Kitabı oku: «Eigensinn und Bindung», sayfa 5
Wege zum Widerstand
Die Bildungselite um die Zeitschrift „Hochland“ erlebte nach 1933 eine ganz andere „Volksgemeinschaft“, als Muth sie propagiert hatte. Während viele katholische Presseorgane, namentlich die Tageszeitungen mit ihrer vielfältigen landschaftlichen Verwurzelung, rasch unterdrückt, verkauft oder verboten wurden, erlebte das „Hochland“, wie das Gros der katholischen Zeitschriften überhaupt, bis zu seinem Verbot im Juni 1941 einen Aufschwung in Gestalt einer Auflagensteigerung. Diese fiel vor allem in die zweite Hälfte der 1930er-Jahre. Die Gründe dafür sind schwer nachweisbar. Zunächst einmal werden die Periodika von dem Verschwinden der katholischen Tagespresse profitiert haben. Speziell für das „Hochland“ dürfte zutreffen, dass sein hohes intellektuelles Niveau Verständnisschwierigkeiten mit sich brachte und darum der Zensur des Nationalsozialismus nicht so viele direkte Angriffsflächen und Anhaltspunkte bot. Dazu kam, dass die Monatsschrift eine Abonnentenschar in vielen Ländern der Welt besaß, im Ausland sehr angesehen war und ein Verbot dort allzu deutlich als Beispiel für die Unterdrückung der Geistesfreiheit in Deutschland hätte herangezogen werden können.
Auch entwickelte „Hochland“ unter den Bedingungen der Diktatur und gemäß den ausdrücklichen Vorgaben der Redaktion die Kunst, die ihm und seinen Lesern wichtigen Inhalte verdeckt und indirekt zu vermitteln. Einerseits musste die Gemeinschaft mit einem geistesverwandten Lesermilieu aufrechterhalten werden; andererseits war eine Form oder Verpackung zu wählen, die unauffällig und angepasst genug zu sein schien, um nicht offiziell Anstoß zu erregen.23 Dazu gehörte auch die Verwendung von Pseudonymen für die Autoren zeit- und regimekritischer Beiträge. Schließlich kam es in Einzelfällen doch zu einer Anpassung an die übermächtigen Zeitumstände. So verharmloste ein Artikel des angesehenen französischen Paläographen und Patristikers Dom Germain Morin den deutschen „Blitzkriegs“-Angriff auf Frankreich mit historischen Argumenten, wurde aber dennoch vom Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda abgelehnt.24 Das Genus dieser Widerstandsliteratur, das von plumpen Interpretationen verkannt wird, ist noch nicht genügend untersucht und gewürdigt.
Vor allem während der letzten Phase des Aufstiegs der „Hitlerbewegung“ publizierte das „Hochland“ allerdings eindeutig ablehnende Stellungnahmen. Sie wiesen über Tagesgesichtspunkte hinaus und enthielten bereits gültige Argumente für eine historische Analyse des Totalitarismus-Phänomens. Das traf vor allem für die Aufsätze des promovierten Juristen, Soziologen, Schriftstellers und politischen Kommentators russisch-jüdischer Herkunft, Elias Hurwicz,25 zu. Er war auch mit Analysen der russischen Revolution hervorgetreten, die er ablehnte, obwohl er für ihr Entstehen aus den in Russland herrschenden Zeitverhältnissen großes Verständnis zeigte. Hurwicz musste dann Deutschland verlassen. Aus der langen Lebenserfahrung des Zeitzeugen prangerte er die Marxismus-Renaissance nach 1945 als „Wiederkehr des Vorgestrigen“ an.26 Hurwicz fasste 1933 zunächst den übersteigerten Nationalismus als Bedingung für den Aufstieg des Nationalsozialismus in den Blick, kritisierte die Übertreibung national- und machtstaatlichen Denkens dieser – insofern nicht neuen – „Bewegung“. Weitere Bedingungen für den Erfolg des Nationalsozialismus sah er in dem bei den Deutschen verfangenden Personenkult, im ersatzreligiösen Auftreten der Bewegung sowie in der auf bloßen Stimmenfang berechneten, inkohärenten, „buntscheckigen“ Programmatik.
