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I. Grundlagen

1. Systematische Einordnung und Ziel

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Das Jugendgerichtsgesetz enthält Sondervorschriften für Jugendliche und Heranwachsende, die das materielle Jugendstrafrecht, die Jugendgerichtsverfassung und das Verfahren vor den Jugendgerichten betreffen und bis hin zu Vollstreckung und Vollzug in Jugendsachen reichen. Das Kernstück bilden die Vorschriften über die Folgen von Straftaten der 14- bis unter 21-Jährigen. Mit Hilfe dieser Normen soll den Entstehungszusammenhängen von Jugendkriminalität Rechnung getragen und Reaktions- und Sanktionsformen angeboten werden, die die biologische, psychologische und soziologische Übergangssituation junger Menschen berücksichtigen. Wie die Bezugnahme auf die allgemeinen Vorschriften in § 1 Abs. 1 belegt, handelt es sich nicht um ein eigenständiges Jugendkonfliktrecht. Gerade bei den Straftatvoraussetzungen ist die Verknüpfung mit dem allgemeinen Strafrecht besonders deutlich. Auf Grund zahlreicher Verflechtungen bedarf es klarstellender Vorschriften. § 1 begrenzt den persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich. Ergänzend ist zu berücksichtigen, dass nach § 19 StGB schuldunfähig ist, wer bei Begehung der Tat noch nicht 14 Jahre alt ist (unwiderlegliche Vermutung der Schuldunfähigkeit von Kindern, MüKo-StGB-Streng § 19 Rn 3).

2. Geschichtliche Entwicklung

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Die Strafmündigkeitsgrenze wurde bereits im ersten JGG vom 16. Februar 1923 auf 14 Jahre festgesetzt, nachdem sie zuvor gem. § 55 StGB a.F. bei 12 Jahren gelegen hatte. Nach dem RJGG vom 6.11.1943 konnten Kinder ab 12 Jahren bestraft werden, „wenn der Schutz des Volkes wegen der Schwere der Verfehlung eine strafrechtliche Ahndung fordert“. Seit dem JGG vom 4.8.1953 gilt wieder die Altersgrenze von 14 Jahren. Zur rechtlichen Situation der Strafmündigkeit in der Europäischen Union ZJJ 2019, 409-411 (grundsätzlich 14 beziehungsweise 15 Jahre, ausnahmsweise 10-12 Jahre, in Belgien und Bulgarien erst mit Volljährigkeit); zur Diskussion um die Herabsetzung der Strafmündigkeitsgrenze Beinder, JR 2019, 554-563 mit dem Vorschlag, die Altersgrenze auf 16 Jahre anzuheben.

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Allgemein zur Entwicklung eines eigenen Jugendstrafrechts:

DVJJ-Dokumentation Geschichte der Jugendgerichtsbewegung (Sonderheft zum 25. Deutschen Jugendgerichtstag), DVJJ-J 2001; Fritsch Die jugendstrafrechtliche Reformbewegung (1871-1923), 1999; Hubert Jugendfürsorge, Jugendwohlfahrt und Jugendhilfe, 2005; Oberwittler Von der Strafe zur Erziehung? Jugendkriminalpolitik in England und Deutschland (1850-1920), 2000; Schaffstein/Miehe (Hrsg.), Weg und Aufgabe des Jugendstrafrechts, 1975; Simonsohn (Hrsg,), Jugendkriminalität, Strafjustiz und Sozialpädagogik, 2. Aufl., 1969; Voß Jugend ohne Rechte – Die Entwicklung des Jugendstrafrechts, 1986; Wolff Jugendliche vor Gericht im Dritten Reich, 1992; Wolff/Egelkamp/Mulot Das Jugendstrafrecht zwischen Nationalsozialismus und Demokratie, 1997; vgl. auch Dörner Erziehung durch Strafe. Die Geschichte des Jugendstrafvollzugs 1871-1945, 1991.

Zum Jubiläum 75 Jahre Jugendgerichtsgesetz (1923-1998):

DVJJ-J 1998, 3 ff. mit Beiträgen von Chr. Scholz, Peterich, Brehmer; DVJJ-J 1998, 162 ff.; Sonnen 75 Jahre JGG – Ein Gesetz für die Zukunft?; DVJJ-J 1998, 210 ff. mit Beiträgen von Pieplow und Fleck; DVJJ-J 1998, 328 ff.; Hübner/Kunath 75 Jahre JGG.

