Kitabı oku: «"Und ihr wollt das Land besitzen?" (Ez 33,25)», sayfa 6

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1. e) Exkurs: Die Bedeutung von „Sehen“ im Buch Ezechiel

Wie bei den großen Schriftpropheten überhaupt erfährt auch bei Ezechiel das Verb der Wurzel einen ausgedehnten Gebrauch. Es kommt bei ihm 77mal vor (zum Vergleich: Jes 82mal; Jer 71mal).98 An vielen Stellen dient es dazu, das Visionserlebnis des Propheten zu schildern. Im Unterschied zum ähnlichen , das den Visionsempfang überhaupt bezeichnet, um eine besondere Qualität des Geschehens zu unterstreichen, beschreibt mehr den Verlauf dieses Geschehens im Einzelnen, vielleicht besonders das menschliche Erleben dabei. In diesem Sinne hat eine stärkere anthropologische Komponente als .99

In Ez 8 kommt dies dadurch zum Vorschein, daß mit ihm nicht nur die ganze Vision, sondern auch die einzelnen Abschnitte derselben eingeleitet werden. In 11,25 wird dann damit die gesamte Vision zusammengefaßt, wenn der Prophet den Exulanten berichtet, - „all die Dinge JHWHs, die er mich sehen ließ.“

Merkwürdiger Weise scheint die Wurzel bei Ez oft eher eine abwertende Bedeutung zu besitzen. Den falschen Propheten wird vorgeworfen, „nicht gesehen zu haben“ (13,3), während sie - „Falsches geschaut haben“ (13,6). 7,26 kündigt das vergebliche Aufsuchen einer belehrenden „Schau“ bei den Propheten an. Anders nur in 12,23-24, wo in Erwiderung auf die Redensart in 12,22 das Eintreffen der bezweifelten Schau betont wird, wobei der Akzent jedoch auf dem Dabar, dem Wortereignis, liegt.100

Im 8. Kapitel kommt nicht weniger als 13 Mal vor, obwohl das Kapitel im ganzen nur 18 Verse zählt. Der Prophet ist stets das Subjekt dieses „Sehens“. Oft ist er es dabei in dem Sinn, daß er von Gott nach dem Geschauten gefragt wird (VV. 6.12.15.17), daß er aufgefordert wird, genauer hinzuschauen (V. 9), oder ihm versprochen wird, im folgenden noch gewichtigere Greuel zu sehen (VV. 6.13.15). Damit ist es in erster Linie Gott selbst, der sieht und sehen läßt. Die Aussage des Ältesten-Spruches in 8,12, daß der Herr nicht sieht, wird ad absurdum geführt. Gott erscheint als ein allsehender Gott, der auch das sieht, was im Verborgenen geschieht, was von den Ältesten bewußt auch vor den übrigen Volksgenossen verborgen gehalten wird.

Vordergründig handelt es sich jedoch um das „Sehen“ des Propheten, den Gott in der Vision an seinem göttlichen Sehen teilhaben läßt. Der Prophet erhält damit Einblick in den wahren inneren Zustand des Volkes, beispielhaft vorgeführt an dem Verhalten der für dasselbe Verantwortlichen, der Ältesten.

Was ist der Sinn dieses menschlichen Sehens? Im Zusammenhang des Großabschnitts Kapitel 8 - 11 hat die Tempelvision gewissermaßen die Bedeutung, die im 9. Kapitel sich anschließende Gerichtsschau zu rechtfertigen und zu begründen. Dem Abschnitt der Tempelvision im besonderen käme damit die Bedeutung der Scheltrede zu, durch die die Betroffenen zum Bewußtsein und zur Anerkennung ihrer Schuld gebracht werden sollen. Dieses geschieht hier nicht durch eine rhetorisch aufgebauschte Anklagerede, sondern durch die nüchterne, wiederholt an den Propheten gerichtete Aufforderung zu sehen, das Faktische einfach wahrzunehmen, das aus dem Verborgenen heraufgeholt wird, um die Betroffenen zu überführen. Dieses Sehen meint also nicht eine bloß oberflächliche Wahrnehmung der Wirklichkeit, sondern bereits ein tieferes Eindringen in dieselbe. Es soll nämlich nicht beim bloßen Sehen bleiben. Das „Gesehene“ bewirkt ein Verstehen, ein Ein-Sehen, das damit seinerseits zur Grundlage einer zukünftigen Entscheidung wird.

