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III. Sachlicher Anwendungsbereich

1. Verfehlung

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Unter Verfehlung ist eine rechtswidrige Tat zu verstehen. Für die fünf neuen Bundesländer war der Begriff der „Verfehlung“ ausdrücklich durch den der „rechtswidrigen Tat“ ersetzt worden, um Missverständnisse zu vermeiden, da die Verfehlungen nach § 4 StGB-DDR eine eigenständige Deliktskategorie unterhalb von Verbrechen und Vergehen bildeten; seit dem Gesetz vom 8.12.2010 nicht mehr anzuwenden.

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Nach § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB sind rechtswidrige Taten nur solche, die den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklichen. Gemeint sind Verbrechen und Vergehen nach dem StGB, dem Nebenstrafrecht und nach landesrechtlichen Strafbestimmungen (= allgemeine Vorschriften i.S.v. § 1 Abs. 1). Ordnungswidrigkeiten sind also keine Verfehlungen. Nach Nr. 1 RiJGG zu § 1 gelten die Vorschriften des JGG für das Bußgeldverfahren aber sinngemäß, soweit das Gesetz über Ordnungswidrigkeiten nichts anderes bestimmt (§ 46 Abs. 1 OWiG; vgl. BayObLG NJW 1972, 837 und allgem. Bohnert Ordnungswidrigkeiten u. Jugendrecht, 1989). Ebenfalls keine Verfehlungen sind Verhaltensweisen, die nach StPO, GVG, ZPO und FamFG mit Ordnungsgeld oder -haft sanktioniert werden können, vgl. § 33 Rn. 22 f. Ordnungsmaßnahmen gegenüber Kindern dürfen nicht verhängt werden (BVerfGE 20, 323, 331 u. 58, 159). Dass nach OLG Düsseldorf FamRZ 1973, 547 eine Vorführung von Kindern zulässig sein soll, vermag unter Verhältnismäßigkeitsaspekten nicht zu überzeugen (Ostendorf § 1 Rn. 10). Eltern können nicht gezwungen werden, ihre Kinder als Zeugen vor Gericht erscheinen zu lassen (OLG Hamm NJW 1965, 1613).

2. Geltung

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Das JGG gilt auch für nichtdeutsche Jugendliche und Heranwachsende und Auslandstaten, sofern die Voraussetzungen der § § 3 bis 7 StGB gegeben sind. Auf Grund unterschiedlicher Strafmündigkeitsgrenzen (vgl. Dünkel Entwicklungen der Jugendkriminalität und des Jugendstrafrechts in Europa – ein Vergleich, in: Riklin (Hrsg.), Jugendliche, die uns Angst machen. Was bringt das Jugendstrafrecht?, 2003, S. 80 und Dünkel u.a. Juvenile Justice Systems in Europe Vol. 4, 2010, 1821) können sich im internationalen Rechtshilfeverkehr Probleme ergeben. Ein Rechtshilfeersuchen, das einen zur Tatzeit 13-Jährigen betrifft (OLG Stuttgart NJW 1985, 573) soll ebenso zulässig sein wie ein Ersuchen um richterliche Vernehmung eines im Ausland angeklagten 11-Jährigen (OLG Schleswig NStZ 1989, 583, m. Anm. W. Walter). Gegen beide Entscheidungen ergeben sich Bedenken aus den §§ 3 Abs. 11, 73 u. 83 Nr. 2 IRG.

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Zur Frage der Auslieferung junger Ausländer ist § 9 IRG, bei der Vollstreckung rechtskräftiger Entscheidungen gegenüber Deutschen sind die § § 48, 49 IRG und bei der Umwandlung vollstreckbarer ausländerrechtlicher Sanktionen in jugendrechtliche Rechtsfolgen ist § 54 Abs. 1 IRG zu beachten (Überblick in § 31 Rn. 8 und in § 41 Rn. 3).

§ 2 Ziel des Jugendstrafrechts; Anwendung des allgemeinen Strafrechts

(1) 1Die Anwendung des Jugendstrafrechts soll vor allem erneuten Straftaten eines Jugendlichen oder Heranwachsenden entgegenwirken. 2Um dieses Ziel zu erreichen, sind die Rechtsfolgen und unter Beachtung des elterlichen Erziehungsrechts auch das Verfahren vorrangig am Erziehungsgedanken auszurichten.

(2) Die allgemeinen Vorschriften gelten nur, soweit in diesem Gesetz nichts anderes bestimmt ist.