100 Jahre Jugendgerichte – 100 Jahre Jugendgerichtshilfe 2008 vgl. Einleitung, Rn 1-5 der 6. Auflage. Eine Momentaufnahme zum 100-jährigen über die Sonderrolle von Jugendrichterinnen und Jugendrichtern zwischen jugendstrafrechtlichem Programm und jugendrichterlicher Entscheidungspraxis präsentiert Jung GA 200B, 599-610.

100 Jahre Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen e.V.:

DVJJ (Hrsg), Herein-, Heraus-, Heran- – Junge Menschen wachsen lassen, Dokumentation des 30, Deitschen Jugendgerichtstages vom 14. bis 17.9.2017 in Berlin (2019) mit Beiträgen u.a. von Schumann, E. Die DVJJ und die NS -Zeit, 25-90. Sonnen Schwerpunktthemen vergangener Jugendgerichtstage, ihre aktuelle praktische Bedeutung und künftige kriminalpolitische Weiterentwicklung durch die DVJJ, 629-681 Pfeiffer Jugend 1917 – Jugend 20 17, 643-653. Ostendorf Jugendstrafrecht Ultima Ratio der Sozialkontrolle junger Menschen, 657-681.

3. Geltung in den neuen Bundesländern bis 2010

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In den neuen Bundesländern ist das JGG durch den Einigungsvertrag mit konkreten Maßgaben in Kraft getreten (Anlage I Kapitel III Sachgebiet C Abschnitt III Nr. 3 – BGBl. 1990 II s. 885J 975). Zu den Maßgaben gehörte u.a. dass an die Stelle des Wortes „Verfehlung“ bzw. „Verfehlungen“ die Worte „rechtswidrige Tat“ bzw. „rechtswidrige Taten“ treten. Statt „Zuchtmittel“ heißt es „Verwarnung Erteilung von Auflagen und Jugendarrest“. Diese Bestimmungen sind inzwischen nicht mehr anzuwenden (Art. 109 Nr. 1b und 1c Gesetz über die weitere Bereinigung von Bundesrecht vom 8.12.2010 [BGBl I 1864, S. 1880]; vgl. Brunner/Dölling § 1 Rn 6c f.).

Die praktisch bedeutsamste Änderung liegt in der Einbeziehung der Heranwachsenden. Das JGG wird rückwirkend angewendet, also auch auf rechtswidrige Taten, die vor dem Wirksamwerden des Beitritts begangen worden sind. Hier ist allerdings das in § 2 Abs. 3 StGB verankerte Prinzip der Meistbegünstigung zu berücksichtigen. Wurde ein zur Tatzeit 18- aber noch nicht 21-Jähriger nach dem Strafrecht der DDR, das für diese Altersgruppe nur die Anwendung von Erwachsenenstrafrecht vorsah, zu Freiheitsstrafe und zur Leistung von Schadensersatz verurteilt, so ist auf seine Revision hin, wenn der Schuldspruch Bestand hat, aber die Anwendung von Jugendstrafrecht in Betracht kommt, außer dem Strafausspruch auch der Ausspruch über die Entschädigung des Verletzten aufzuheben, um dem neu erkennenden Tatgericht eine JGG-gemäße Entscheidung zu ermöglichen (BGH DtZ 1991, 148 = JA 1991 2006).

4. Reform

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In neun Bereichen sind Änderungen des Jugendstrafrechts durch das seit 1. Dezember 1990 geltende 1. JGG-ÄndG erfolgt: Ausbau der informellen Erledigungsmöglichkeiten (Diversion), neue ambulante Maßnahmen wie Betreuungsweisung, sozialer Trainingskurs, Täter-Opfer-Ausgleich (soziale Gruppenarbeit und Betreuungshilfe sind gleichzeitig nach den seit 1.1.1991 geltenden §§ 29 und 30 SGB VIII Leistungen der Jugendhilfe mit Angebotscharakter), Beschränkung des Freizeitarrestes, Streichung der unbestimmten Jugendstrafe, geringe Erweiteruns der Strafaussetzung zur Bewährung, leichte Verbesserung der Funktion der Jugendgerichtshilfe, Ansätze zur Vermeidung von Untersuchungshaft, Einschränkung der Untersuchungshaft gegen Jugendliche (insbesondere gegen 14- und 15-Jährige) und Ausdehnung der notwendigen Verteidigung auf Fälle, in denen Untersuchungshaft gegen Jugendliche vollstreckt wird.