Ezechiels eigentümliches Verständnis vom „Sehen“ soll in einer syntaktischen Wortfeld-Analyse untersucht werden, die aufzeigt, in welchen grammatikalischen und syntaktischen Zusammenhängen das Verb „Sehen“ von der Wurzel bei Ezechiel auftaucht. Es können dabei nicht alle Stellen berücksichtigt werden, sondern nur eine charakteristische Auswahl derselben.

a) Nicht-Sehen als Folge.


Die Beispiele für das Nicht-Sehen lassen erkennen wie der Prophet die Bedingungen für das natürliche Sehen auffaßt. Die Behinderungen des Sehens, die bis zum völligen Nichtsehen führen, können von äußerer Art sein, wie das Verdecken des Gesichtes oder die räumliche Entfernung, oder, wie im zuletzt aufgeführten Beispiel, an der geistigen Einstellung liegen.

Das in der Redewendung in Ez 8,12 voreilig angenommene NichtSehen Gottes hat seine unmittelbare Entsprechung in einem menschlichen Nicht-Sehen, von dem das 12. Kap. spricht. Wenn nämlich in Ez 12,6 der Prophet aufgefordert wird, in einer Symbolhandlung die zweite Deportation vorwegzunehmen, soll er zugleich das Gesicht verhüllen, damit er das Land nicht sieht. Damit entsteht eine ähnliche Verbindung zwischen „Nicht-Sehen“ und „Land“, wie in Ez 8,12. In 12,6 ist das Land direktes Objekt des NichtSehens, während in 8,12 das Nicht-Sehen Gottes die Menschen, die Sprecher, zum Objekt hat. Aber noch durch ein weiteres Stichwort ist 12,6 mit 8,12 verbunden. „In Finsternis“ soll der Prophet (und entsprechend der Fürst in 12,12) ausziehen. Das erinnert an das Treiben der Ältesten in der Dunkelheit und den geheimen Kammern in 8,12. Die Wortwahl ist freilich eine andere, - „in der Dunkelheit“ in 8,12, - „im Finstern“ in 12,6. Vielleicht soll damit die größere Unfreiwilligkeit der „Dunkelheit“ neben der selbstgesuchten in 8,12 hervorgehoben werden. Außerhalb des Ezechielbuches taucht - „und Finsternis“ nur noch in Gen 15,17 auf, bei der durch ein Opfer beschworenen Landverheißung. Liegt ein bewußtes Aufgreifen des Ausdrucks vor, dann erscheint es fast wie ein zynischer Vergleich zwischen Landverheißung und Deportation aus dem Land. Abraham wird sonst im Ezechielbuch nur in 33,24 innerhalb einer anderen Redensart erwähnt, durch die die Jerusalemer die Abrahamsverheißung für ihre eigenen privaten Ansprüche geltend machen. 12,6 könnte dann wie eine vorweggenommene Wiederlegung dieser Redensart verstanden werden.

Jüdischen Auslegern des Mittelalters war das Nichtsehen in Ez 12,6 Ausdruck von Scham.101 Greenberg erwägt auch die Möglichkeit, daß damit ein Nicht-Wieder-Sehen-Können des Landes, also die Endgültigkeit des Exils für den König ausgedrückt wurde.102 Welcher von diesen Interpretationsmöglichkeiten man auch immer den Vorzug geben möchte, unabhängig davon ist der Rückbezug zu Kap. 8, der in Kap. 12 das Nicht-sehen als eine Umkehrung der Verhältnisse erscheinen läßt. Diejenigen, die Gott ein NichtSehen wegen Abwesenheit im Land vorhalten, werden selber das Land nicht sehen (oder nicht wieder sehen können) und es verlassen müssen, mag für das Sehen nun Scham (jüdische mittelalterliche Ausleger) oder Trauer (Zimmerli) oder etwas anderes die Ursache sein. Auch das zeigt schon, wie wichtig das Sehen für den Propheten ist, daß es überhaupt ein eigener Bestandteil einer symbolischen Handlung ist.