Kommentierung

I.Ziel und Anwendungsbereich1, 2

II.Vorrangige Sondervorschriften des JGG3 – 18

1.Straftatvoraussetzungen3 – 11

2.Rechtsfolgen der Tat12, 13

3.Strafverfahren14

4.Allgemeine Grundsätze15 – 18

III.Allgemeine Vorschriften19 – 21

1.Strafrechtsvorschriften19

2.Ordnungswidrigkeiten20

3.Verwaltungsvorschriften21

Literatur:

Cornel Der Erziehungsgedanke im Jugendstrafrecht – historische Entwicklungen, in: Dollinger/Schmidt-Semisch (Hrsg.), 2018, 533-558; Cornel zum Begriff der Resozialisierung, in: Cornel/Kawamura-Reindl/Sonnen (Hrsg.), 4. Aufl. 2018, 31-62; DVJJ (Hrsg.), Herein-, Heraus-, Heran – junge Menschen wachsen lassen, 30. Deutscher Jugendgerichtstag 2017 in Berlin, 2019; DVJJ (Hrsg.), Verantwortung für Jugend – Perspektiven und Qualitätssicherung in der Jugendkriminalrechtspflege, 26. Deutscher Jugendgerichtstag 2004 in Leipzig, 2006; DVJJ (Hrsg.), Fördern, Fordern, Fallenlassen, 27. Deutscher Jugendgerichtstag 2007 in Freiburg, 2009; DVJJ (Hrsg.), Achtung für Jugend – Praxis und Perspektiven des Jugendkriminalrechts, 28. Deutscher Jugendgerichtstag 2010 in Münster, 2011; DVJJ (Hrsg.), Jugend ohne Rettungsschirm. Herausforderungen annehmen, 29. Deutscher Jugendgerichtstag 2013 in Nürnberg, 2015; Eisenberg Probleme des Jugendstraf- und Jugendstrafverfahrensrechts, NJW 2010, 1507; Goerdeler Das Ziel der Anwendung des Jugendstrafrechts, ZJJ 2008, 137–147; Heinz, W. Sekundäranalyse empirischer Untersuchungen zu jugendkriminalrechtlichen Maßnahmen, deren Anwendungspraxis, Ausgestaltung und Erfolg (Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Justiz und Verbraucherschutz), 2019; Heinz, W. Das strafrechtliche Sanktionensystem und die Sanktionierungspraxis in Deutschland 1882 bis 2008, 2010; Jehle/Albrecht/Hohmann-Fricke/Tetal Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen. Eine bundesweite Rückfalluntersuchung 2010 ibs 2013 und 2004 bis 2013, BMJV 2016; Jehle/Heinz/Sutterer Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen. Eine kommentierte Rückfallstatistik, BMJ 2003; Jehle /Albrecht/Hohmann-Fricke/Tetal Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen – Eine bundesweite Rückfalluntersuchung 2007 bis 2010 und 2004 bis 2010, BMJ 2013; Knauer Europäische Menschenrechtskonvention, ZJJ 2019, 39-49 Lösel/Bender/Jehle (Hrsg.), Kriminologie und wissensbasierte Kriminalpolitik – Entwicklungs- und Evaluationsforschung, 2007; Meier What works? Die Ergebnisse der neueren Sanktionsforschung aus kriminologischer Sicht, JZ 2010, 112–120; Rössner u.a. Düsseldorfer Gutachten: Empirisch gesicherte Kenntnisse über kriminalpräventive Wirkungen, 2002; Schruth Rechtliche Grenzen strafender Pädagogik im staatlichen Auftrag, ZKJ 2010, 181–188; Sherman, L. et al. Preventing Crime: What works, what doesn‘t, what‘s promising, 1997; Sherman, L. et al. Evidence-Based Crime Prevention, 2002; Sonnen Jugendkriminalpolitik zwischen Glauben und Wissen, StV 2005, 94–99; Sonnen/Guder/Reiners-Kröncke Kriminologie für Soziale Arbeit und Jugendstrafrechtspflege, 2007; Streng Ansätze zur Gewaltprävention bei Kindern und Jugendlichen, ZIS 2010, 227–235; Walsh Der Umgang mit jungen „Intensivtätern“. Ein Review zu kriminalpräventiven Projekten in Deutschland unter Wirksamkeitsgesichtspunkten, ZJJ 2017, 28-46; Walter, M. Beiträge zur Erziehung im Jugendkriminalrecht, 1989; Winkler Erziehung sinnlos? – Zum sozialpädagogischen Umgang mit jungen Mehrfachauffälligen, in: BMJ (Hrsg.) 2009, S. 135–151.

