Kitabı oku: «Logotherapie und Existenzanalyse heute», sayfa 5
2. LOGOTHERAPEUTISCHE ACHTSAMKEITSMEDITATION – EINE METHODE
Lukas: Gewiss. Immer wieder liefen die Beratungen meiner Patienten darauf hinaus, sie mögen achtsam und liebevoll mit ihren Ressourcen umgehen, sich auf Wesentliches beschränken und ihr Leben sinnvoll gestalten. Von Pearl Sydenstricker stammt das Bonmot: „Die wahre Lebenskunst besteht darin, im Alltäglichen das Wunderbare zu sehen.“ Solche Lebenskunst zu lehren, ist die höchste Kunst des Psychotherapeuten. Der Hirnforscher Gerald Hüther hat in seinem jüngsten Buch „Raus aus der Demenz-Falle!“ überzeugend erläutert, dass ein gelassener, problemlöseorientierter und auf das Positive achtender Lebensstil nicht nur die Selbstheilungskräfte des Körpers ankurbelt, sondern auch „Dünger für das Gehirn“ ist, das über die Ausschüttung der Hormone Dopamin und Serotonin sogar seinen eigenen Verfall (begrenzt) in Schach halten kann. „Bleibe wach für den Moment!“, lautet Hüthers Devise, der ich mich voll anschließen möchte.
Zusammenfassend begrüße ich das Grundkonzept von Achtsamkeitsmeditationen. Allerdings würde ich die Instruktionen für den Meditierenden verfeinern. Etwa nach folgender Art:
Entspanne dich, atme ruhig und gleichmäßig ein und aus, ein und aus … schiebe störende Einflüsse und Eindrücke zur Seite, lass grüblerische Gedanken an dir vorüberfließen, lass sie wegfließen … sie haben jetzt nichts bei dir zu suchen. Entspanne dich, so gut du kannst, und genieße die geistige Freiheit, die sich mehr und mehr in dir ausbreitet. Wenn sich deine Glieder schwer anfühlen und deine Seele leicht geworden ist, dann versuche, Kontakt mit deiner innersten Stimme aufzunehmen. Es muss sehr still in dir werden, denn deine innerste Stimme ist leise. Lass es still werden, spüre dem Leisen nach. Wenn andere, fremde Stimmen aus deiner Erinnerung dazwischenfunken, schalte sie aus. Das Stille und Leise, Echte und Ehrliche wird sich dir zunehmend offenbaren. Frage deine innerste Stimme, was du bisher gut gemacht hast. Lächle bei ihrer Antwort und entspanne dich noch mehr.
Dein Atem fließt ruhig und gleichmäßig, nichts kann dich jetzt stören … Du bist schläfrig und zugleich hellwach. Frage deine innerste Stimme, was du noch besser machen kannst, und achte genau darauf, wovon sie erzählt. Sie erzählt von drinnen und draußen. Von deinen Stärken, auf die du stolz sein kannst, und von den vielen Aufgaben draußen. Sie erzählt von deinem Geschick, unter den Aufgaben die richtigen herauszupicken und mit Lust und Schmerz zu erfüllen. Du zögerst, was die richtigen sein könnten? Lass es still werden, lausche auf das Leise in dir. Was du dir nicht selbst sagen kannst, wird dir gesagt. Wenn du auf deine innerste Stimme achtest, weißt du plötzlich, was richtig ist. Lust und Schmerz werden verblassen, aber deine Gewissheit, um das Richtige zu wissen, wird bleiben. Du kannst sie mitnehmen, wenn du aus deiner Meditation zu deinen aktuellen Vorhaben zurückkehrst.
Doch sei auch weiterhin achtsam und wachsam, was in dir und um dich herum vorgeht! Bedenke: (Zeitlos) lange genug hast du in der Unbewusstheit geschlummert, bevor du zum Menschsein erwacht bist. Und für (zeitlos) lange genug wirst du eines nicht fernen Tages wieder in die Unbewusstheit entschlafen!
Allein mit der Umschreibung „was in dir und um dich herum vorgeht“ ist die Fähigkeit zur Selbsttranszendenz bereits der Fähigkeit zur Selbstdistanzierung aufaddiert.