Von einer Vernachlässigung des rechten Sehens ist in 13,3 bei der Kritik der falschen Propheten die Rede. Von ihnen gilt, sie sind Propheten, - „die ihrem eigenen Geist hinter her gehen und haben dabei nicht gesehen.“ Bei Propheten möchte man bei „Sehen“ am ehesten an Empfang von Visionen denken. Ezechiel hat aber wahrscheinlich ganz bewußt nicht die dafür zutreffende Wurzel genommen, sondern eben die andere , um so die anthropologische Komponente stärker zur Geltung zu bringen. Als Voraussetzung für das NichtSehen aufgefaßt, hätte das dem eigenen Geist Nachgehen die Folge, daß die Wahrnehmungsfähigkeit für Dinge, die über den eigenen Geist hinausgehen, entsprechend behindert wird. Insofern kein äußeres unabwendbares Hindernis vorliegt, ist diese Art des Nicht-Sehens zu einem großen Teil selbstverschuldet.

b) Sehen als Folge


Im Kapitel 16 sind es die Liebhaber der abtrünnigen Braut Jerusalem, denen Gott die Blöße derselben aufdeckt, so daß es dann in V. 37 heißen kann: - „da sehen sie deine ganze Blöße.“ Man darf auch hier vermuten, daß mit dem Sehen nicht an die bloße Sinneswahrnehmung gedacht ist, sondern, daß die Liebhaber die Blöße bewußt als das wahrnehmen, was sie ist, daß sie auch das Spiel verstehen, daß mit ihnen getrieben wurde.

Die Entblößung verführt dazu, in diesem Umgang Gottes mit der Braut Jerusalem den Ausdruck patriarchalischer Überlegenheit und Gewaltausübung zu sehen. Tatsächlich scheinen kaum Beispiele einer solchen Entblößung im Fall von Frauen, die des Ehebruchs bezichtigt wurden, vorzuliegen. Daneben gibt es aber viele Bilddarstellungen von entblößten Kriegsgefangenen. Das hat Smith-Christopher zu der Vermutung veranlaßt, daß an dieser Stelle die Bildebene gewissermaßen verlassen, und durch die Entblößung das teils eingetretene, teils noch ausstehende Schicksal des Exils selbst beschrieben werde.103 Die geschilderte Entblößung steht damit für den äußersten Tiefpunkt innerhalb der allgemeinen Krise des Volkes.104

An den zwei andern Stellen ist Gott zwar nicht direkt Objekt des Sehens, dieses Sehen schließt aber zugleich das Erkennen mit ein, daß Gott gehandelt hat, daß er an dem zu Sehenden unsichtbar mitgewirkt hat. In 21,4 steht zu lesen:

- „Und alles Fleisch wird sehen, daß ich, JHWH, es [das Feuer] entzündet habe.“ Und in 39,21:

- „Und alle Völker werden sehen mein Gericht.“

Diese Verwendung von wird dadurch ermöglicht, daß seine Bedeutung sich mit derjenigen von berührt. Zuweilen werden sie fast synonym gebraucht. Das ist z.B. nach Zimmerli neben Ez 21,4 auch in 39,21 der Fall, wo er jeweils eine Entsprechung zum Erweiswort gegeben sieht, d.h. zu jener Erkenntnisformel mit dem Wortlaut: „sie werden erkennen, daß ich der Herr bin.“105 Im Unterschied zu kann man vielleicht auch hier, ähnlich wie im Unterschied zu , behaupten, daß mit weniger das Ergebnis des Erkennens als solchen gemeint ist, als vielmehr der menschliche Vorgang, durch den es zu einem solchen Erkennen kommt.

Dabei werden die beiden Wurzeln jedoch nie so schroff entgegengesetzt wie es bei dem P zugeschriebenen Vers in Ex 6,3 der Fall ist, der Gott zu Mose sagen läßt, er wäre zwar den Vätern erschienen ( - „ich erschien“, Nifal ), hätte sich aber nicht mit seinem Namen zu erkennen gegeben ( - „ich ließ mich nicht erkennen“, Nifal ). Immerhin ist auch hier die Entgegensetzung nur relativ, weil doch zugleich gesagt sein soll, daß die Väter bereits auf dem richtigen Weg waren. Daß auch für P oft ein tieferes Sehen bedeuten konnte, belegt der Schöpfungsbericht, wenn es hier von Gott selbst in regelmäßigen Abständen heißt:

- „da sah Gott, daß es gut war“ (z.B. Gen 1,10), bis es nach der Erschaffung des Menschen heißen kann:

- „und Gott sah all das, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut“ (Gen 1,31).

c) Sehen als Voraussetzung.