I. Ziel und Anwendungsbereich

1

§ 2 Abs. 1 enthält erstmals in der Geschichte des JGG eine ausdrückliche Zielbestimmung. Ziel des Jugendstrafrechts ist es, erneuten Straftaten entgegenzuwirken, also Rückfallkriminalität von Jugendlichen und Heranwachsenden zu vermeiden. Die Formulierung „vor allem“ lässt Raum für weitere Reaktionsüberlegungen wie Normverdeutlichung (vgl. § 13) und Schuldausgleich (vgl. § 17 Abs. 2, 2. Var.). Ausgeschlossen bleiben Aspekte der negativen Generalprävention, der Abschreckung anderer (BT-Drucks. 16/6293, 10), wie sich aus dem Wortlaut ergibt, dass erneuten Straftaten eines und nicht von Jugendlichen und Heranwachsenden entgegengewirkt werden soll. Unzulässig ist die eigenständige Verfolgung generalpräventiver Zwecke, auch wenn etwa normverdeutlichende Nebeneffekte nicht auszuschließen sind (Streng § 1 Rn. 15-23).

Der Weg zur Zielerreichung ist „vorrangig“ der Erziehungsgedanke. „Vorrangig“ weist darauf hin, dass sich nicht hinter jeder Straftat eines jungen Menschen ein Erziehungsdefizit verbirgt. Nicht immer ist ein erzieherischer Bedarf gegeben. Die Frage, ob durch die ausdrückliche Zielbestimmung der Legalbewährung die Kritik „am diffusen Inhalt des Erziehungsprinzips“ ausgeräumt ist, hat die Bundesregierung dahingehend beantwortet, dass das Ziel eines künftigen Lebens ohne Straftaten dem Maß und der Gestaltung der erzieherischen Einwirkung „klare Konturen“ gibt und zugleich Grenzen setzt (BT-Drucks. 16/13142, 6, 7). In der Tat bedarf es an dieser Stelle keiner Stellungnahme dazu, ob der Erziehungsgedanke pädagogisch, psychologisch, soziologisch oder juristisch zu verstehen ist (Erziehung „durch“, „statt“ oder „als“ oder „nach“ Strafe). Erziehung meint positive Individual-(Spezial-)Prävention, setzt auf soziale Integration und orientiert sich an § 1 SGB VIII (Recht auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit), wobei der Akzent auf Eigenverantwortlichkeit und Gemeinschaftsfähigkeit zu setzen ist (zum Problem „Werte und Gesellschaft“ Schumacher ZJJ 2008, 374–378); Herrmann/Dölling Kriminalprävention und Wertorientierungen in komplexen Gesellschaften, 2001; Herrmann Werte und Kriminalität, 2003; Herrmann/Dölling/Resch Zum Einfluss elterlicher Werteerziehung und Kontrolle auf Kinderkriminalität, in: FS Wolfgang Heinz, 2012, S. 398-414).

Der Erziehungsgedanke diente 1923 der Ablösung der absoluten Straftheorie des Schuldausgleichs und der Vergeltung, 1943 dem NS-ideologischen Menschenbild und 1953 der fürsorgerischen Orientierung im JWG. 1990 ist die sozialpädagogische Leitfunktion in § 1 SGB VIII als Recht auf Förderung und Erziehung verankert worden, freilich nicht als subjektives Recht, sondern als Grundorientierung mit Konsequenzen auch für das Jugendstrafrecht über die §§ 12, 38 JGG, 52 SGB VIII (Mitwirkung der Jugendhilfe in Verfahren nach dem Jugendgerichtsgesetz als andere Aufgabe neben Leistungen zugunsten junger Menschen und Familien). Die am Kindeswohl ausgerichteten Ziele der Förderung der individuellen und sozialen Entwicklung, der Vermeidung und des Abbaus von Benachteiligungen, die Unterstützung der Eltern sowie die angestrebte Verwirklichung, Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen, dazu beizutragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu schaffen oder zu erhalten, reichen wesentlich weiter als, erneuten Straftaten eines Jugendlichen oder Heranwachsenden entgegenzuwirken. Der in Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/800 neuformulierte § 38 Abs. 2 nimmt ausdrücklich Bezug auf die im Hinblick auf die Ziele und Aufgaben der Jugendhilfe bedeutsamen Gesichtspunkte („Jugendhilfe vor Strafrecht“, Trenczek). Im Zusammenhang mit dem Recht auf individuelle Begutachtung werden in der europäischen Richtlinie als besondere Bedürfnisse von Personen unter 18 Jahren Schutz, Erziehung, Ausbildung und soziale Integration genannt (Artikel 7 Abs. 1). Ein Überblick über die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) in jugendkriminalrechtlichen Fragen wie zur erzieherischen Orientierung ist für Knauer Anlass für weitergehende Überlegungen zu einem neuen Erziehungsbegriff, entwickelt über die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Rechts der Europäischen Union (Knauer ZJJ 2019, 39-41).