3. SELBSTDISTANZ UND SELBSTTRANSZENDENZ
Batthyány: Schön – dazu vielleicht noch eine ergänzende Anmerkung: Achtsamkeit ohne Selbsttranszendenz bedeutet ja einfach Aufmerksamkeit bündeln – aber Aufmerksamkeit sagt noch gar nichts über die Qualität und innere Haltung, mit der man der Welt dann aufmerksam begegnet. Aufmerksamkeit kann ja auch negativ sein. Aber Wohlwollen oder einfach eine positive Zugeneigtheit ist viel umfassender: Sie beinhaltet erstens automatisch auch Aufmerksamkeit – ich muss ja hinschauen, um den anderen wahrzunehmen – und zweitens die gute Intention. Mit anderen Worten: Wohlwollen beinhaltet Achtsamkeit und Aufmerksamkeit und ein positives Wollen, aber Achtsamkeit und Aufmerksamkeit beinhaltet nicht zwangsläufig Wohlwollen; es kann auch bedeuten, dass ich der Welt ziemlich gleichgültig oder auch negativ und ablehnend begegne. Daher finde ich Ihren Meditationstext sehr schön! Um aber generell noch etwas bei den geistigen Potentialen zur Selbstdistanzierung und zur Selbsttranszendenz zu bleiben: Die Logotherapie betont ja beide – Selbstdistanzierung und Selbsttranszendenz –, aber ich wurde in der Literatur, auch bei Frankl, nie wirklich fündig, wenn ich nach Analysen oder überhaupt nach Vorschlägen zum Verhältnis der beiden zu- und untereinander suchte. Das finde ich durchaus interessant. Denn man könnte argumentieren, dass das eine ohne das andere durchaus problematisch sein kann.
Nehmen wir etwa die Selbstdistanzierung. Wie wir am Beispiel der Achtsamkeitsmeditation gesehen haben, ist sie kein Selbstzweck, sondern eine Fähigkeit (keine Fähigkeit ist ein Selbstzweck). Sonst kann sie – als Distanznahme etwa zu den eigenen Gefühlen – in bloße Gelassenheit, um nicht zu sagen: Gleichgültigkeit abgleiten oder aber auch in eine unnötige Härte sich selbst gegenüber. Beides sind ja Wege der Distanzierung vom inneren und äußeren Erleben. Aber der Verzicht etwa, zu dem eine gesunde Selbstdistanzierung befähigt, ist schließlich nicht allein deswegen sinnvoll, weil er ein Verzicht ist, sondern immer nur dann und deswegen, weil das Verzichten um einer wichtigen Sache oder einer geliebten Person willen sinnvoller ist, als sich in der eigenen Lebensführung lediglich von den Parametern Lust und Unlust oder anderen Launen treiben und leiten zu lassen. Bloße Selbstdistanzierung um ihrer selbst willen, die kein selbsttranszendentes Wofür meint, kann daher im Grunde ebenso egozentrisch sein, nur halt unter umgekehrtem Vorzeichen und unter Einsetzung anderer Mittel.
Auf der anderen Seite könnte man sagen, dass bloße selbsttranszendente Ausrichtung leicht in Fanatismus und vergleichbar problematische Entwicklungen zu münden Gefahr liefe, wenn da nicht die innere Souveränität und Gelassenheit der Selbstdistanzierung wäre, die einen dazu ermahnt, die eigenen Erkenntnisgrenzen anzuerkennen und zumindest die Möglichkeit gelten zu lassen, dass man – qua Menschsein – sich irren kann, sogar sehr wahrscheinlich in manchen Belangen irrt. Dass man ein bisschen Bescheidenheit und Demut walten lassen soll, auch wenn man glaubt, absolut im Recht zu sein. Kurzum, ein bestimmtes Maß an Selbstdistanzierung gegenüber der eigenen allzu großen Gewissheit und der damit bisweilen assoziierten Kompromisslosigkeit schützt vor fanatischen Entgleisungen. Es ließen sich noch mehr Beispiele anführen, etwa das Beispiel des Workaholikers, der sich wirklich engagiert für etwas oder jemanden, dem also ein Mangel an Selbsttranszendenz nicht attestiert werden kann – aber ich denke, Sie wissen, worauf ich hinaus will, wenn ich die Frage nach dem Verhältnis von Selbstdistanzierung und Selbsttranszendenz zueinander aufwerfe.