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Sieht man sich diese Veränderunsen an, wird man kaum von einer umfassenden Reform sprechen können, weil überwiegend nur die im Wege einer „inneren Reform“ veränderte Praxis gesetzlich abgesichert wird (freilich mit der Chance einer größeren Gleichbehandlung; vgl. Viehmann Die große Illusion, ZJJ 2010, 357-362). Der Wert des 1. JGGÄndG liegt eher in der kriminologischen Begründung und der klaren kriminalpolitischen Orientierung. Jugendkriminalität wird in erster Linie als entwicklungsbedingte Auffälligkeit und nicht als Erziehungsdefizit angesehen. Von daher ergibt sich die Forderung nach normalen Reaktionsformen auf ein normales Phänomen. Informelle Erledigung steht im Vordergrund. Neue ambulante Maßnahmen sollen die stationären Sanktionen weitgehend ersetzen, ohne dass sich die Rückfallwahrscheinlichkeit erhöht. Die schädlichen Nebenwirkungen von Untersuchungshaft, Jugendarrest und Jugendstrafe werden ausdrücklich genannt (BT-Drucks. 11/5829 v. 27.11.1989).

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Überblick zum 1. JGG-ÄndG:

Böhm NJW 1991, 534; Böttcher/Weber NStZ 1990, 561; NStZ 1991, 7; Heinz ZRP 1991, 183 und JuS 1991, 896; Jung JuS 1992, 186; Trenczek DVJJ-J 1990, 58 und NJ 1991, 195, 245, 288; Viehmann FuR 1991, 256.

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Die kriminologischen Erkenntnisse und die kriminalpolitische Orientierung im 1. JGG-ÄndG bilden eine tragfähige Basis für weitergehende und grundlegende Reformen. Der Gesetzgeber ist sich der Notwendigkeit entsprechender Reformschritte bewusst. Am 20.6.1990 hat deswegen der Deutsche Bundestag die Bundesregierung aufgefordert, bis zum 1.10.1992 den Entwurf des zweiten JGGÄndG vorzulegen, was aber nicht geschehen und mit dem Ende der Legislaturperiode gegenstandslos geworden ist. Lösungsvorschläge sollten insbesondere zu folgenden Problembereichen unterbreitet werden:


Die strafrechtliche Behandlung Heranwachsender;
das Verhältnis zwischen Erziehungsmaßregeln und Zuchtmitteln;
die Voraussetzungen für die Verhängung von Jugendstrafe;
die vermehrte Mitwirkung von Verteidigern im Jugendstrafverfahren;
die Gefahr der Überbetreuung Jugendlicher (Erziehungsgedanke/Grundsatz der Verhältnismäßigkeit);
Straftaten-Denken und Aufschaukelungs-Tendenzen in der Sanktionspraxis der Jugendgerichtsbarkeit;
die Stellung und Aufgaben der Jugendgerichtshilfe im Jugendstrafverfahren;
das Ermittlungs- und das Rechtsmittelverfahren;
die Aus- und Fortbildung von Richtern, Staatsanwälten und Rechtsanwälten in Bezug auf jugendstrafrechtliche Besonderheiten;
die verstärkt notwendige Berücksichtigung von Belangen junger Mädchen und Frauen in der Anordnung und Durchführung jugendrichterlicher Sanktionen;
Aufwertung des Täter-Opfer-Ausgleichs (Plenarprotokoll 11/216 vom 20.6.1990).

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Reformbedarf wird also fast ausschließlich in Verfahrensfragen und bei den Reaktionsmöglichkeiten und Tatfolgen gesehen. Ein solcher Ansatz wird als „Flucht ins Prozess- und ins Sanktionsrecht“ kritisiert (Ostendorf in: BMJ (Hrsg.), Jugendstrafrechtsreform durch die Praxis, 1989, 331).