Gegenwärtig ist Erziehung selbst nicht Ziel und Anliegen des Jugendstrafrechts, sondern Orientierungshilfe bei der Interpretation der im JGG verwendeten Begriffe „erzieherische Einwirkung“, „aus Gründen der Erziehung“ oder „erhebliche erzieherische Nachteile“. Gemeint sind erzieherische Mittel zur Zielerreichung nicht nur als äußere Reaktion, sondern auch innerlich verbunden mit positiven Einstellungen wie Unrechtseinsicht und Normakzeptanz (BT-Drucks. 16/6293, 9). Ein in sich geschlossenes System der Ausrichtung des Erziehungsgedankens für das Verfahren unter dem Vorbehalt des elterlichen Erziehungsrechts und für die Rechtsfolgen hat Rössner entwickelt (Meier/Bannenberg/Höffler 4. Auflage, 2019, S. 1-30 – Rössner/Bannenberg). Verfassungsrechtlicher Ausgangspunkt ist das als Resozialisierung bezeichnete Vollzugsziel der sozialen Integration bzw. das Erziehungsziel im Jugendstrafrecht unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Schutzfunktion. „Zwischen dem Integrationsziel des Vollzuges und dem Anliegen, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen, besteht insoweit kein Gegensatz“ (BVerfG Urt. v. 31.5.2006, NJW 2006, 2093 ff = ZJJ 2006, 193 ff.). Eine gelingende soziale Integration ist der beste Schutz potentieller Opfer und wird der Sicherungsaufgabe als Hauptziel neben der Erziehung gerecht. Für die Gesellschaft ergibt sich die Verpflichtung, für die Sozialisation junger Menschen Rücksicht auf ihre noch nicht abgeschlossene Entwicklung zu nehmen und bei den Rechtsfolgen sich an den Grundsätzen von Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit zu weniger ausgrenzenden Reaktionsformen zu orientieren wie Jugendhilfe vor Strafrecht, informell statt formell, ambulant statt stationär. Für Jugendliche und Heranwachsende geht es darum, Verantwortung zu übernehmen auf dem Weg zu einer gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Das Leitprinzip „Verantwortung“ gilt insoweit doppelt (Streng § 1 Rn. 23) und gehört für Rössner zum Aufgabenfeld des Normenlernens. Die Einschränkung, „vor allem“ erneuten Straftaten entgegen zu wirken in Satz 1, erlaubt bei der Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld auch Aspekte des Schuldausgleichs zu berücksichtigen, ohne die erzieherische Orientierung ganz aus der Zumessung zu verbannen. Nach der Gesetzesbegründung zu § 2 ist die negative Generalprävention als Nebenziel ausgeschlossen und die positive Generalprävention zwar kein Nebenziel, wohl aber ein erwünschter Nebeneffekt.

Die Mittel zur Zielerreichung sind nach Satz 2 „vorrangig“ am Erziehungsgedanken auszurichten, gemeint als empirisch gesicherte Erkenntnisse kriminologischer, pädagogischer, jugendpsychologischer und anderer fachlicher Forschung, zugleich als Ergänzung zu § 37 bei der Auswahl der Jugendrichter und Jugendstaatsanwälte gedacht (BT-Drucks. 16/6293, 10). Der Erziehungsbegriff orientiert sich an interdisziplinären Erkenntnissen zur Sozialisation junger Menschen im Teilbereich der sozialen Kontrolle und an der Wirklichkeit des Normlernens (Rössner a.a.O., § 1 Rn. 15 und 17:

„Jugendstrafrecht ist zu beschreiben als staatliche Institution des Normlernens, die erzieherische und sanktionierende Mittel unter Berücksichtigung außerstrafrechtlicher Formen der sozialen Kontrolle einsetzt und so in das Gesamtgeschehen des sozialen Normlernens eingebunden ist“). Nur der weite Erziehungsbegriff werde der „Multifunktionalität“ gerecht und könne das sozialpädagogische Potential des Jugendhilferechts gemäß §§ 3 S. 2, 12, 38 Abs. 2, 45 Abs. 2 S. 1 berücksichtigen (Vorgabe der Subsidiarität jugendstrafrechtlicher Sanktionen).