Lukas: Ja, ich verstehe, was Sie meinen – und ich gebe zu, dass wir in der angewandten Logotherapie selten beide spezifisch humanen Potentiale gleichzeitig zu Heilzwecken anzapfen. Bei der Behandlung von Neurotikern hat das Abrücken der Person von ihren Ängsten und Zwängen stets Vorrang. Das Ich und seine Symptome sind auseinanderzuzerren, damit das Ich seine Symptome bei den Hörnern packen und besiegen kann. Erst wenn die Person nicht mehr ständig von gräulichen Gefühlen, grässlichen Erwartungen und skurrilen Impulsen gejagt und geplagt wird, ist sie halbwegs in der Lage, sich auf etwas Nicht-Ichhaftes hin zu transzendieren. Hier wird also zunächst die Fähigkeit zur Selbstdistanzierung gehoben, und später (bei der Nachbetreuung) an der Anhebung der Selbsttranzendenz gearbeitet.
Aus Ihrer Frage höre ich heraus, ob man nicht ähnlich methodisch den Fokus auf die Selbstdistanzierung legen müsste bei Personen, die zwar eine ausgeprägte Fähigkeit zur Selbsttranszendenz mitbringen, aber diese zu fanatischem Terror bündeln, oder sich selbst endlos verausgaben, masochistisch aufopfern und ohne Widerstand auspowern lassen.
Dem möchte ich erwidern, dass die zwei genannten Personengruppen nicht in einen Topf zu werfen sind. Eine Überschneidung von Fanatismus und Selbsttranszendenz ist glatt zu verneinen. Fanatiker behängen sich zwar gerne mit scheinheiligen Mäntelchen, unter denen sie ihre Egoismen verbergen. Das war schon zur Zeit der Kreuzzüge so, als Horden von Soldaten ins „Heilige Land“ aufbrachen – offiziell, um die Wiege des Christentums zu beschützen, und inoffiziell, um zu metzeln, zu rauben und zu plündern. Auch moderne Diktatoren, die angeblich Lebensraum für ihr Volk beschaffen wollen, haben keinerlei Hemmung, zu ihrem eigenen Ruhme dieses Volk blutig zu verheizen. Fanatiker sind Sklaven ihrer Wünsche, die sie unbedingt durchpeitschen wollen, und neben ihren Wünschen klafft dort, wo sich der Rest der Welt befindet, ein schwarzes Loch.
4. DER WORKAHOLIKER UND DIE FRAGE NACH SINN
Lukas: Anders steht es mit den Workaholikern, die unter einer vermeintlichen Verantwortungsüberlastung ausbrennen, mit den bienenfleißigen Helfern, die „helfersyndrom“atisch im Hamsterrad rotieren, mit den sanftmütigen, wehrlosen Kerlchen, die jedermann schamlos ausnützen kann, oder mit den unverbesserlichen Träumern, die die ganze Welt retten wollen. Ihnen ist eine rechte Portion Selbsttranszendenz nicht abzusprechen. Vielleicht vergessen sie vor lauter Selbstvergessenheit und Dienst an der Mitwelt tatsächlich oft auf ihr Selbst. Trotzdem würde ich ihr Hauptproblem nicht in einer schwach entwickelten Fähigkeit zur Selbstdistanzierung orten. Um an die oben erwähnten Achtsamkeitsmeditationen anzuknüpfen, würde ich sagen: Sie achten nicht auf die Stimme ihres Gewissens.
Fähigkeiten brauchen einen geistigen Einsatzbefehl, um loszusprinten. Auch wenn jemand ein Supertalent im Turnen hat, ist der Gehsteig nicht der passende Ort, um Purzelbäume zu schlagen. Auch wenn jemand mit schmelzendem Tenor singen kann, ist Mitternacht nicht der passende Zeitpunkt, um eine Arie am offenen Fenster zu schmettern. Dafür bekommen Sportlichkeit oder Gesangstüchtigkeit keine Einsatzbefehle. Analog sind unsere Potentiale zur Selbstdistanzierung und zur Selbsttranszendenz dem jeweiligen Einsatzbefehl der geistigen Person untergeordnet, und die geistige Person ist gut beraten, sich dem Spruch ihres Gewissens unterzuordnen. Wenn sie es tut, entscheidet das Gewissen als oberste Instanz über den sinnvollen Einsatz unserer Fähigkeiten und annulliert ihn bei Sinnwidrigkeit.