Die ideologische Auseinandersetzung des „Hochland“ mit dem Nationalsozialismus lässt sich summarisch drei Grundlinien zuordnen:27
1. Der „geistige Widerstand“ aus dem religiösen Bereich legte einem Staat, der die bürgerliche Ordnung hinter sich ließ, eine unzulässige Grenzüberschreitung zur Last, weil er sich über das Gewissen und die Freiheit der Kirche hinwegsetze und insofern eine Tendenz zur Totalität zeige. Autoren des „Hochland“ wollten aber die natürliche Ordnung – als eine Voraussetzung der Gnade – erhalten wissen. Sie verteidigten auch das von den Nationalsozialisten angegriffene Alte Testament als integrierenden Bestandteil des christlichen Glaubens und widersprachen dem Antisemitismus der nationalsozialistischen Rassenlehre. Sie bezeichneten ihn als widerchristlich, weil er unzulässige Schranken unter den Völkern aufrichte, die alle gleichermaßen zur Erlösung berufen seien.
2. Auf historischem Gebiet widersprach das „Hochland“ der Pervertierung des Reichsgedankens durch die nationalsozialistische Ideologie, der Erhebung des Zentralismus zum Entwicklungsziel der deutschen Geschichte, der biologisch-materialistischen Geschichtsbetrachtung, der Verbiegung der Geschichtswissenschaft durch ihre Indienstnahme für politische Gegenwartsziele und der damit verbundenen Leugnung des historischen Objektivitätsgebots. Das außenpolitische Auftrumpfen des Nationalsozialismus geriet in die Kritik, wenn Muth – durch die Blume gesprochen – sich mit den „nationalegoistischen Instinkten“ des Kardinals Richelieu auseinandersetzte und dem nur von den eigenen Interessen geleiteten Vertreter des frühen Absolutismus in Frankreich das größere „europäische Solidaritäts- und Verantwortungsgefühl“ des habsburgischen Kaisers gegenüberstellte.28
3. Auf dem ihm ureigenen Gebiet der schönen Literatur trat die Zeitschrift der Verbreitung der Blut- und Boden-Ideologie entgegen, verwarf die einseitige Nationalisierung des universellen Kulturgutes der Kunst, bestand auf den Freiheiten und selbstgesetzten Zwecken jeder künstlerischen Betätigung. Die Selbstständigeit des Denkens und der künstlersichen Emotion, eine je eigene Auffassung des Lebens und der Wirklichkeit galten ihr nach wie vor als die allein angemessenen Grundlagen für jede geistige Produktivität. Der Abdruck klassischer Lyrik – von Emanuel Geibel, Jeremias Gotthelf oder Gottfried Keller – stellte gewissermaßen geistige Residuen der Normalität, Inseln der Zuflucht und des Trostes in persönlichen Bedrängnissen oder inmitten der sich allgemein verbreitenden Niedergeschlagenheit bereit.
Zwar stammten die meisten Widerstands-Artikel nicht aus der Feder von Karl Muth. Aber ihm und seinem letzten Schriftleiter Franz Josef Schöningh gebührt das Verdienst, inspirierend, lenkend und planend den widerständigen Kurs der Zeitschrift bestimmt zu haben. Muth betrat aber auch noch mit eigenen Beiträgen die politische Arena. So nahm er die falsche Traditionsanmaßung der Nationalsozialisten nicht hin. Deutlicher noch als in seinen Besprechungsartikeln über Richelieu bezeichnete er in einem klugen Essay über den Reichsgedanken den Kaiser als „Schützer des Rechts und Wahrer der Ordnung“ – nach außen wie im Innern des Alten Reiches – und scheute, sich auf Theodor Haecker berufend, auch nicht die deutlichen Worte in der Sache: Das „Dritte Reich“ konnte sich nicht als Erbe des mittelalterlich-frühneuzeitlichen Reiches ausgeben, da dessen „wahre Idee“ ihrem „Wesen nach“ dem Nationalsozialismus „zuwider sein muß“.29 Wenn die Zeitschrift die Machtübernahme des Nationalsozialismus mit klaren Abgrenzungen quittierte, so musste sich allerdings nach dessen Machtbefestigung der geistige Kampf mehr der indirekten Vermittlung, etwa der Diskussion über historische Komplexe und Analogien oder der Erzählung über unpolitische, aber aktuelle Schlussfolgerungen nahe legende Themen bedienen.