Reformüberlegungen könnten aber bereits bei den Straftatvoraussetzungen ansetzen. Dann würde auch die Frage nach der Schaffung eines eigenständigen Deliktskatalogs und weitergehend die Frage nach einem selbstständigen Jugendkonfliktrecht aktuell. Sowohl national wie international wird aber überwiegend für die Trennung von Jugendhilfe einerseits und Jugendstrafrecht andererseits plädiert, freilich mit Weichenstellungen zur Jugendhilfe. Vorschläge für ein neues JGG sind von einer DVJJ-Kommission erarbeitet und auf dem Regensburger Jugendgerichtstag diskutiert worden (DVJJ-J 1992, 4 ff. u. DVJJ-J 1992, 271 ff.). Zu den Reformvorschlägen der AWO 1993 s. NK-Frommel 1994, 28 ff. Unter der Fragestellung, wie Jugendstrafrecht und Justiz männliche Herrschaft festigend werden der „Konstruktionsfehler“ und damit das Jugendstrafrecht als Jungenstrafrecht von Herz (KrimJ 1994, 296) kritisiert.


Zur Frage „Ist das deutsche Jugendstrafrecht noch zeitgemäß? Bedarf es und wenn ja welcher Veränderungen?“ sind beim 64. Deutschen Juristentag 2002 konkrete Reformvorschläge erarbeitet worden ausgehend von
dem Gutachten von H.-J. Albrecht
den Referaten von Landau, Ludwig und Streng und
den Ergebnissen der zweiten Jugendstrafrechtsreform-Kommission der DVJJ (Zwischenbericht DVJJ-J 2001, 345 ff.; Abschlussbericht DVJJ-Journal Extra 5, 2 02).
Anlass für weitere Gesetzesänderungen war eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 16.1.23010 in der § 51 Abs. 2 für mit Art. 6 Abs. 2 GG unvereinbar und damit für nichtig erklärt wurde. Die erforderliche Neuregelung ist im Rahmen des seit dem 31.12.2006 geltenden 2. JuMoG vom 22.12.2006 erfolgt.

Das sicherlich wichtigste Reformgesetz der letzten Jahre ist das 2. JGG-ÄndG vom 13.12.2007, in Kraft seit dem 1.1.2008, in dem erstmals in der Geschichte des Jugendstrafrechts 1923, 1943, 1953 und 1990 eine ausdrückliche Zielbestimmung verankert worden ist („vor allem erneuten Straftaten eines Jugendlichen oder Heranwachsenden entgegenwirken“). Zu nennen sind ferner das Gesetz zur Erweiterung jugendgerichtlicher Handlungsmöglichkeiten vom 4.9.2012, das Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebots im Recht der Sicherungsverwahrung vom 5.12.2012, das Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs vom 26.6.2013 (seit 1.1.2014 in Kraft), das Gesetz zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung vom 13.4.2017 (in Kraft seit 1.7.2017) und das seit dem 24.8.2017 geltende Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 17.8.2017 sowie das Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens vom 10.12.2019 (in Kraft seit 13.12.2019), vgl. auch die Auflistung im Vorwort V und VI.

Die Richtlinie (EU) 2016/800 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.5.2016 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind, ist durch das


Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren vom 9.12.2019 ( BGBl. I S. 2146; in Kraft seit 17.12.2019/1.1.2020) in nationales Recht umgesetzt worden, ebenso wie die Richtlinie (EU) 2016/1919 vom 26.10.2016 (sog. PKH-Richtlinie) durch das
Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 (BGBl. I S. 2128; in Kraft seit 13.12.2019).

5. Praktische Bedeutung

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Die Strafverfolgung gegenüber Jugendlichen und Heranwachsenden und damit die praktische Bedeutung des JGG zeigt sich bereits anhand der Polizeilichen Kriminalstatistik. Bei einer Wohnbevölkerung über 82 Mio. wurden 2018 = 6 054 330 Straftaten (ohne Verkehrs- und Staatsschutzdelikte) erfasst und 3 368 879 Fälle aufgeklärt (55,6 %). Unter den 2 051 266 Tatverdächtigen befanden sich 70 603 (= 3,4 %) Kinder, 177 431 (8,6 %) Jugendliche und 185 523 (= 9,0 %) Heranwachsende. Die Tatverdächtigen (TV)- und Tatverdächtigenbelastungszahlen (TVBZ) entwickelten sich in den vergangenen Jahren wie folgt:

Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik 2018.