Deshalb und gerade deshalb ist es unerlässlich, Sinn als zwar relativ (ad personam et ad situationem), aber als transsubjektiv zu definieren, wie es in der Logotherapie Usus ist. Zur Demonstration greife ich einen Textblock des Amerikaners John Wood auf, den die Sinnforscherin Tatjana Schnell in einem ihrer Bücher veröffentlicht hat. Darin heißt es:
Ich habe … einen sinnvollen Beruf, für den ich Leidenschaft empfinde. Wenn ich aufwache, kann ich es kaum erwarten, aus dem Bett zu springen und ins Büro zu kommen … ich sah meine Familie seltener als ich es mir gewünscht hätte … es gab noch eine schlimmere Schattenseite, die immer wieder ihre hässliche Fratze zeigte. Die Überstunden waren einfach die Hölle für meine Beziehungen. Wenn ich begann, mit einer Frau auszugehen, war sie innerhalb eines Monats total frustriert wegen der wenigen Zeit, die ich der aufkeimenden Beziehung widmen konnte …33
Tatjana Schnell zieht daraus das Resümee, dass „hohes Sinnerleben am Arbeitsplatz gefährlich sein kann“. Sie zählt Beispiele von Leuten auf, die zu Gunsten sinnvoller Arbeit erhebliche Nachteile und sogar finanzielle Ungerechtigkeiten hinnahmen.
Frankl hätte diesbezüglich bloß den Kopf geschüttelt. Nicht nur, dass er selbst imstande gewesen ist, seine überaus sinnvolle und arbeitsaufwändige Berufstätigkeit mit innigen familiären Beziehungen zu koppeln. Er hat sogar bezweifelt, dass der Konfliktcharakter den unterschiedlichen Werten (Beruf, Familie, Freizeitinteressen …) innewohnt.34
Der Sinn – der transsubjektive Sinn, den man sich nicht willkürlich zusammenreimen kann – ist kein Freund einer Vernachlässigung von geliebten Menschen. Der Sinn ist auch kein Freund von Überstunden, die die Hölle sind, von psychischer Raserei und physischer Verausgabung, von frustrierenden zwischenmenschlichen Kontakten oder von der kommentarlosen Akzeptanz ausbeuterischer Strukturen. Der Sinn – der transsubjektive Sinn, den man nicht als Ausrede für Sinnwidrigkeiten vorschieben kann – streckt seinen Finger aus und zeigt auf denjenigen Wert, der „gerade dran ist“, und legt demjenigen Wert den Finger auf den Mund, der „gerade zu schweigen hat“. Der Sinn lockt die Selbsttranszendenz aus ihrem Versteck, wenn es um ein persönliches Engagement geht, zu dem man gerufen ist, und der Sinn mobilisiert die Selbstdistanzierung, wenn es gilt, eigenen leibseelischen Vorgängen Aufmerksamkeit zu schenken und sich lebensfit zu erhalten. Wie schade, dass John Wood nicht einen amerikanischen Logotherapeuten aufgesucht hat! Dieser hätte ihn Achtsamkeit gelehrt: Achtsamkeit auf die zarten Regungen des Gewissens, das vom jeweils Sinnvollen kündet. Bald hätte John Wood begriffen, dass seine (subjektiv) als sinnvoll empfundene Arbeitsfreudigkeit ihren (objektiven) Sinn verliert, wenn er sie vergötzt und auf Kosten anderer Menschen ausübt. Er hätte begriffen, dass der Verlust von Sinn gefährlich ist (und nicht etwa das hohe Sinnerleben am Arbeitsplatz, wie von der Buchautorin behauptet).
Womit ich wieder bei der logotherapeutischen Achtsamkeitsparole gelandet bin. Es gibt in der Frankl’schen Literatur eine Stelle, an der Frankl eindringlicher als sonst vor Unachtsamkeit warnte. Wir agieren wie Schauspieler auf einer irdischen Lebensbühne, meinte er, und erkennen im Dunkeln nicht, wer im überirdischen Zuschauerraum sitzt und uns beobachtet. Aber Achtung: Wir spielen vor offenem Vorhang!35
Ergänzen könnte man die Metapher: Und sollten wir auf der Bühne ins Stocken geraten, dann souffliert unser Gewissen das erlösende Stichwort. Nicht irgendein Stichwort, das uns zufällig gefallen mag, sondern jenes Stichwort, das haargenau zur laufenden Szene passt und zum richtigen Handeln auffordert. Welcher Regieanweisung aber entnimmt unser Gewissen sein Stichwort? Es fängt die Stimme der Transzendenz auf …36
5. SINN UND WIRKLICHKEIT
Batthyány: Sie erwähnten eben die Arbeiten von Tatjana Schnell. Darauf würde ich gerne später zurückkommen, und zwar im Kontext anderer Denkschulen der Psychologie, die zunehmend auch auf die Rolle des Sinns aufmerksam werden. Zunächst aber – und auch, um etwas von der Diskussion der Arbeiten von Tatjana Schnell vorwegzunehmen: Wenn Sie eben sagten: „Nicht irgendein Stichwort, das uns zufällig gefallen mag, sondern jenes Stichwort, das haargenau zur laufenden Szene passt und zum richtigen Handeln auffordert“, dann führt das unmittelbar zu der immer wieder gestellten Frage, ob Sinn etwas subjektiv Konstruiertes oder ein objektiv/transsubjektiv Gegebenes ist.