Allg. zum Erziehungsgedanken: Cornel Der Erziehungsgedanke im Jugendstrafrecht: Historische Entwicklungen in: Dollinger/Schmidt-Semisch (Hrsg.), Handbuch Jugendkriminalität, 2018, 533; Pieplow Erziehungsgedanke – noch einer, in: GS Walter 2014, S. 341-357; ders. Erziehung als Chiffre, in: Walter (Hrsg.), Beiträge zur Erziehung im Jugendstrafrecht, 1989, 511; ders. Der Erziehungsgedanke im Jugendgerichtsgesetz – Einführung zu Francke (1927), ZJJ 2018, 48-56. Schrapper L. Zum Verhältnis von Erziehung und Strafe – 15 Thesen, ZJJ 3/2014, 285-288; Schwerpunkt Erziehen und Strafen, ZJJ 1/2014.

Hinsichtlich eines erzieherisch gestalteten Jugendstrafverfahrens ist das elterliche Erziehungsrecht zu beachten. Erzieherische Möglichkeiten mit zwingendem Charakter dürfen aus verfassungsrechtlichen Gründen das Elternrecht nicht zurückdrängen. Allerdings sind die Elternrechte durch die Verpflichtung zur Rechtstreue begrenzt. Wird das Wohl des Kindes gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder in der Lage, die Gefahr abzuwenden, trifft das Familiengericht gem. § 1666 BGB die erforderlichen Maßnahmen zur Abwendung der Gefahr. Art und Ausmaß des zulässigen Eingriffs bestimmen sich danach, was im Interesse des Kindes geboten ist (BVerfGE 24, 119 [145] = NJW 1968, 2233); zudem kann die Ausübung des Elternrechts durch den Staat – soweit die Wahrnehmung von Erziehungsrechten in einem Jugendstrafverfahren betroffen ist – auch zum Schutz kollidierender Grundrechte Dritter sowie anderer mit Verfassungsrang ausgestatteter Rechtswerte mit Rücksicht auf die Einheit der Verfassung begrenzt werden (BVerfGE 107, 104 [118] = NJW 2003, 2004); zur Durchsetzung dieser Verfassungsaufgabe (BVerfGE 107, 104 [119] = NJW 2003, 2004) ist die staatliche Strafrechtspflege grundsätzlich nicht gehindert, auch in das elterliche Erziehungsrecht einzugreifen (RhPfVerfGH Beschl. v. 13.7.2012 – VGH B 10/12 = FPR 2013, 447).

§ 2 Abs. 1 beschränkt sich nicht auf normative Erwägungen, sondern verlangt in erster Linie empirische Einschätzungen und die Berücksichtigung gesicherter empirischer Erkenntnisse der kriminologischen Sanktionsforschung. Die Vorschrift steht insoweit in Zusammenhang mit dem kriminologischen, soziologischen, pädagogischen und jugendpsychologischen Anforderungsprofil in § 37 für Juristinnen und Juristen in der Jugendgerichtsbarkeit. (Größere Verbindlichkeit war geplant in § 37 JGG-E im RE „Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellem Missbrauchs [StORMG]“ v. 7.12.2010, aber nicht Gesetz geworden). Es bleibt aber die Pflicht, Wirkungszusammenhänge zu berücksichtigen und empirisch gesicherte Einschätzungen in den Vordergrund der Beantwortung der Frage zu stellen, was der Zielerreichung der Legalbewährung dient (BT-Drucks. 16/6293, 10). Schlagwortartig geht es um eine „sozialintegrative“ und „evidenz-basierte Orientierung“ der Anwendung des Jugendstrafrechts in (J)Strafverfahren.

2

Die Vorschrift gilt für die Strafverfolgung von Jugendlichen und Heranwachsenden, und zwar sowohl vor Jugendgerichten als auch vor den für allgemeine Strafsachen zuständigen Gerichten (§§ 104 Abs. 1 Nr. 1, 112). § 2 Abs. 2 korrespondiert mit § 10 StGB, nach dem für Taten von Jugendlichen und Heranwachsenden das StGB nur gilt, soweit im JGG nichts anderes bestimmt ist. Es geht um die Abgrenzung zwischen dem Sonderstrafrecht für junge Menschen und dem allgemeinen Strafrecht. Ziel der Vorschrift ist insoweit die Klarstellung und zugleich die Sicherung des Vorranges der Sondervorschriften für Jugendliche und Heranwachsende.