Bei den hier aufgeführten Beispielen kommt Ezechiels eigentümliche Auffassung vom Sehen am deutlichsten zum Tragen. Das Sehen erscheint hier als ein Wahrnehmen von Zusammenhängen, die nicht unmittelbar auf der Oberfläche liegen, und deshalb ein tieferes Eindringen und Hineinschauen in die wahrgenommenen Dinge erfordern. Entscheidendes Kriterium für die Reihenfolge der Stellen in der Besprechung ist die Frage, was zwischen dem Sehen und der Folgehandlung passiert, das in der Regel nicht ausgesprochen, aber gedanklich vorausgesetzt wird.

Manchmal ereignet sich der Schritt vom Sehen zum Erkennen unmittelbar, ohne daß eine Zwischenstufe ausdrücklich benannt wird. Ez 10,20 spricht aus, wie der Prophet in seiner Vision von der Herrrlichkeit Gottes, wie sie die vorhergehenden Verse beschreiben, in den Kerubim die Lebewesen aus der ähnlichen Vision in Kap. 1 wiedererkennt. - „Das sind die Lebewesen, die ich gesehen habe unterhalb des Gottes Israels am Fluß Kebar, da erkannte ich, daß Kerubim sie selbst sind.“ Die durch Sehen und Erinnern identifizierte Übereinstimmung von zwei auf den ersten Blick unterschiedenen Größen (Kerubim, Lebewesen) erfüllt, wie Ruwe deutlich gemacht hat, eine doppelte Funktion. Einmal erkennt der Prophet in Tempelnähe bzgl. der Vision etwas, das ihm vorher entgangen ist: die Identität der Kerubim mit den Lebewesen; zum andern werden die Kerubim dem Gebäude des Tempels entfremdet, indem sie mit dem Thronwagen aus dem Tempel ausziehen.106 Ein ungeheuer komplexes Spannungsgeflecht zwischen Erfahrungen im Exil und Erfahrungen am Tempel - wie immer auch durch Visionen vermittelt - ist damit ausgesprochen. Das Sehen leitet hier etwas ein, was man als Wesenserkenntnis beschreiben könnte. Die visionäre Erscheinung des Wagens mit den Lebewesen wäre für sich nichtssagend, wenn nicht durch tieferes Sehen auch deren Sinn und Bedeutung hervorträte. Auf diese Weise deutet die Stelle an, welche Art des Sehens den im 13. Kapitel gescholtenen Propheten gefehlt haben könnte. Diese konnten dann auch irgendwelche Visionen und Erleuchtungen haben, konnten sie aber nicht richtig einordnen, weil ihr menschliches Sehen und Deuten von einer falschen Motivation verdorben war.

Wenn Ez 14,22 das Schicksal der zweiten Deportation vorwegnimmt, heißt es an die Adresse der Betroffenen der ersten Deportation, die die aus der zweiten aufzunehmen haben werden:


- „da werdet ihr ihre Wege sehen und ihre Taten und werdet euch trösten über das Böse, das ich über Jerusalem brachte.“ Auch hier geht das Sehen einem Verhalten voraus. In V. 22 ist es das Sich-Trösten. In V. 23 folgt dann noch, einen Schritt weiter gehend, das Erkennen Gottes im Sinne der Erkenntnisformel.

Objekt des Sehens sind die „Wege und Taten“ der Jerusalemer, die den Exulanten durch die erneute Deportation Überlebender sichtbar werden; damit also etwas, das ein sittliches und religiöses Urteil herausfordert. Es ist ein Urteil, das den Betroffenen freigestellt wird. Sie sollen nicht durch eine Argumentationskette überzeugt werden, sondern durch das, was sie mit eigenen Augen wahrnehmen können. Wie das Sehen Verstehen ermöglichen und die Fähigkeit verleihen soll, sich ein eigenes Urteil zu bilden, wird hier besonders deutlich. Denn mit dem Trost, mit dem sich die schon Exilierten über die Zerstörung Jerusalems hinweghelfen, ist die Einsicht in Sinn und Berechtigung dieser als Gericht zu verstehenden Katastrophe mitgedacht. Die Gotteserkenntnis wäre die höchste Stufe in diesem Verstehensprozeß, der gemäß der ez Theologie vom Sehen den Ausgangspunkt nimmt.