Jugendliche
Jahr TV (insg.) %-Anteil TVBZ (Deutsche)
2001 298 983 13,1 7 416
2005 284 450 12,3 6 744
2009 254 205 11,3 6 993
2013 190 205 9,1 5 233
2015 218 025 9,2 4 604
2017 137 916 9,0 4 765
2018 177 431 8,6 4 765

Gegenüber 2017 betrug der Rückgang 2018 =6,8 % bei den Jugendlichen und 5,1 % bei den Heranwachsenden. Auch die registrierte Jugendgewalt (Jugendliche plus Heranwachsende in den vier Bereichen schwere und gefährliche Körperverletzung, Raub, Vergewaltigung, Mord/Totschlag) nach einem Anstieg 2015 jetzt 2018 mit 22.583 Tatverdächtigen (TV) wieder leicht rückläufig (TVBZ 725 gegenüber 728 im Vorjahr); Baier/Kliem Entwicklungstrends der Jugend Gewalt in Deutschland Im Hell- und Dunkelfeld, ZJJ 2019, 104-113.


Heranwachsende
Jahr TV (insg.) %-Anteil TVBZ (Deutsche)
2001 246 713 10,8 7 440
2005 247 450 10,7 7 795
2009 236 707 10,5 7 299
2013 188 670 9,0 6 354
2017 211 735 9,3 5 428
2018 185 523 9,0 5 312

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Die polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) 2009 enthält erstmals eine „echte“ Tatverdächtigenzählung, d.h., dass Tatverdächtige, die in mehreren Bundesländern auffällig geworden sind, bundesweit auch nur einmal erfasst werden.

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Gegenüber ihrem Bevölkerungsanteil sind also Jugendliche und Heranwachsende mit 8,6 bzw. 9,0 % doppelt bis dreifach überrepräsentiert. Insgesamt fielen 2018 7,0 % der deutschen Jugendlichen und 7,3 % der Heranwachsenden als tatverdächtig auf. Diese Tatsache ist dann nicht besorgniserregend, wenn man sich klar macht, dass


es sich überwiegend um Massen- und Bagatellkriminalität handelt,
jeder männliche Jugendliche schon einmal eine Straftat begangen hat, wie die Dunkelfeldforschung beweist,
Jugendkriminalität normal und ubiquitär ist,
Jugendkriminalität in der Regel entwicklungsbedingt ist und deswegen nur episodenhaften Charakter hat und
sich mit der Übernahme neuer Rollen in den Bereichen Ausbildung und Beruf, Partnerschaft und Familie wieder „auswächst“.

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Von daher ist es folgerichtig, wenn das Bundeskriminalamt schon von sich aus auf die Gefahr von Fehlinterpretationen dieses Zahlenmaterials hinweist. Bei den Delikten mit hoher Beteiligung von Kindern oder Jugendlichen handelt es sich meist um Bagatelldelikte oder weniger gravierende Straftaten wie Ladendiebstahl, Fahrraddiebstahl, Sachbeschädigung oder Leistungserschleichung, bei denen die statistische Entwicklung in erster Linie vom Anzeigeverhalten der Geschädigten oder Zeugen abhängt. Ausgehend von der Frage, ob Jugendkriminalität eher „Episode“ oder aber Symptom“ ist, betont das Bundeskriminalamt den vielfach eher spielerischen und häufig nur episodenhaften Charakter der Kinder- und Jugenddelinquenz, warnt aber gleichzeitig davor zu übersehen, dass eine Minderheit jugendlicher Tatverdächtiger (Intensivtäter) noch eine kriminelle Karriere vor sich hat“ (PKS 2009, 97). Unter jugendlichen Intensivtätern sind dabei nach einer Definition des Landeskriminalamtes Nordrhein-Westfalen Tatverdächtige zu verstehen, die mindestens zweimal im Berichtsjahr polizeilich mit insgesamt mehr als fünf Straftaten in Erscheinung getreten sind. Zu dieser Gruppe zählen etwa 3 bis 5 % der Tatverdächtigen, die je nach Deliktstyp für über 30 bis zu 50, der in ihrer Altersgruppe registrierten Kriminalität verantwortlich sind (vgl. allgemein zu Mehrfachtätern und der Notwendigkeit, gerade diese problematische Gruppe nicht zusätzlich abzustempeln und auszugrenzen: DVJJ (Hrsg.), Mehrfach Auffällige – mehrfach Betroffene, Erlebnisweisen und Reaktionsformen, 1990j ZJJ 2003, S. 152 ff.; Müller/Bermann ZJJ 2004, 145 ff.; Lütkes/Rose ZJJ 2005, 63 ff. Drenkhahn FPR 2007, 24 ff.; Sonnen FPR 2007, 23 f. u. StV 2005, 94; DVJJ-Landesgruppe Brandenburg (Hrsg.), Erfolgreiches Arbeiten mit Intensivtätern, DVJJ-Extra 7, 2007; Holthusen FPR 2013, 417; Boers MschrKrim 2019, 3 ff.