Diese Frage „verfolgt“ die Logotherapie von Anfang an; einige ehemalige Weggefährten Frankls – u. a. der Psychotherapeut Alfried Längle, auf den wir ebenfalls später noch gesondert und ausführlicher zu sprechen kommen werden – haben an genau dieser Weggabelung zwischen gegebenem (objektivem/transsubjektivem) und gemachtem (subjektivem) Sinn die Position der klassischen Logotherapie verlassen. Faszinierend daran finde ich, dass es in keinem einzigen dieser Fälle dabei geblieben ist, dass jemand ein subjektives Sinnverständnis postuliert hat, ohne nicht zugleich auch andere wesentliche Elemente der Logotherapie abzuändern. Stets hatte dieser Schritt also einschneidende Auswirkungen auf das therapeutische Vorgehen und insgesamt auf das theoretische Verständnis und Gebilde der dann entstehenden Denkschule.
Aber fangen wir einen Schritt vorher an – nämlich beim grundlegenden Sinnverständnis unserer Tage. Wenn man sich in diese Debatte etwas einliest, dann staunt man darüber, in welche Selbst- und Sinnzweifel eine erkenntnisskeptische Postmoderne den Menschen geführt hat. Irgendwie scheint mir, als seien unsere Instrumente zur Selbst- und Weltwahrnehmung unter den Vorzeichen der Postmoderne falsch kalibriert – mit der Folge, dass der Mensch einer doppelten Fehleinschätzung zum Opfer fällt:Dass er sich gleichermaßen unterschätzt und überschätzt.
Er unterschätzt etwa im Rahmen des „Naturalisierungsprojekts“ des Menschen (Stichwort neurobiologischer Reduktionismus) seine eigene Willensfreiheit.37 Er traut sich zu wenig zu, vor allem zu wenig Freiheit und Verantwortung – mit, wie wir bereits gesehen haben, durchaus gravierenden Folgen. Zugleich schreibt er sich selbst aber die Fähigkeit zu, Sinn „machen“, also konstruieren zu können (bzw. zu müssen, da Sinn ja objektiv gar nicht da oder in einem Sachverhalt angelegt sei). Dieses Ungleichgewicht zwischen dem Glauben an einen Mangel an Selbstkontrollfähigkeit (Unterschätzung des Ichs) und dem zugleich erhobenen Anspruch auf die Fähigkeit, über die Sinnhaftigkeit der Wirklichkeit bestimmen zu können (Überschätzung des Ichs), halte ich für höchst bemerkenswert. Es ist auch offensichtlich ziemlich paradox. Man verlegt die Kontrollfähigkeit von sich selbst weg – dabei könnte man gerade dort, also bei sich selbst, am meisten ausrichten – auf die „Umstände“ und „Bedingtheiten“ bzw. auf die Welt als Ganzes. Diese „Welt“ und das Schicksalhafte habe, so nimmt man dann nach einer Absage an die eigene Freiheit und Verantwortung an, beinahe unbegrenzten und ungebremsten Einfluss über das eigene Erleben, Denken, Entscheiden und Handeln. Soweit die Absage an die menschliche Freiheit und die damit einhergehende Unterschätzung unserer Möglichkeiten und Fähigkeiten.
Doch mit der Absage an die Gegebenheit eines objektiven oder transsubjektiven Sinns behauptet man zugleich von sich selbst, dass man über die Sinnhaftigkeit eben jener Welt durch subjektive Konstruktionsprozesse verfügen könne. Mit anderen Worten: Man verortet die eigenen Fähigkeiten schlichtweg falsch. Sich selbst und die eigene Freiheit unterschätzt man, und gleichzeitig überschätzt man sich selbst in der Annahme, man müsse oder könne Sinn irgendwie „machen“. Diese Position ist also nicht nur erkenntnistheoretisch fragwürdig, es grenzt eigentlich schon an Allmachtsfantasien, wenn man ernsthaft von sich selbst glaubt, durch die eigenen Konstruktionsprozesse nicht weniger als Sinn herstellen zu können. Ganz abgesehen davon, dass sich diese Position im Grunde auch gar nicht leicht in Einklang bringen lässt mit der gleichzeitigen Absage in die eigene Entscheidungs- und Willensfreiheit.