Im 18. Kap. wird das „Sehen“ zum Anlaß einer Verhaltensänderung innerhalb einer kasuistisch wirkenden Beispielreihe. Bei diesem Generationenvergleich zu Beginn des Kapitels, der deutlich macht, daß die Eingebundenheit in eine Familie die eigene freie Willlensentscheidung nicht behindern muß, leitet ein solches „Sehen“ bei dem „guten“ Sohn in V. 14 die Entscheidung ein, sich nicht an das trügerische Beispiel des „schlechten“ Vaters zu halten:


„Und siehe, er zeugt einen Sohn und der sieht alle Sünden seines Vaters, die er tut, er sieht sie und tut nicht ihnen entsprechend.“

Damit ist auch hier das Sehen kein gleichgültiges, neutrales Beobachten, sondern die Voraussetzung für ein geistiges Urteil, dem eine persönliche Entscheidung für das eigene Handeln folgt.

In 18,28 verhält es sich ganz ähnlich, nur daß hier der einsichtige Sünder die eigenen Taten sieht, wie trotz fehlender ausdrücklicher Benennung des Objekts anzunehmen ist, und dadurch zu einer Kehrtwende in seinem Leben bewogen wird.

Im 23. Kap. hat, im Gegensatz zum 18., wo das „Sehen“ des Schlechten Anlaß zu Besinnung und Umkehr wird, dieses „Sehen“ bei der Jerusalem verkörpernden Oholiba den umgekehrten Erfolg. Von ihr heißt es in V. 11:

- „da sah Oholiba ihre Schwester“, das heißt wohl, sie sieht sowohl die Taten, als auch das Schicksal ihrer Samaria verkörpernden Schwester Ohola. Dennoch treibt sie es noch schlimmer. Das Sehen führt also nicht automatisch zu einer Sinnesänderung, sondern stellt nur vor die bewußte Entscheidung. Damit erhöht sich die Schuldhaftigkeit des Verhaltens, wenn die Chance, aus dem Beispiel der Schwester zu lernen, nicht ergriffen wird. Dies Beispiel macht auf die erstaunliche Tatsache aufmerksam: das Sehen ist zwar notwendig zu einem Sinneswandel, für sich allein genügt es aber noch nicht. Es muß immer noch die freie Willensentscheidung hinzukommen. Diese vier entscheidenden Stellen: 14,22; 18,14; 18,28; 23,11 sind alles Stellen, an denen das Sehen eine moralische Bewertung herausfordert, die ihrerseits den, der sieht, vor die Notwendigkeit einer eigenen Entscheidung stellt.

Von dem zu Sehenden geht oft eine Warnung aus, wie sie in 33,1-9 der Prophet als Wächter vermitteln soll. Es stellt den Menschen vor eine Wahl und macht dem Einzelnen sowohl die Freiheit zu wählen, als auch die mit einer getroffenen Wahl verbundenen Konsequenzen bewußt. Man möchte bei Verwarnung zunächt an Worte denken, die zu hören waren. Aber ein Prophet wie Ezechiel hat auch viel durch Symbolhandlungen gewirkt, bei denen es zunächst, bevor eine Erklärung folgte, nur etwas zu sehen gab (Vgl. z.B. 12,1-7; 37,15-17). Aber auch viele seiner Reden bedienen sich der Bildworte, wie sie sich an eine sinnenfrohe Phantasie wenden. Der ganze Abschnitt 33,1-9 kann in gewisser Hinsicht als paradigmatisch für das Verhältnis von Sehen und Hören aufgefaßt werden: das anrückende Schwert wird gesehen; die weitergegebene Warnung davor wird gehört. Damit erhält das prophetische Sehen eine größere Exklusivität gegenüber dem Hören. Denn weit sehen vermag hiernach nur der auf einen besonderen Posten gestellte Wächter, der Prophet, während das Zuhören für alle gilt.