Nach dem Verbot seiner Zeitschrift arbeitete Muth mit der ihm eigenen Rastlosigkeit weiter und beschäftigte noch jüngere Mitarbeiter. Zu ihnen gehörte im Sommer 1942 Hans Scholl. Er half, Muths große Bibliothek zu katalogisieren. In den die Arbeit begleitenden Gesprächen bestärkte der erfahrene Publizist den jungen Mann in seiner Abwehrhaltung gegen den Nationalsozialismus. Die Meldung über die Hinrichtung des noch jugendlichen Widerstandskämpfers hat Muth tief erschüttert.30 Er selbst entging der Verhaftung, obwohl er eine Hausdurchsuchung über sich ergehen lassen musste. Belastendes Material, so eine für Papst Pius XII. bestimmte Denkschrift über aktuelle deutsche Zustände, entging den Häschern. Am 15. November 1944 verstarb Karl Muth im Krankenhaus von Bad Reichenhall. Dorthin war er verlegt worden, nachdem sein Haus in Solln und die Münchener Klinik, die ihn aufgenommen hatte, zerstört worden waren. Bis zuletzt hegte er die Gewissheit, die er schon in den Anfangsjahren der NS-Diktatur gewonnen hatte, dass der Nationalsozialismus dem Untergang geweiht war.
Doch würde dies, wie er ebenfalls glaubte, nicht ohne außergewöhnliche Opfer abgehen. Muth war angesichts der Akzeptanz, die der Nationalsozialismus, kaum dass er zur Herrschaft gelangt war, in allen Bevölkerungsschichten erlangt hatte, früh der Meinung, dass dieses Unrechtsregime nur durch einen verlorenen Krieg zu beseitigen sein würde.31 Der Publizist, Essayist und Schriftsteller, eine Künstler- und Gelehrtennatur, gewann eine wirklichkeitsnahe Einschätzung der nach 1933 eingetretenen Lage. Aus langjähriger politischer Erfahrung, aus der Beobachtung des geistigen und politischen Lebens wie aus einer weltanschaulichen Grundhaltung, die heute gern als „ontologisch“, spekulativ oder unwissenschaftlich abgetan wird, fand er zum Widerstand.
Schriften von Karl Muth: (Hg.:) Hochland. Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur u. Kunst. Kempten/München 1903 – 1941 – (u. d. Pseudonym Veremundus:) Wem gehört die Zukunft? Ein Literaturbild der Gegenwart. Frankfurt a. M. 1893 – (u. d. Pseudonym Veremundus:) Steht die Katholische Belletristik auf der Höhe der Zeit? Eine litterarische Gewissensfrage. Mainz 1898 – (u. d. Pseudonym Veremundus:) Die Litterarischen Aufgaben der Deutschen Katholiken. Gedanken über katholische Belletristik und litterarische Kritik. Zugleich eine Antwort an seine Kritiker. Mainz 1899 – Die Wiedergeburt der Dichtung aus dem religiösen Erlebnis. Gedanken zur Psychologie des katholischen Literaturschaffens. Kempten/München 1909 – Schöpfer und Magier. Drei Essays. München 1935.
Sekundärliteratur: Konrad Ackermann: Der Widerstand der Monatsschrift Hochland gegen den Nationalsozialismus. München 1965 – Winfried Becker: Muth, Carl Borromäus Johann Baptist. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Hg. v. Traugott Bautz. Bd. 6. Herzberg 1993, Sp. 396 – 402 – Walter Ferber: Carl Muth (1867 – 1944). In: Rudolf Morsey (Hg.): Zeitgeschichte in Lebensbildern. Bd. 1. Mainz 1973, 94 – 102, 301 f. – Maria Cristina Giacomin: Zwischen katholischem Milieu und Nation. Literatur und Literaturkritik im „Hochland“ (1903 – 1918). Paderborn 2008 – Anton Wilhelm Hüffer: Karl Muth als Literaturkritiker. Münster 1959 – Gilbert Merlio: Carl Muth et la revue Hochland. Entre catholicisme culturel et catholicisme politique. In: Michel Grunewald/Uwe Puschner in Zus.arb. m. Hans Manfred Bock (Hg.): Das katholische Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1871 – 1963). Bern u. a. 2006, 191 – 208 – Wulfried C. Muth: Carl Muth und das Mittelalterbild des Hochland. München 1974 – Barbara Schüler: „Geistige Väter“ der „Weißen Rose“. Carl Muth und Theodor Haecker als Mentoren der Geschwister Scholl. In: Rudolf Lill/Klaus Eisele (Hg.): Hochverrat? Neue Forschungen zur „Weißen Rose“. Konstanz 1999, 101 – 128.