II. Vorrangige Sondervorschriften des JGG

1. Straftatvoraussetzungen

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Auf der Ebene der Straftatvoraussetzungen stellt § 3 JGG die einzige Sondervorschrift gegenüber dem allgemeinen Strafrecht dar. Danach ist die strafrechtliche Verantwortlichkeit Jugendlicher positiv festzustellen. Mangels Sonderregelungen bleiben die Tatbestände des BT des StGB und aus dem AT die Abschnitte 1, 2, 4 und 5, die das Strafgesetz, die Tat, Strafantrag, Ermächtigung, Strafverlangen und Verjährung betreffen, anwendbar, ausgenommen ist also nur der 3. Abschnitt zu den Rechtsfolgen der Tat.

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Auf dieser Ebene wird besonders deutlich, wie wenig der Gesetzgeber Chancen für Reformmöglichkeiten genutzt hat. Hier setzt die Kritik an der Flucht in das Verfahrens- und Sanktionenrecht an (Ostendorf in: BMJ (Hrsg.), Jugendstrafrechtsreform durch die Praxis, 1989, 331). Die Schaffung neuer Sondervorschriften im JGG würde die Anwendung des allgemeinen, mitunter nicht jugendgemäßen Strafrechts zurückdrängen. Denkbar wäre eine Heraufsetzung der Strafmündigkeitsgrenze von 14 auf 16 oder gar 18 Jahre. Nach dem 1973 vorgelegten Diskussionsentwurf eines Jugendhilfegesetzes sollte ausgehend von der Überlegung, dass eine Unterscheidung zwischen Jugendverwahrlosung (Dissozialität) und Jugendkriminalität (Delinquenz) angesichts vergleichbarer Entstehungszusammenhänge nicht gerechtfertigt erscheint, bei den unter 16-Jährigen auf den Einsatz von (Jugend-)Strafrecht zu Gunsten eines ausschließlich am Erziehungsgedanken orientierten neuen und erweiterten Jugendhilfegesetzes verzichtet werden. Auch bei Straftaten in der Altersgruppe der 16- bis unter 18-Jährigen war nur ausnahmsweise die Anwendung des JGG vorgesehen, und zwar bei bevorstehender oder inzwischen erreichter Volljährigkeit, bei Verfehlungen, die nach dem allgemeinen Strafrecht mit Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren bedroht sind, und schließlich bei der Anordnung der Aufnahme in ein sozialtherapeutisches Jugendzentrum auf Grund schwerer oder häufig wiederholter strafbarer Verhaltensweisen (§ 11 DE-JHG 1973). Der Diskussionsentwurf, der auf den von Karl Peters 1965 auf dem Jugendgerichtstag in Münster unterbreiteten Vorschlägen für ein erweitertes Jugendhilferecht und der von der Arbeiterwohlfahrt 1970 erarbeiteten Stellungnahme beruhte, wurde 1974 durch einen Referentenentwurf abgelöst, der das strafrechtsersetzende Konzept schon nicht mehr weiterverfolgte (vgl. allgemein zu den Möglichkeiten der Jugendhilfe zur Einschränkung jugendstrafrechtlicher Konfliktlösungen: Müller-Dietz in: FS Pongratz, 1986, S. 102). Das Bundesministerium der Justiz hat auf eine Große Anfrage zur Reform des Jugendgerichtsverfahrens im Dezember 1986 erklärt, dass an eine Anhebung der Strafmündigkeitsgrenze auf die Vollendung des 16. Lebensjahres nicht gedacht sei (BT-Drucks. 10/6739, 28).