Zwar ist unser Gespräch nicht der Ort, über die Stärken und Schwächen eines solchen harten Konstruktivismus in allen Einzelheiten zu verhandeln. (Diese Debatte wird derzeit in den Naturwissenschaften intensiv geführt, und man findet dort hochinteressante Argumente, die man auch auf die Sinndebatte übertragen könnte.) Bei der Sinnfrage geht es allerdings um eine ganz unmittelbare lebenspraktische Relevanz – sie ist nicht nur erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch von Bedeutung, sondern hat vielmehr auch unmittelbare und starke Auswirkungen auf unsere Lebensführung.
Denn die Idee, wir konstruierten Sinn, geht nicht nur, wie erwähnt, mit frappierenden Selbstfehleinschätzungen einher, sondern auch mit einer enormen Unterschätzung des Sollens in der Welt, bzw. der Welt insgesamt: Denn Sinn konstruieren muss ich ja hauptsächlich dann, wenn ich einerseits einen Willen zum Sinn anerkenne (immerhin dies), zugleich aber der Welt unterstelle, sie sei so sinnlos und unbedacht und lebensfeindlich konstruiert oder gewachsen, dass das, wonach uns so sehr sehnt – Sinn –, gar nicht wirklich existiere.
Das ist die dritte Inkonsistenz dieses „Modells“: Ihm zufolge sind wir zwar nämlich mit einer ausgeprägten Sinnmotivation ausgestattet – so sehr, dass nicht wenige Menschen an der unbeantworteten Sinnfrage verzweifeln bzw. innerlich zu zerbrechen drohen. Zugleich aber sei genau das, wonach wir so sehr streben, gar nicht da. Wenn dieses Modell stimmte, hätte der Wille zum Sinn folglich kein echtes Pendant in der Wirklichkeit – nur deswegen müssen wir es uns ja ausdenken, es erfinden. Der Mensch wäre demnach eine wahre Fehlkonstruktion – ein Irrläufer der Evolution, wie der ungarisch-britische Schriftsteller Arthur Koestler sagte: Fortwährend auf der Suche nach etwas, das aber nirgends zu finden ist und das er daher er-finden muss. Eine Welt, die sich solche Geschöpfe leistet und sie zugleich mit hinreichend Intelligenz und Handfertigkeit ausstattet, die Welt selbst grundlegend zu gefährden, wäre im Grunde nicht nur „sinn-los“, sie wäre richtiggehend sinnwidrig …
Nun ist mir bei alledem natürlich bewusst, dass auch diese Inkonsistenzen und Selbstwidersprüche keinen zwingenden Beweis für das Gegenmodell der transsubjektiven Natur des Sinns darstellen. Man wird transsubjektiven Sinn wohl ohnedies niemals im eigentlichen Sinne beweisen können; das ist methodisch nicht möglich. Aber man kann immerhin Spuren und Indizien finden. Und diese erschließen sich bereits in der einfachen Betrachtung der Natur, insbesondere der menschlichen Natur … Dann sieht man z. B., dass es evolutionäre Hinweise gibt, die sich aus der Sinnfrage ableiten. Etwa, dass wir Menschen die einzigen uns bekannten Lebewesen sind, die dann, wenn etwas im Argen liegt, nicht nur versuchen, sich an veränderte Lebensbedingungen anzupassen (wie das in der Tierwelt geschieht), sondern darin auch einen Auftrag erkennen, die Dinge zum Besseren zu wenden – und zwar interessanterweise auch die Dinge, die gar nicht unmittelbar unserem eigenen Überleben dienen (Stichwort Selbsttranszendenz). Das heißt: Mit dem Menschen kam ein Phänomen in die Welt, das zudem aufs Engste mit der Sinnfrage in Zusammenhang steht: das Phänomen der Hoffnung. Und zwar nicht nur Hoffnung, dass es uns gut ergehen möge (diese Hoffnung ist ja noch recht leicht auch im Sinnsubjektivismus zu erklären), sondern auch Hoffnung, dass man selbst die Dinge zum Guten wenden kann, und zwar auch für andere – auch für jene, die überhaupt keinen unmittelbaren oder mittelbaren Einfluss auf unser Leben haben.