Annette Kolb (1870 – 1967)
Auf der Freitreppe
Annette Kolbs Katholizität
Hans-Rüdiger Schwab
„Was wollt ihr noch von ihr wissen?“ fragt die angesehene Autorin 1932 in einem „Befohlenen Selbstporträt für Quartaner“: „Sie ist katholisch. Seinen frühen Schulkatholizismus gibt jeder eines Tages preis. Dazu bedarf es nicht viel. Nachträglich ihn dennoch beizubehalten, bedingt einen weit schwierigeren geistigen Prozeß. Dafür nimmt man sich einige Reservatrechte heraus, die einem besonders von Convertiten als ketzerhaft bestritten werden. Aber das schadet nichts.“1
Selbstbehauptung und Ironie durchdringen einander in dieser Aussage. Beides ist kennzeichnend für Annette Kolb. Die „Convertiten“ (denen gegenüber sie wiederholt fremdelte) werden hier stellvertretend für bestimmte Verhaltensmuster erwähnt. Was ihr missfällt, ist eine teils selektive, teils gleichsam überbietende Fixierung von Glaubensinhalten.
Innerhalb des Panoramas katholischer Intellektualität während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stellt Annette Kolb in mehrfacher Hinsicht eine Ausnahme dar. Sie ist eine der wenigen, die ins Exil gingen, gleich zweimal sogar. Während man unter dem Vorzeichen „katholischen“ Denkens zur Zeit der Weimarer Republik vielfach Ordnungsvorstellungen von Reich und Nation anhing, mahnte die überzeugte Demokratin und Europäerin lakonisch: „Mehr als die Völker bedarf der Völkerbund des Schutzes.“2
Auch sonst bewegte sie sich jenseits „typischer“ Fragestellungen und Konfliktlinien. Der Richtungsstreit über „katholische“ Literatur etwa interessierte sie nicht. Ihre eigenen Arbeiten erschienen seit 1905 bei S. Fischer, einem der führenden deutschen Verlage. Annette Kolb verfügte über die geistige Souveränität der Einzelgängerin. Sie war klug, aufmerksam, tapfer, ein wenig dickköpfig und schrullig auch, aber das macht sie gerade sympathisch.
Vom Milieu und seinen Organisationsformen hielt Annette Kolb sich fern. Dafür stand sie im Kontakt mit zahlreichen bedeutenden Persönlichkeiten des kulturellen und politischen Lebens: von Thomas Mann und Romain Rolland über Carl Jacob Burckhardt bis hin zu Auguste Rodin, Claude Debussy oder Ferruccio Busoni. Früher als andere bewunderte sie Proust und Joyce, umgekehrt wurden ihre eigenen Texte etwa von Rilke oder Hofmannsthal gerühmt. Bei Max Scheler hörte sie schon, als er an seinen ersten Werken arbeitete. Zu denen, die sie privat aufsuchte, zählen so unterschiedliche Denker wie der Positivist Hippolyte Taine und der religiöse Existentialist Gabriel Marcel.