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Denkbar wäre auch eine Heraufsetzung der Bestrafungsmündigkeitsgrenze auf 16 Jahre. Bestrafungsmündigkeit ist der gegenüber der Strafmündigkeit engere Begriff, der festlegt, von welchem Alter an Jugendstrafe verhängt und vollzogen werden darf. Die Konferenz der Jugendminister und -senatoren hatte 1980 beschlossen, wenn schon nicht die Strafmündigkeits- so doch wenigstens die Bestrafungsmündigkeitsgrenze anzuheben, um 14- und 15-Jährige aus dem Vollzug herauszunehmen – eine Forderung, die von der Konferenz der Justizminister und -senatoren 1981 einstimmig abgelehnt worden ist. Eine auch als Folge dieser Kontroverse vom Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit in Auftrag gegebene Studie zur tatsächlichen Situation der genannten Altersgruppe im Strafvollzug führte zu folgendem Ergebnis:

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„Wollte man die Gruppe der 14- bis 16-Jährigen aus dem Strafvollzug herausnehmen, so wäre es notwendig, zeitlich und lokal vor den Mauern ein Angebot an sozialen Diensten zur Verfügung zu stellen, das mit nichtrepressiven Methoden den Jugendlichen reale Lebensmöglichkeiten eröffnet und gleichzeitig zum Abbau überindividueller kriminogener bzw. kriminalisierender Strukturen beiträgt. Bleiben Alternativen hinter diesen grob skizzierten Minimalforderungen zurück, so werden nach unserer Ansicht die 14- bis 15-jährigen Strafgefangenen die jüngsten und zugleich hoffnungslosesten Rekrutierungsjahrgänge für den Fortbestand gesellschaftlich produzierter Abweichungen bleiben“ (P.A. Albrecht/Schüler-Springorum (Hrsg.), Jugendstrafe an 14- und 15-Jährigen, 1983, S. 16).

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Der Gesetzgeber hat bisher nur zögerlich reagiert, immerhin aber im 1. JGG-ÄndG 1990 den Ausbau informeller Erledigungsmöglichkeiten und die Ersetzung stationärer Sanktionen durch neue ambulante Maßnahmen ermöglicht. Die Schaffung eines eigenständigen Jugendkonfliktrechts und eines Jungtäterstrafrechtes für die Altersgruppe von 18-25 (oder 27) Jahren (dazu Asbrock ZRP 1977, 191) werden auf der Gesetzgebungsebene gegenwärtig aber nicht diskutiert. Zu neueren Reformvorschlägen vgl. die Ergebnisse des Regensburger Jugendgerichtstages (DVJJ-J 1992, 271; zur DVJJ-Kommission 1992, 4) und AWO 1993 (NK 1994, 28 – Frommel/Maelicke) sowie das Gutachten von H. J. Albrecht zum 64. DJT 2002 und die Vorschläge der Zweiten Jugendstrafrechtsreform-Kommission der DVJJ, DVJJ-Extra Nr. 5, 2002.

In der 17. Legislaturperiode sind die seit dem 1.1.2011 geltende Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und das Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung vom 5.12.2012 (in Kraft seit 1.6.2013) verabschiedet worden. Wie im Koalitionsvertrag vorgesehen, sind auch die Erhöhung der Jugendstrafe auf 15 Jahre für Heranwachsende bei Mord wegen der besonderen Schwere der Schuld, der „Warnschussarrest“ (Jugendarrest neben der Aussetzung der Verhängung oder Vollstreckung der Jugendstrafe zur Bewährung) und die Vorbewährung im Gesetz zur Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten vom 4.9.2012 verankert worden (zu verfassungsrechtlichen und systematischen Bedenken sowie zu Lösungsmöglichkeiten Radtke ZStW 2009, 416–449 sowie einerseits Müller-Piepenkötter/Kubink ZRP 2008, 176–180 und andererseits Verrel/Käufl NStZ 2008, 177–181 sowie Breymann/Sonnen NStZ 2005, 669–673).

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Da es auch zukünftig keinen eigenständigen Deliktskatalog gibt, stellt sich das Problem einer jugendgemäßen Gesetzesinterpretation. Ostendorf hat in diesem Zusammenhang drei Tatbestandsgruppen genannt:


Tatbestände, die von Jugendlichen und Heranwachsenden generell nicht verstanden werden (z.B. Einsatz einer Spielzeugpistole als Qualifikationstatbestand – §§ 244 Abs. 1 Nr. 1 Bst. b), 250 Abs. 1 Nr. 1 Bst. b) StGB; der selbst ausgefüllte Entschuldigungszettel als Urkundsdelikt; das Auswechseln des Kettenritzels zur Geschwindigkeitserhöhung als Verstoß gegen das Pflichtversicherungsgesetz und die Abgabenordnung),
Tatbestände, die für Jugendliche und Heranwachsende nicht passen (z.B. Gruppendelikte als Bandendiebstahl oder Bandenraub),
Tatbestände, die für Jugendliche und Heranwachsende nicht notwendig sind, z.B. Schwarzfahren, Mofa-Frisieren, Ladendiebstahl im Bagatellbereich.