Der Philosoph Robert Spaemann hat dazu einige sehr eindrückliche Fragen formuliert. Genau genommen hat er diese Fragen nicht bloß formuliert, sondern der Psychologie ins Stammbuch geschrieben. Er fragte nämlich u. a., warum sich die Psychologie nicht schon längst ernsthafter mit dem Phänomen der Selbsttranszendenz auseinandergesetzt habe. Seine Anfragen richten sich maßgeblich an eine reduktionistische und konstruktivistische Psychologie, die dem Sinnphänomen schlichtweg nicht gerecht wird, weil sie einzig auf den Prozess der Sinnkonstruktion und nicht auf genuine Sinnerfüllung abzielt. So fragte Spaemann:
Was ist das für ein Interesse, das wir daran haben, dass die letzten Tiger in Russland, die wir ohnehin nie zu sehen bekämen, nicht ausgerottet werden? Was ist das für ein Interesse, das einen Künstler dazu veranlasst, ohne Rücksicht auf Kraft und Lebenszeit an der Verbesserung eines Werkes zu arbeiten, das vermutlich von fast niemandem jemals wahrgenommen wird? … Oder was ist das für ein Interesse, das einen Menschen veranlasst, lieber eine für ihn niederschmetternde Wahrheit wissen zu wollen, als durch eine freundliche Lüge getröstet zu werden, und zwar auch dann, wenn die Täuschung auf dem Sterbebett erfolgt, also folgenlos bleibt?38
Nun muss man sagen: Unter rein konstruktivistischen oder subjektivistischen und utilitaristischen Gesichtspunkten ergibt so ein Verhalten tatsächlich überhaupt keinen Sinn – es verbraucht aus dieser Perspektive nur Kraft und Ressourcen, die andernorts viel „gewinnbringender“ eingesetzt werden könnten. Dennoch ist all dies „typisch menschliches“ Verhalten – und wird es wohl immer sein (sofern wir es dem Menschen nicht unter dem ideologischen Diktat des blanden Materialismus oder Nihilismus abzugewöhnen versuchen). Dabei ist es schon auffällig: Gerade das Verhalten und Handeln, dem wir moralisch eine hohe Wertigkeit und Menschlichkeit bescheinigen – vom Altruismus bis zum Engagement für Werte, vom Mitgefühl bis zum kreativen Schaffen etwa in Kunst und Dichtung –, ist aus einer strikt naturalistischen oder reduktionistischen Sichtweise eben nicht nur unproduktives Verhalten, sondern auch nicht-adaptiv. Bemerkenswert ist unter diesem Vorzeichen dann nur noch, dass es sich nicht längst wegentwickelt hat … Man kann hierin wiederum einen gewichtigen Hinweis darauf erblicken, dass und warum eine rein naturalistische Sichtweise weder dem Menschen (seiner Gestaltungsfähigkeit und seinem Sinnstreben) noch der Welt (und ihrem Aufgabencharakter) gerecht wird.
Zudem übersieht der harte Reduktionismus, dass unser Dasein fraglos auch allgemein eine ethische Dimension hat. Vereinfacht gesagt: Es ist ganz offensichtlich eine Gewissensstimme als eine Art moralischer Kompass in uns angelegt, der uns Sollimpulse unmittelbar erkennen lässt, und zwar ohne theoretische oder rationale (oder bloß emotionale) Herleitung. Es gibt mit anderen Worten eine unbestechliche Weisheit des Herzens, und diese operiert ganz natürlich mit dem Sinn als Maßstab guten oder falschen Verhaltens. Um das an einem simplen Beispiel zu erörtern: Es ist leicht erkennbar „falsch“, jemanden grund-, also sinnlos zu verletzen und ihm Schmerzen zuzufügen. Sobald aber ein sinnvoller Grund vorhanden ist, etwa, weil der Arzt einen chirurgischen Eingriff vornehmen muss, ist es nicht mehr falsch, sondern eben sinnvoll – also gesollt. Dieses Grundverständnis ist, wie Frankl es nannte, präreflexiv: eine Art natürlich in uns angelegtes Vorwissen von Sinnhaftigkeit und Sinnlosigkeit als Orientierungsgeber und Maßstab, nach dem wir die Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit von Dingen und Ereignissen bewerten. Wir wissen aus der Entwicklungspsychologie, dass dieser Orientierungsgeber erstens bereits sehr früh, schon im Kindesalter, eingesetzt wird; zweitens ist er überraschend geringfügig kulturabhängig.39
Solche „Befunde“ oder Indizien zählen zu dem, was man in der Philosophie manchmal „einfache Tatsachen des Lebens“ nennt – also Datenpunkte, die an sich leicht beobachtbar sind, die aber zugleich gültige Schlüsse auf sehr viel komplexere Zusammenhänge erlauben: in diesem Fall auf die Immunität von ethischen Sachverhalten gegen den Vorhalt, es handle sich bloß um subjektives Hineindeuten von Bewertungen.