Für diejenigen, die sie kannten, stand ihre katholische Prägung außer Frage, die allerdings ungewöhnlich, ja fast heterogen amalgamiert war. Eine „begeistert katholische (...) Autorin“ nannte Hermann Kesten sie – was von dem jüdischen homme de lettres ins scheinbar Widersprüchliche hinein präzisiert wird: „Sie war erzkatholisch und antiklerikal und liberal.“3 Auch Luise Rinser rühmte an Annette Kolb einen Katholizismus „von südlich-lateinischer Weltoffenheit“. „Kaum ein Werk“, übertreibt sie nur ein bisschen, in dem nicht „vom Katholizismus“ die Rede sei: „doch meist nur so, wie eben ein Habitué der Kirche es tut: als über das Selbstverständliche“.4 Im „Hochland“ wurde immerhin schon (oder erst) Anfang der 30er-Jahre, wenn auch mit einem verräterischen Einschub, ihr „eigenes, sehr persönliches – zuweilen sicher auch etwas zu persönliches – Verhältnis zum Katholizismus“ anerkannt und sie, ihr ganz unangemessen pathetisch, als „Weggenossin aller ins Lichte drängenden jungen Dichtungsbewegung“ gewürdigt.5
Ein Jahrhundertleben
Von den Nachwirkungen des Kulturkampfs bis an die gesellschaftliche Zäsur Ende der 60er-Jahre reicht Annette Kolbs Leben. Geboren am 3. Februar 1870 in München, wächst sie dort in einer Atmosphäre auf, die sie mit den Begriffen „Weltbürgertum“ und „Weite“ des „Horizonts“ beschreibt.6 Sie selbst ist gleichsam Tochter zweier Nationen. Ihre Mutter, eine französische Konzertpianistin, unterhielt während deren Münchner Zeit „rege“ Beziehungen zu Cosima Wagner und wurde von Franz Liszt besucht.7 Der Vater, königlich-bayerischer Gartenbauinspektor, war als landsmannschaftlicher Partikularist ein entschiedener Gegner alles Preußischen, damit auch Protestantischen, dessen Doppel-Hegemonie bei der Gründung des Deutschen Reichs für ihn den Keim späteren „Unheils“ (W 10) in sich trug. Unter Verlängerung der Perspektive bis zum Zweiten Weltkrieg hat seine Tochter diese Haltung übernommen. „Die Schaukel“ (1934), der Roman ihrer Jugend, beschreibt mit Lust an der Differenz konfessionell unterschiedliche Sozialisationsfaktoren und Lebensstile sowie die daraus entstehenden wechselseitigen Reibereien. Das katholische Elternhaus ist fromm und großzügig zugleich. Neben Künstlern und Diplomaten verkehren dort auch höchste geistliche Würdenträger wie der apostolische Nuntius.
Zwischen ihrem sechsten und zwölften Lebensjahr besucht Annette Kolb eine Schule der Salesianerinnen bei Hall in Tirol. Was sie später beschreibt, ist die erste katastrophal verlaufene Internatsgeschichte in der deutschen Literatur. Neben der Erfahrung von erzieherischen „Härten“ und seelischen „Schäden“, die „fürs Leben“ anhafteten (SB 14), wird ihr im „verhaßten“ Institut8 der Glaube gründlich verleidet. Rückblickend beklagt sie den „furchtbaren Klosterjargon (...), in dem das Transzendentale, als wäre es so gegenständlich wie Reis oder Kaffee, ohne Unterlaß hereinbezogen wurde“9. Dass Heranwachsende „einem Glauben, in den sie auf solche Weise eingeweiht wurden, eines Tages den Rücken kehren, ist das Naheliegendste“ (SB 12), zumal wenn hinsichtlich ihrer eigenen religiösen Fragen nur die redselige Antwortlosigkeit herrscht.
Anfänglich schwankt Annette Kolb zwischen einer Laufbahn als Pianistin und als Schriftstellerin. Mit 29 Jahren lässt sie auf eigene Kosten ihr erstes Buch drucken: „Kurze Aufsätze“, die zum Teil bereits vorher erschienen waren. Es bildet den Auftakt eines sechseinhalb Jahrzehnte überspannenden Lebenswerks, dem drei Romane folgen, zahlreiche Erzählungen, Skizzen und Essays sowie drei Musiker-Biographien.
