ich auch die Möglichkeit gehabt, die schrecklichen Dinge zu erzählen, die ich bei meinen Schwiegereltern während des Jahres, in dem ich bei ihnen leben musste, erlitten hatte, ohne die Vergewaltigung natürlich. Alles, was die Torturen betraf, die ich bei meinen ehemaligen Herrschaften in der Vergangenheit erlebt hatte, wusste ebenfalls keiner in meiner Familie. Es war zu schmerzhaft für mich, mit ihnen darüber zu reden, daher erzählte ich weder von dem einen noch von dem anderen. Es blieb mein Geheimnis, das ich viele Jahre mit mir herumtrug, bis ich endlich teilweise darüber sprechen konnte, doch niemals ganz. Nur dank des Schreibens kann diese Geschichte mein Herz verlassen, doch auch nur zum Teil.
Meiner Familie brachte ich ein Radio mit, sodass sie zumindest die Nachrichten über Marokko hören konnten. Ich kaufte ihnen Kassetten mit Konzertaufzeichnungen berberischer Musik. Auch über die gebrauchte Kleidung, die ich aus der Schweiz mitbrachte, waren sie sehr glücklich. Ich besuchte die Leute im Dorf, die mich abwechselnd einluden. Als Geschenk gab ich ihnen Schokolade und ebenfalls gebrauchte Kleider, sie waren sehr dankbar dafür. Jeder ermunterte mich und sagte: »Iss, Mädchen iss. Du bist viel zu dünn, iss!« Doch nach ein paar Happen bekam ich nichts mehr hinunter. Die Leute dachten sogar, dass mein Mann das Essen vor mir wegsperrte. Ich musste ihnen erklären, dass wir Essen im Überfluss hatten, ich jedoch keinen Appetit verspürte. Tatsächlich ist es bei uns so, dass eine dünne Person nicht dem Schönheitsideal entspricht. Insbesondere die Frauen müssen gut genährt sein, mit breiten Hüften, heller Haut und glattem Haar. Ich entsprach diesem Schönheitsideal überhaupt nicht und ich schämte mich sehr für meinen körperlichen Zustand. Als wir gerade im Urlaub angekommen waren, wollte meine Schwiegermutter eines Morgens, dass ich sie zum Einkaufen auf den Markt begleitete. Da es ein wunderschöner, sonniger Tag war, zog ich mir ein Sommerkleid an, das bis unter die Knie reichte und kurze Ärmeln hatte. Als sie mich so sah, befahl sie mir, meinen Wintermantel anzuziehen, den ich während der Reise getragen hatte, da es in der Schweiz tiefster Winter war. Sie sagte, ich dürfe nicht einmal einen Gürtel anlegen, damit man nicht sähe, wie dünn ich war. Sie sagte, dass sie sich schämte, mit einer Schwiegertochter in die Nachbarschaft zu gehen, die dünn wie die Wirbelgräte einer Sardine war. Es ist eine sehr beleidigende Redensart, da dünn zu sein, in unserer Kultur als Affront gegen die Schönheit gilt. So musste ich für mehrere Stunden in meinem Wintermantel schwitzen, der im Inneren mit Wolle gefüttert war, um meine Schwiegermutter nicht zu beschämen. Als ich zum ersten Mal in die Schweiz kam, war ich sehr überrascht zu hören, dass hier eine schlanke Figur und leicht gebräunte Haut als schön galt. Ich verstand die Welt nicht mehr und wusste nicht, welches der beiden Ideale das richtige für mich sein sollte: das marokkanische oder das europäische. Hier in Europa machten mir die Leute für meine Figur Komplimente, etwas, was mir nie in den Kopf wollte, da ich, wenn ich nach Marokko ging, das Gegenteil zu erwarten hatte, was mir sehr peinlich war. Dort galt: Wer mager war, der war nicht attraktiv oder sogar hässlich.
Obwohl ich bei meiner Familie war, hatte ich Angst vor den Gemeinheiten meiner Schwägerinnen und meiner Schwiegermutter. Ich konnte weiterhin nicht schlafen, wegen der Albträume, die mich aus dem Schlaf rissen. Ich hatte Angst, dass Bilal etwas von dem, was ihm erzählt hatte, verraten würde.
Trotzdem zwang ich mich, mein Land, meine Leute, die wunderbare Sonne und den blauen Himmel zu genießen. Ich besuchte Bilal und Markus, die im Wohnmobil wohnten und im Freien kochten. Meine beiden Onkel mütterlicherseits, die nicht weit davon entfernt wohnten, wo das Wohnmobil geparkt war, brachte Markus und Bilal täglich frisch gebackenes Brot, Pfefferminztee, Butter und Honig vorbei. Gelegentlich brachten sie auch Tajin mit Fleisch und Gemüse. Auch fremde Leute wurden vom Wohnmobil angezogen. Sie brachten Essen vorbei und nutzten die Gelegenheit, sich das Innere des Fahrzeugs anzusehen.
Es war wundervoll, auf dem Land und unter den Olivenbäumen mit meinem kleinen Youns spazieren zu gehen. Er lächelte mich an, während er meine Hand nahm und darauf achtete, nicht über die Steine zu stolpern. Oft malte ich mir aus, was wohl aus meinem Kind werden würde, wenn meine Schwiegermutter mich umbrächte und Bilal ihn ihr anvertrauen würde. Ich hatte begonnen, die Familie von Bilal zu hassen. Gleichzeitig kämpfte ich gegen dieses negative Gefühl, weil Gott ja nicht wollte, dass ich meine Nächsten hasste. Doch das überforderte mich, ich glaubte zu explodieren und zu sterben. Zum ersten Mal wurde ich von Panikattacken übermannt – von einer Angst, die meinen Kopf, meine Gefühle und meinen Körper vollständig einnahm. Dieses Grauen ließ mich erzittern und mir förmlich das Blut in den Adern gefrieren, auch wenn es draußen heiß war. Ich hatte solche Angst zu sterben, und ich dachte immer wieder an die Worte meiner Schwiegermutter: »Ich erledige dich, wenn du es wagst, meinem Sohn auch nur ein Wort zu sagen.«
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