In 16,6 ist es Gott selbst, der bei seinem Vorübergang das Findelkind sieht:

- „da sah ich dich zappelnd in deinem Blut.“ Das Sehen läßt hier vordergründig die Not und Hilflosigkeit der als Findelkind angeredeten zukünftigen Braut erkennen. Damit wird das „Sehen“ hier ebenfalls zum Anlaß für eine Entscheidung, ein bestimmtes Handeln. Nur daß hier, wo es sich um die Gottheit selber als Subjekt des Sehens handelt, kein Entscheidungszwang vorliegen kann, sondern reine Entscheidung in Freiheit. Was Gott dabei an-“sieht“ ist hier noch nicht Sünde oder verkehrtes Verhalten, sondern das Elend und die Verlassenheit. Vielleicht sieht er aber auch in seinem erwählten Geschöpf etwas von den innerlich angelegten Möglichkeiten. Das An-Sehen wird dabei zum Anlaß einer Berufung. Gott beobachtet mit seinem Sehen die weitere Entwicklung in V. 8:


- „da ging ich an dir vorüber und sah dich, und siehe deine Zeit, die Zeit der Liebe.“ Gott sieht erneut die durch die Metapher „Liebe“ angedeuteten Möglichkeiten, die dem Entwicklungsstadium der jungen Frau entsprechen. In Ez 23,13 geschieht es ihm mit Oholiba, der Schwester von Ohola:

-“da sah ich, daß sie sich verunreinigte“. Ein Sehen, das den wahren Zustand und die dadurch zerstörte Beziehung offenbart und damit die Ankündigung und Rechtfertigung des Gerichts vorbereitet.

Eine scheinbar neutrale Stelle findet sich in 19,11. Von dem Weinstock, der unmittelbar vorher mit der wahrscheinlich das Königshaus Juda vorstellenden Löwenmutter identifiziert wurde, heißt es hier:

- „da wurde er gesehen bei seiner Höhe und bei der Menge seiner Zweige.“ Gleich im Anschluß wird V. 12 ohne weitere Begründung das Gericht an diesem gut gediehenen Weinstock vollzogen. Da der Umschlag von Aufstieg und Fall so abrupt erfolgt, schwingt auch hier in der Bedeutung nachträglich so etwas wie das Sichtbar-Werden von Hochmut mit. Gesehen-Werden hat etwas mit Preisgabe, Sich-Aussetzen, Risikobereitschaft zu tun. Wie das aktive Sehen eine Entscheidung ermöglicht und herausfordert, so fordert das Sich-Zeigen, Sich-Sehen-Lassen das Schicksal heraus.

Unter den Vergleichsstellen im Ezechielbuch sind es folgende Stellen, an denen das Sehen das Wahrnehmen und Erkennen von etwas Schlechtem, Sündhaftem beschreibt. Die erste Stelle in 12,3 ist etwas zweifelhaft und daher nicht in die Tabelle mit aufgenommen worden. Der Prophet wird aufgefordert, das noch einem Teil der Verbliebenen bevorstehende Schicksal der Verbannung in einer Symbolhandlung vorzuführen.

- gewöhnlich übersetzt als „vielleicht sehen sie, denn sie sind ein widerspenstiges Haus“. „Sehen“ bezöge sich dann vordergründig auf die Symbolhandlung als Objekt. Die Betonung der Widerspenstigkeit des Volkes wäre eine Einschränkung, die das „vielleicht“ zu Beginn rechtfertigt. Im Sinne von: „Vielleicht sind sie so widerspenstig, daß sie nicht einmal …“ Man könnte das hier aber auch als Einleitung eines Objektsatzes verstehen und dann übersetzen: „Vielleicht sehen sie, daß sie ein widerspenstiges Volk sind.“ Dann würde hier die Form von ein Sehen bedeuten, das ein Einsehen, ein Erkennen auf dem Weg zur richtigen Selbsterkenntnis ist. Parallelen zu ähnlichen Stellen wie Ez 4,27 möchten die Ursache sein, warum diese Stelle wahrscheinlich von noch keiner Übersetzung als Objektsatz aufgefaßt wurde.