Auch über die politische und gesellschaftliche Situation Europas äußert sie sich von früh an, besonders mit Blick auf die wünschenswerte Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich. Aufgrund ihrer Kritik am Ersten Weltkrieg zieht sie es 1916 vor, in die Schweiz zu emigrieren. Sechs Jahre später lässt sie sich in Badenweiler nieder und baut neben dem Anwesen ihres elsässischen Schriftstellerfreundes René Schickele ihr eigenes Haus. Während der Weimarer Republik gilt sie als eine repräsentative Figur des kulturellen Lebens. Vor den Nazis flüchtet sie im Februar 1933 zunächst wiederum in die Schweiz. Im folgenden Jahr bezieht sie eine eigene Wohnung in Paris. 1936 erhält sie die französische Staatsbürgerschaft. Als vier Jahre später die deutschen Truppen auf Paris vorrücken, flieht sie nach Vichy und Genf. Von dort gelingt ihr über Spanien und Portugal die Emigration nach New York. Im Oktober 1945 kehrt Annette Kolb wieder nach Europa zurück und lebt an wechselnden Aufenthaltsorten – am längsten in Paris – ihr „Exil nach dem Exil“. Zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen flankieren den Lebensweg. 1961 übersiedelt sie wieder in ihre Geburtsstadt. Bis ins hohe Alter hinein bleibt Annette Kolb vielfältig aktiv. Im März 1967 unternimmt sie noch eine Reise nach Israel. Am 3. Dezember des gleichen Jahres stirbt sie in München.
Die Sache von „unbegrenzter Elastizität“
„Ihre Fühlung zum Christentum hatte zwar viele Wandlungen erfahren und ließ nie ab, sich umzugestalten und zu verschieben“, schreibt die Autorin, den späteren Gedanken der eingangs zitierten Auskunft variierend, bereits über die Heldin ihres Romans „Das Exemplar“ (1913): „Für nichts war ihr Auge so hart und geschärft wie für die Scheidungen, die hier zwischen Kern und Schale vorzunehmen sind.“ Weil sie vom Katholischen groß und eigenwillig denkt, fühlt sie sich in seiner realen Existenzform nicht immer beheimatet: „Auf ihren Katholizismus, der ihr von anderen Katholiken gern bestritten wurde, tat Mariclée sich nämlich viel zugute. Immer vorschnell hielt sie ihn für würdiger als den der anderen, die sich bescheiden wollten, während sie selbst den Gedanken, der ihn trug, so stark gefunden hatte, daß sie ihn, wie ein großes Kauffahrteischiff, mit allem befrachtete, was die Welt an geistigen Werten enthielt, und ihm außer den neun Musen con allegria den ganzen Olymp aufzuladen begehrte. Infolge ihrer hohen Meinung von der Tragfähigkeit jenes Gedankens war sie von einem geradezu uferlosen Liberalismus. Möglich, daß ein Körnchen Weisheit darin steckte.“10
Selbstironie macht sich natürlich auch hier wiederum geltend. Gleichwohl kann es keinem Zweifel unterliegen, dass der Begriff des Katholischen für Annette Kolb in beträchtlichem Maße inklusiv ist. Er fungiert als ein Passwort für Weite und Assimilationskraft, eine Arche des Geistes sozusagen. In einer bestimmten Glaubens- und Lebensform wirksam, übergreift er doch deren sichtbare Grenzen. Annette Kolb war nicht von Ängsten geplagt, dass Umrisse damit ins Unkenntliche verschwimmen. Fast Unvereinbares, nur scheinbar einander Ausschließendes miteinander zu verbinden, ja einzuschmelzen: darin besteht für sie der Kern des Katholischen, sein „tiefinnerstes Geheimnis“.11
Annette Kolb redet keiner Identitätssicherung durch klare Unterscheidung von Draußen und Drinnen das Wort. Synthesen und Adaptationen sind vielmehr ihre Leidenschaft: „Solche Katholiken aber frönen innerhalb des Credo quia absurdum einem Freidenkertum ohnegleichen.“12 Andererseits ist, mit einer vertrackten Formulierung, deswegen auch „so mancher (...) katholisch, ohne es zu wissen, und umgekehrt“ (M 306)13 – erst recht dann, wenn die Angelegenheit, wie oft bei ihr, nach dem „Temperament“ betrachtet wird (S 154). Diese Haltung verträgt sich auf das Sinnigste mit Annette Kolbs Übersetzung eines Buchs wie „Orthodoxie“ von Gilbert Keith Chesterton (1909), in dem die Apologie katholischer Rechtgläubigkeit sterile Vorstellungen von Rationalität ins Wanken bringt. Auch was Chesterton an seinem Gegenstand faszinierte, war dessen Koexistenz von Extremen.