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Bei jugendlichen und heranwachsenden Tatverdächtigen ergab sich folgende Altersstruktur bei den Straftatgruppen 2018 in Prozent:

Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik 2018, 103 f.


Jugendliche Heranwachsende
m. w. m. w.
1. Diebstahl ohne 14,2 18,1 8,9 6,8
unter erschwerenden Umständen 14,7 14,7 11,7 9,6
2. Sachbeschädigung 16,5 14,2 12,0 7,8
3. einfache KV 7,3 9,4 8,4 7,8
4. gefährl. & schw. KV 12,1 13,3 13,8 8,4
5. Betrug 4,7 6,0 9,7 9,1
6. Rauschgiftdelikte 12,0 18,0 18,0 15,7
7. Raubdelikte 20,3 19,3 16,9 11,1
8. Straftaten insgesamt 8,3 9,6 9,5 7,5

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In der Öffentlichkeit entsteht über die Medien ein völlig anderes Bild, das – verkürzt – zu folgender Gleichsetzung führt: Jugendkriminalität = Gewaltkriminalität, gewaltbereite Jugend = kriminelle Jugend, kriminelle Jugend = Jugend, Diese Gleichsetzung bedeutet ein Höchstmaß an Ausgrenzung. Wie die Deliktsstruktur belegt, besteht hingegen kein Anlass zur Dramatisierung. Zudem wird in den Medien regelmäßig der Eindruck erweckt, die Kriminalität junger Menschen steige stetig und in erheblichem Maße. Demgegenüber finden sich im „Hellfeld“ seit etwa 1998 deutliche Rückgänge bei den Eigentumsdelikten ebenso wie bei den schwerwiegenden Gewaltdelikten. Anstiege sind im Bereich der Gewaltdelikte bei der Körperverletzung sowie bei den Betäubungsmitteldelikten (vornehmlich im Zusammenhang mit Cannabis) zu verzeichnen. Darüber hinaus weisen die Erkenntnisse der neueren Dunkelfeldforschung darauf hin, dass ein wesentlicher Teil des Anstiegs der polizeilich registrierten Kriminalität von Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden auf eine erhöhte Anzeigebereitschaft gegenüber diesen und eine gestiegene Aufmerksamkeit hinsichtlich des Phänomens Jugendkriminalität zurückzuführen ist (vgl. dazu BMI/BMJ (Hrsg.), zweiter Periodischer Sicherheitsbericht, S. 354: „Eine Zunahme gravierender Formen der Delinquenz junger Menschen in Gestalt von erhöhten Zahlen von Mehrfach- und Intensivtätern lässt sich nicht nachweisen“). Angesichts dieser empirisch gesicherten Erkenntnis der kriminologischen Sanktionsforschung ist der durch die Medien verstärkte Ruf nach mehr Härte (mehr und längere Jugendstrafen, weniger Bewährung, Einschränkung von Vollzugslockerungen, häufiger Jugendarrest) im Sinne neuer Straflust/neuer Punitivität umso unverständlicher (Lautmann/Klimke/Sack Punitivität, 8, Beiheft, KrimJ 2004; Sack Symbolische Kriminalpolitik und wachsende Punitivität, in: Dollinger/Schmidt Semisch (Hrsg.), Handbuch Jugendkriminalität, 2010, 63-89 unter Bezug auf Garland The Culture of Control. Crime and Social Order in Contemporary Society, 2001).