Sehr merkwürdig ist die Stelle in 21,29. Als Begründung für das angedrohte Gericht heißt es dort:


„Daher, so spricht der Herr, JHWH, weil ihr denken laßt an eure Fehler, wenn eure Übertretungen offenbar werden, so daß die Sünden an all euren Taten gesehen werden, weil eurer gedacht wird, werdet ihr handgreiflich gefaßt werden.“

Es genügt offensichtlich nicht, nur vom Gesehenwerden der Handlungen zu sprechen, es muß noch eine besondere Qualität an diesen Handlungen unterschieden werden, die sie erst zu Sünden macht und für die es darum eine tiefergehende Wahrnehmung braucht. Das Gericht wird durch den König von Babylon vollstreckt, der eine Leberschau vornehmend vorgestellt wird, die ihm den nächsten Zielpunkt für sein Heer zeigen soll. Das judäische Königshaus schien sich darauf zu verlassen, daß ein heidnischer Herrscher wie der König von Babylon nur ein falsches Orakel bei einer solchen Leberschau erhalten könnte. Doch auch ein solches kann Gott dazu dienen, die Sünden des eigenen Volkes zu offenbaren und damit zu strafen.

An den Stellen 19,11 und 21,29 ist das Subjekt des Sehens anonym. Man darf zwar annehmen, daß es letztlich Gott ist, der sieht, daß aber zugleich an eine unbestimmte Öffentlichkeit gedacht ist, die er als Zeuge für die Notwendigkeit eines Gerichtes in Anspruch nimmt, wie solches bei Gerichtsworten in ausdrücklicher Form - etwa als Anrufung der Berge, des Himmels, oder anderer stummer Zeugen der Natur - nicht selten ist.

In 23,14 ist es ein bestimmtes Sehen, das Oholiba zur Versuchung wird:

- „da sah sie Männer geritzt auf die Wand, Bilder der Chaldäer“. Die Formulierung erinnert mit den geritzten Bildern an die Tempelvision in Kap. 8.

Ez 20,28 ist ein eindringliches Beispiel dafür, wie bei Ezechiel das Sehen oft einer in freier Entscheidung gewählten Handlung vorangeht: - „da sahen sie jeden erhöhten Hügel und jeden belaubten Baum und opferten dort ihr Opfer.“ Dabei könnte es sich um einen Rückbezug auf Dtn 12,13 handeln, wo das Opfern verboten wird - „an jeder Stätte, die du siehst“. Doch hier ist das Sehen nur in einem angehängten Relativsatz enthalten und bräuchte nicht unbedingt ursächlich für das falsche Handeln zu sein. Anders dagegen bei Ez 20,28, wo ähnlich, wie in den Beispielreihen von Kap. 8, das Sehen im Hauptsatz den nachfolgenden Handlungen bewußt vorangestellt wird, um so deutlich zu machen, daß es für sie zum Anlaß wird.107 Daß die Stelle also, auch wenn sie wirklich auf Dtn 12,13 zurückweisen sollte, im Sinne des im Ezechielbuch herrschenden Verständnisses vom Sehen umgeformt worden ist, scheint offensichtlich.

Nach Hahn und Bergsma könnte auch eine bewußte Anlehnung an deuteronomischen Sprachgebrauch vorliegen, um so den Gegensatz zur Gesetzgebung des Dtn fühlbarer werden zu lassen. Mit den „unguten Gesetzen“ in V. 25 würde dann gerade auf diese Gesetzgebung angespielt, die sich aufgrund des laxeren Verhältnisses zum Kult vom Heiligkeitsgesetz unterscheidet. Der Gebrauch des Lokaladverbs „dort“ diene dazu, Beziehung und Gegensatz deutlich zu machen.108