Stets aufs Neue wendet Annette Kolb sich daher gegen das, was sie in ihrer religiösen Internatserziehung erstmals erlitt: die verbale Zementierung, das (womöglich noch autoritär verfügte) Einschließen des Göttlichen im Begriff, mit dem man es dingfest gemacht zu haben wähnt. Ganz abgesehen davon, dass damit eine Immunisierung sowohl gegen die Erfahrungen der Subjekte als auch der Geschichte ins Werk gesetzt wird. „Alle Wörtlichkeiten trieben sie die Wände hoch“ (D 32), heißt es, beispielhaft für weitere Stellen dieser Art, im Roman „Daphne Herbst“ (1928) von der Mutter der Protagonistin. Implizit richtet sich derlei natürlich gegen den kirchlicherseits als Antwort auf die Dynamisierung und Historisierung des modernen Bewusstseins aufgerichteten neuscholastischen Argumentationsrahmen; nicht minder gegen heute nachgerade grotesk wirkende Entscheidungen der Päpstlichen Bibelkommission zur Abwehr der historisch-kritischen Exegese, mit denen noch 1909 etwa die Geschichtlichkeit der biblischen Genesis-Erzählungen dekretiert wurde.14
Das Katholische, wie Annette Kolb es sieht, hält nicht geringe Herausforderungen bereit. Immer handelt es sich bei ihm auch um etwas Komplexes, Bewegliches, Schillerndes, und das durchaus im positiven Sinne: „In richtiger Distanz zu dem ewig fluktuierenden Katholizismus zu bleiben ist ja eine so schwere und immerwährende Aufgabe, daß eine ganze Anzahl Katholiken, und gerade die sympathische Sorte, da sie sich nicht lossagen wollen, lieber Scheuklappen anlegen, als über ein so verfängliches und verwirrendes Thema nachzudenken. Und ich begreife sie sehr wohl. Dem Geiste nach ist der Katholizismus etwas in seiner Vollgültigkeit wirklich zu Geheimes und zu Irisierendes.“ Ihn mit „Anachronismen“ (F 191) oder dem bloßen Rückzug auf dogmatische Gewissheiten domestizieren zu wollen, worin seine Leuchtkraft gerade für manche zeitgenössische Intellektuelle bestehe – ausdrücklich genannt wird Paul Claudels Neigung zu statischen Denkmodellen –, heißt ihn in jedem Falle zu verfehlen. Zugleich aber ist in der realen Gestalt der Kirche, wie defizitär im Einzelnen sie sein mag und von wie „sehr merkwürdigen“ Menschen auch immer bevölkert (F 189), der Kern unabgegoltener Verheißung lebendig, die Wesenstiefe und eine nach vorne gerichtete Dynamik miteinander verbindet. Deswegen solle man sich selbst in Zeiten offizieller Engführung des Katholizismus nicht beirren lassen: Hinter einer Gegenwart nämlich, der „wir doch sonst lieber heute als morgen davonliefen“, steht „das Rätsel (...), das wie eine noch ungehobene Monstranz weit hinaus über unser Dasein schimmert. Weil hier ein Seiendes inmitten der ewig zusammenstürzenden Gestalten seinen Bann ausstrahlt.“ (F 194)
Das „Göttliche“ ist für Annette Kolb „jenseitig“ (SB 144). Aber es hat Spuren im Diesseits hinterlassen. Das katholische Verhältnis zum Irdischen ist daher „nicht nur tributär“ (D 78), sondern bejaht dessen „unendliche und transzendente Hintergründe“ (M 306). Modus solch doppelter Annäherung aber ist die Kunst. „Wozu wäre Kunst, wenn nicht, um zu umschreiben?“ (M 304), fragt Annette Kolb. Mit derjenigen der Antike beginnt für sie demzufolge der „elementare Auftakt der messianischen Zeit“: das Bewusstsein der Herausforderung des geistigen Menschen durch das Geheimnis Gottes, seine Hinordnung auf dieses. „Alle Künste (...) waren von jeher durch den Pulsschlag, oder den Gedanken eminent katholisch. Aber ein so flutendes Meer wurde zum ungespeisten Gewässer verdrängt, das Universalste zum Einschichtigen, die Sache, deren Schlagwort unbegrenzte Elastizität ist, zur verdrießlichen Enge.“ (F 203 f.) Bloße Einforderung „korrekter“ Doktrin jedenfalls wird zur Selbstverhinderung: Darin besteht eine Kritik über die Zeit jener „antimodernistischen“ Defensive hinaus, der sich diese Zeilen verdanken.