(BMJ (Hrsg.), Jugendstrafrechtsreform durch die Praxis, 1989, 325, 332 ff.); zum Verhältnis von Gruppendynamik und Jugendstrafrecht: Hoffmann StV 2001, 196 ff.

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Gegen eine jugendspezifische Tatbestandsauslegung werden unter dem Aspekt von Rechtssicherheit, Bestimmtheit und Berechenbarkeit sowie Gleichbehandlung Bedenken geäußert (Brunner/Dölling § 2 Rn. 7), die jedoch nicht berücksichtigen, dass eine teleologische Interpretation und daraus resultierende Tatbestandsreduktion verfassungsmäßig zulässig sind. Dies gilt jedoch nur für eine Gesetzesauslegung zu Gunsten Jugendlicher. Eine Schlechterstellung gegenüber Erwachsenen ist nicht zulässig (BayObLG DVJJ-J 1993, 79 = StV 1992, 433 = NStZ 1991, 584 m. Anm. Scheffler NStZ 1992, 491; Albrecht 2000, 83; Bohnert NJW 1980, 1930; Bottke ZStW 95 (1983), 80; Dünkel ZStW 105 (1993), 139; a.A. § 55 Rn. 7).

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Praxisbeispiele für die Notwendigkeit einer restriktiven Interpretation sind:


Der 14-jährige T hat seine 13-jährige Klassenkameradin so geküsst, dass ein „Knutschfleck“ deutlich sichtbar blieb und ihr mehrfach mit seinen Händen an das bedeckte Geschlechtsteil gegriffen. Trotz „gegenseitiger Zuneigung“ ist er vom AG Arnstadt am 1.11.2011 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern nach § 176 StGB verwarnt und zu 60 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt worden (zur DNA-Identitätsfeststellung bei jugendtypischer Sexualstraftat in diesem Fall = BVerfG Beschl. v. 2.7.2013 – 2 BvR 2392/12, StV 2014, 578, 579).
Die Verurteilung eines 15-Jährigen wegen sexueller Beziehungen zu seiner 13-jährigen Freundin nach § 176 StGB zu Jugendstrafe (berichtet von Böhm/Feuerhelm S. 39, die vorschlagen, in solchen Fällen eine Verurteilung über die Anwendung von § 3 oder § 17 StGB zu vermeiden).
Wegnahme einer typischen Skinhead-Jacke gegenüber einem nicht zur Gruppe gehörenden Opfer (Verneinung der Zueignungsabsicht: AG Berlin-Tiergarten vom 7.11.1988, berichtet von Eisenberg § 1 Rn. 24c.
Ablehnung eines bedingten Tötungsvorsatzes (BGH NStZ 1983, 365; NStZ 1986, 549; StV 1997, 8; NStZ 2003, 369; StV 2004, 74; NStZ 2008, 94 – Eisenberg/Schmitz; NStZ-RR 2008, 370 u. BGH ZJJ 2010, 326 m. Anm. Eisenberg; NStZ 2013, 538: (äußerst) gefährliche Gewalttaten können einen Schluss von der obj. Gefährlichkeit auf einen bedingten Tötungsvorsatz ermöglichen. Bei einer spontanen, unüberlegten, in affektiver Erregung ausgeführten Handlung, kann jedoch aus dem Wissen um einen möglichen Erfolgseintritt nicht ohne eine Gesamtwürdigung von tat- und täterbezogenen Merkmalen auf das voluntative Vorsatzelement geschlossen werden.).
Verneinung eines vorsätzlich jugendgefährdenden Verhaltens (OLG Köln NJW 1971, 225).

Allgemein wird die restriktive Interpretation vor allem im Bereich der subjektiven Tatbestandsmäßigkeit zu diskutieren sein (so auch Eisenberg § 1 Rn. 24c, d). Ein genereller Ausschluss für bedingten Vorsatz und unbewusste Fahrlässigkeit (vgl. Märker Vorsatz und Fahrlässigkeit bei jugendlichen Straftätern, 1995) ist nach geltendem Recht aber nicht vertretbar; Lüderssen Die Beurteilung der inneren Tatseite bei jungen Tätern, speziell mit Blick auf den bedingten Vorsatz, in: FS Schreiber, 2003, S. 289–314.

Auch bei § 24 StGB sind die Rücktrittsvoraussetzungen jugendspezifisch zu interpretieren.