Allen genannten Vorkommen ist gemeinsam, daß das „Sehen“ einer persönlichen Entscheidung vorausgeht, einer Entscheidung, die immer eine Entscheidung für oder gegen etwas oder Jemanden ist. Dabei werden verschiedene Möglichkeiten ausgeschöpft. Es kann die Entscheidung Gottes sein, mit seinem Volk einen Bund zu schließen, es kann die Entscheidung zur Fällung oder Aussetzung eines Gerichtsurteils sein, es kann auf Seiten der Gläubigen die Entscheidung für oder gegen schlechte oder gute Beispiele sein. Gott selbst bleibt als der allsehende, immer zugleich der Unsichtbare, der nicht gesehen werden kann, von dem man sich kein Bild machen kann. Daran ändert auch die großartige Vision der Gottesherrlichkeit nichts, die dem Propheten geschenkt wird, aber nie Gott selbst unmittelbar sehen läßt. Die Beziehung zu ihm wird daher nie durch das rein natürliche Sehen als solches hergestellt oder erhalten, wohl aber durch ein kontrolliertes Sehen, das nicht allen Eindrücken nachgibt und Raum läßt für jene Wirklichkeit, die über das Sichtbare hinausgeht. Das ist allerdings ein Sehen, das an tiefere, verborgene Schichten dieser Wirklichkeit teilhaben läßt. Ein Sehen, das von der äußeren Tatsächlichkeit getroffener Entscheidungen „ab“-sieht und statt dessen „hin“-sieht auf jenen geistig sittlichen Bereich der Freiheit, in dem Entscheidungen erst getroffen werden müssen.

Weitet man den Blick über das Ezechielbuch hinaus, so bietet sich der weisheitliche Gebrauch der Wurzel bei Kohelet als Parallele an. Bei ihm ist sie die umfassende Wahrnehmungsart, mit der der Weise zu seinen Lebenserfahrungen kommt, um sie zu sammeln und seine Schlüsse daraus zu ziehen. Am programmatischen Vers 1,14 läßt sich diese Tendenz ablesen: - „Ich sah alle Taten, so unter der Sonne getan wurden. Und siehe: Das alles ist Windhauch und Weben der Luft.“ Auch hier bereitet das Sehen den Boden für etwas anderes. Nur daß dieses Andere keine freudige Entscheidung zur Tat ist, sondern ein resignierter Weisheitsschluß.

Man könnte vier Stufen unterscheiden in dem durch das Sehen ermöglichten Wandlungsprozeß nach Ez:

1. Das Sehen, das ein bestimmtes Urteil unumgänglich macht.

2. Reflexion über Behinderung oder Erleichterung eines rechten Sehens.

3. Die Veränderung einer bestimmten Verhaltensweise oder Einstellung, die das Urteil herausfordert.

4. Die rechte Gotteserkenntnis als höchstes Ziel.

In 8,12 ist von einem Nicht-Sehen die Rede: Gott sieht nicht die Sprechenden. Der Grund ist seine fehlende Gegenwart im Land. Diese macht sein Sehen unmöglich. Er kann nach Meinung der Sprechenden nicht sehen. Dieses Sehen bzw. Nicht-Sehen-Können ist im Verständnis der Sprechenden ein äußerlicher Vorgang, der die unmittelbare Gegenwart voraussetzt. Als Antwort auf diese Meinung der Sprecher kehren sich im Ezechielbuch im Gefolge die vermeinten Verhältnisse in ihr Gegenteil um. Nun ist es Gott, der alles sieht, weil er alles durchschaut, und im ez Sinne alles versteht. Das Nicht-Sehen in 12,6 drückt symbolisch die Blindheit des Fürsten und mittelbar auch des ganzen Volkes aus. Das Volk sieht nicht, weil es nicht versteht, und, wenn man Odell folgt, in gewisser Weise auch nicht gegenwärtig ist, indem es sich hinter Ersatzriten zurückzieht, um auch einer persönlichen Entscheidung auszuweichen, wie sie aus einem richtigen Sehen erfolgen müßte.

Das Interessante hierbei ist, daß Sehen und Verstehen in eine besondere Beziehung zum Land gesetzt werden. Für die Sprecher der Redensart in 8,12 ist die Gegenwart Gottes im Land Bedingung und Voraussetzung für das Sehen und Wahrnehmen des religiösen Kultes. Durch die prophetische Antwort wird auch dieses Verhältnis umgekehrt: Das Sehen und Begreifen der eigenen Schuld, sowie die Einsicht in das einzig wahre Gottesverhältnis wird zur Voraussetzung für die Rückkehr ins Land und den wesentlichen - nicht bloß zufälligen - von Gott gewährten Besitz des Landes. Was erst Voraussetzung war - die Gegenwart im Land - wird selbst, auch für das Volk, infrage gestellt, und muß seinerseits erst Ziel und Gegenstand einer Neu-Vergewisserung werden, die durch neu erlerntes Sehen und Verstehen ermöglicht wird.

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