Für Annette Kolb haben gerade die bildenden Künstler, die Dichter und die Musiker das „unrigorose Stichwort“ des Katholizismus „nie verkannt“ (M 306) – aber nicht die Ästhetik selbst, sondern das Mysterium steht hierbei im Vordergrund. Ein Bauwerk wie beispielsweise die Kathedrale von Chartres vermittle daher den „ethischen Eindruck einer aus Stein, Marmor und Glas formulierten Wahrheit, einer Vérité intrinsique, deren Zone jenseits aller Wörtlichkeit liegt“ (M 304). In der vereinseitigten Ratio- und Logozentrik, dem Überhandnehmen des Alltäglichen und Pädagogischen, der Verwandlung der Kirchen zu „Schulsälen“ und ihrer Ausleuchtung mit „Alltagslicht“ (M 305), besteht für Annette Kolb denn auch der eigentlich „leidige Bruch“, der mit der Reformation eintrat, denn, schreibt sie mit Großmut der vorreformatorischen Kirche gegenüber, „über die Notwendigkeit von Reformen war man sich ja einig“ (M 306).
Unter zukünftiger Perspektive jedenfalls bleiben Selbstkorrektur und Entwicklungsoffenheit unhintergehbar. Einmal spricht Annette Kolb von „einer ehrwürdigen und wetterfesten, aber der Umgestaltung so dringend benötigenden Feste“ (F 189). In jedem Falle bedarf es dafür der Geduld, „weil ja die Vorbedingungen noch nicht geschaffen“ sind (D 77, vgl. 86). Gleichwohl gilt: „Auch für den Katholizismus wird eine neue Stunde schlagen: die von Katharina von Siena so heiß ersehnte ,Reformation‘ steht immer noch aus.“ (M 306)
Neben und vor Bernard von Brentanos „Theodor Chindler“ (1936) ist Annette Kolbs „Daphne Herbst“ (1928) der katholische Familienroman in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wie als ein bewusst gesetztes Zeichen für die Versöhnung der Gegensätze heiratet seine Heldin, dem Willen ihres Vaters zuwider handelnd, einen Protestanten. Obwohl sie selbst mit Begriffen des „Heidnischen“ in Verbindung gebracht wird (D 12, 63, 79) und trotz ihrer „Freigeistigkeit“ (D 88), erlebt Daphne tief reichende „religiöse Abenteuer“ (D 44). Sie spricht zwar nicht gern davon, glaubt aber doch „alles“, was das apostolische Bekenntnis fordert (D 87). „Strengste Zurückhaltung“ und „Intimität“ sind ihr wichtiger als öffentliches Zur-Schau-Stellen und ein damit verbundener „Jargon vom lieben Gott (...) und der ewigen Seligkeit“. Mit ihrer religiösen Befindlichkeit sieht die junge Frau sich auf einer Fährte „zur Freitreppe, von wo aus gesehen das Engste, Obskuranteste zum Vieldeutigsten und Kosmischen sich weitet“, das die sichtbare Realität überschreitet und in katholischer Frömmigkeit viele Bezugspunkte hat.
Eine weitere Spannung ist bezeichnend für die Psychologie und Dialektik eines von Annette Kolb bevorzugten Typus des intellektuell Katholischen angesichts der Moderne: „zu glauben und nicht zu glauben zugleich“ (D 88 f.). Dahinter verbirgt sich letztlich eine Ahnung jenes vielleicht höchsten Paradoxes, auf welches das religiöse Begriffsvermögen zuläuft: „Wer durfte das Recht des Glaubens beanspruchen, der dem anderen das Recht des Unglaubens bestritt?“ (D 78 f.) Unter diesem Blickwinkel ist wahre Religiosität immer größer selbst als ihre Negation, da sie diese einzubegreifen vermag.