In Gesetzgebung und Strafrechtsanwendung sind nur punktuell Tendenzen einer stärkeren punitiven Orientierung festzustellen, eine allgemeine Trendwende erhöhter Straflust lässt die Sanktionierungspraxis aber nicht erkennen (Cornel Neue Punitivität, 2013; Dünkel Werden Strafen immer härter?, in: Bannenberg/Jehle (Hrsg,), Gewaltdelinquenz, 2011, 208-243; Heinz Zunehmende Punitivität in der Praxis des Jugendkriminalrechts? in: BMJ, Jenaer Symposium, 2009, 29-80; Neubacher ZJJ 4/2011, 433 mit drei Beobachtungen – Jugendkriminalpolitik hat kein Zukunftsprojekt und lässt sich treiben, der Reformgeist des ersten JGGÄndG ist verflogen, für eine grundlegende Kursänderung im Jugendkriminalrecht gibt es keine Gründe – vor dem Hintergrund von Brüchen und Verwerfungen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen; Schwerpunktheft Punitivität, ZJJ 2/2012).

Ein Gemeinschaftsprojekt des Bundesministeriums des Innern und des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) in Form einer deutschlandweiten Dunkelfeldbefragung unter 44 610 Schülern der neunten Jahrgangsstufe zeigt zur Jugendgewalt überwiegend positive Trends und relativiert die Aussagekraft der Polizeilichen Kriminalstatistik (Baier/Pfeiffer u.a. Jugendliche in Deutschland als Opfer und Täter von Gewalt, ZJJ 2009, 112-119: In den letzten zwölf Monaten 83,2 % ohne persönliche Gewalterfahrung, seit 1998 gleichbleibende bis rückläufige Entwicklung der Jugendgewalt; ausländerfeindliches, antisemitisches oder rechtsextremistisches Weltbild nur bei einer kleinen Minderheit von Jugendlichen – in einigen Gebieten allerdings alarmierend hoch). Stärkster Risikofaktor von Jugendgewalt ist die Einbindung in delinquente Gruppen, weitere Risikofaktoren sind der Konsum von Alkohol und illegalen Drogen sowie soziale Belastungen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Vgl. BMI (Hrsg.), Muslime in Deutschland, 2007 (mit Untersuchungen von Brettfeld und Wetzels zur Gewalteinstellung, S, 175-192); BT-Drucks. 16/13300 vom 10.6.2009: Erster Integrationsindikationsbericht (S. 124 Gewaltkriminalitätsquoten, S. 127 Kriminalität, Gewalt und Diskriminierung); Bannenberg Kriminalität bei jungen Migranten, in: BMJ (Hrsg.) 2009, 155-185; Holthusen Straffällige männliche Jugendliche mit Migrationshintergrund – eine pädagogische Herausforderung, in: BMJ (Hrsg.) 2009, 203-232; Kemme Die kulturelle Sozialisation als Determinante delinquenten Verhaltens- und Suchtmittelumgangs bei westlichen und muslimischen Jugendlichen, MschrKrim 2010, 126-146; Usculan Riskante Bedingungen des Aufwachsens: Erhöhte Gewaltanfälligkeit junger Migranten?, in: BMJ (Hrsg.) 2009, 187-202; Wetzels Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund – kriminologische Perspektiven, FPR 2007, 36-46; Kemme/Kolberg Religiosität und Delinquenz bei einheimischen Muslimen und Christen: Welche Rolle spielt die Geschlechtsrollenorientierung? ZJJ 2013, 4-12; Schwerpunkt Junge Menschen mit Migrationshintergrund, ZJJ 1/2013; zu den Phänomenen von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, Rechtsextremismus und Antisemitismus vgl. die Sachverhalte in den Entscheidungen BGH NJW 1994, 395 = NK 1994, 41; StV 1994, 654; NStZ 1994, 584; NStZ-RR 1996, 35, NStZ 1999, 129 und BGH v. 30.3.2004 (5 StR 410/03) und den Schwerpunkt „Rechtsextremismus“ in ZJJ 2/2010. Auch: Cornel/Dünkel/Pruin/Sonnen/Weber Die Integration von Flüchtlingen als kriminalpräventive Aufgabe – Ein kriminologischer Zwischenruf, NK 2015, 325-330.