Lukas: Es ergeht einem „Verwandten“ des Sinns, nämlich dem Recht, sehr ähnlich, ja geradezu vergleichbar. Durch die Jahrtausende hindurch suchen wir Menschen nach Recht und Gerechtigkeit und haben allmählich erkannt, dass sich niemand über das (eben transsubjektive) Recht stellen darf, auch nicht, wenn er höchste Ämter bekleidet. Dass sich unsere Auffassungen vom Recht wandeln und gewandelt haben, dass machtgierige Personen und Herrscher das Recht stets willkürlich gebogen und verbogen haben, ändert nichts an der Tatsache, dass sich nach Recht und Gerechtigkeit nur aufrichtig streben lässt, und dass sämtliche Gesetzesnovellen der kontinuierliche Versuch sind, diesem vorliegend existierenden Recht im Detail auf die Spur zu kommen und das Gefühl für das Recht zu schärfen.
Dennoch scheint mir, dass das Recht in den modernen Staaten unhinterfragter als „oberste (und nicht beliebig zu verzerrende) Instanz“ anerkannt wird als der Sinn. Deshalb empfinde ich Ihre obigen Ausführungen als überaus lehrreich.
Batthyány: Das freut mich … Freilich sind das alles wie gesagt (nur) Indizien, und es würde den Rahmen unseres Gesprächs sprengen, würden wir hier eine Reihe weiterer Indizien und Argumente auftreten lassen. Mir ist an dieser Stelle nur generell der Hinweis wichtig, dass es diese Indizien und Argumente überhaupt gibt – und dass die Vorstellung eines vorfindlichen, objektiven Sinns respektable geistes- und naturwissenschaftliche Grundlagen hat. Manchmal fällt mir nämlich im Gespräch mit Kolleginnen und Kollegen aus der Logotherapie auf, dass sich auch innerhalb der Logotherapie noch kaum herumgesprochen hat, dass wir mit der Annahme eines objektiven Sinns gar nicht alleine dastehen. Wir vertreten diesbezüglich also keine vollkommen isolierte obskure Einzelmeinung, die geglaubt oder dogmatisch akzeptiert werden müsse. Unser Sinnverständnis hat vielmehr ernstzunehmende Mitstreiter in benachbarten Forschungsrichtungen und kann auch überzeugend „außerlogotherapeutisch“ begründet werden.40
Der manchmal von Kritikern und ehemaligen Weggefährten Frankls gehörten Vorhaltung, der Glaube an einen objektiven Sinn sei letztlich nur ein „Glaube“, kann vor diesem Hintergrund also wie folgt entgegnet werden: Ja, es ist eine Annahme. Aber es ist erstens eine zumindest durch vielfältige Indizien und Beobachtungen gestützte Annahme. Zweitens ist es eine Erfahrungswirklichkeit. Und drittens ist die Gegenannahme eines bloß subjektiven, konstruierten Sinns ebenfalls nur eine Annahme; denn wir bewegen uns hier an den Grenzen des mit herkömmlichen, rein innerweltlichen Methoden Beweisbaren.
Aber es gibt noch einen weiteren erwähnenswerten, lebenspraktischen Aspekt zu diesen Fragen, der sich in gewisser Weise parallel zu den bereits erörterten Befunden zur Willensfreiheit bewegt. Dort sahen wir, dass Menschen, deren Glaube an ihre Willensfreiheit durch einen manipulativen Überzeugungstext ins Wanken gebracht wird, sich in Folge tatsächlich so verhalten, als wäre ihr Entscheiden und Verhalten nur von inneren und äußeren Bedingtheiten bestimmt, und ihr Handeln letzten Endes nichts anderes als Funktion oder Ergebnis von selbsttätigen Lust- oder Unlustgefühlen. Bestärkt man sie andererseits in ihrem Glauben an ihre Fähigkeit zur Freiheit und Selbstkontrolle, zeigt sich mit einem Male, dass sie in der Lage sind, von diesen Fähigkeiten Gebrauch zu machen.