Kitabı oku: «Pappelallee», sayfa 2
3
Nun also Angie. Was für ein Name!
Aber schön ist er trotzdem.
Nur dass er gar nicht in das Luftikus passt. Angie! Schreiben kann das keiner. Jedenfalls nicht im Luftikus. Schon weil es ausländisch ist. Egal.
Aber Angie passt ja auch nicht ins Luftikus.
Das will nur niemand zugeben. Vielleicht der Hülsmann, der würde es sagen, aber nur weil er immer sagt, was er denkt. Und das auch noch so unverblümt, dass manch einem da schon die Nackenhaare hochstehen. Und zwar richtig!
Dabei braucht es der Hülsmann gar nicht zu sagen. Er könnte es auch schreiben, denn Hülsmann schreibt viel. Ein richtiger Schreiberling, sagen die Leute.
Doch Hülsmann ist noch lange nicht da. Er sitzt nun schon die vierte geschlagene Stunde in der Volkspolizeiinspektion. Und wartet. Wartet auf die Klärung eines Sachverhalts. Das hört sich dann verdammt nach Verhör an. In Gesprächen lassen sich nämlich keine Sachverhalte klären. Nicht in der Schönhauser Allee 22.
Also dann doch so ein Verhör. Da kennen die sich aus mit. Die, in der Schönhauser. Das weiß doch jedes Kind.
Auch Angie würde das wissen. Doch Angie will es nicht wissen. Sie hat mehr zu tun. Gerade jetzt, wo der dicke Zeiger der Wanduhr auf die Sechs rutscht. Dann ist es so weit.
Angie drückt das Aluminiumtablett, auf das sie Kaffeekännchen, Tasse und Untertasse gestellt hat, in den schmalen Bauch und läuft durch das Lokal. Vorbei an dem klappernden Ventilator über dem Eingang, der alten Musikbox und den schwitzenden Wänden. Vorbei an den drängelnden Kohleträgern, die am Abend mit weißen Hemden und schwarzen Kragen im Luftikus erscheinen und den verblühten Damen in bunten Blümchenkleidern ihre Aufwartung machen. Vorbei an den Schlossern mit den zernarbten Händen, den verschwitzten Möbelträgern, übel riechenden Müllfahrern und den Zimmerleuten aus Michas Brigade, die ihre Fingerstumpen hinter gefüllten Gläsern verstecken.
Angie! Ein Dutzend Augen laufen ihr nach, ihrem wehenden, hennagefärbten Haar, den schwingenden Hüften und den elegant gesetzten Schritten. Sie laufen ihr nach mit einem Blick, der vielsagender nicht sein kann. Vom Tresen bis hinten zum letzten Tisch, dem vor dem Klo. Angies Laufsteg, hat Hülsmann einmal gesagt, was Angie als Kompliment auffasste, sodass der Hülsmann das lieber nicht kommentierte. Und die Männer hinter den Biergläsern haben ihn ohnehin nicht verstanden, vielleicht weil sie sie gar nicht wissen, was ein Laufsteg ist.
Am letzten Tisch bleibt Angie stehen, stellt Kaffeekännchen, Tasse und Untertasse ab und macht eine leichte Verbeugung. Dabei fällt ihr ein Lächeln aus dem Gesicht, das nicht nur ihre großen weißen Zähne zeigt, sondern auch die Augen leuchten lässt. Und das sind große Augen, rehbraune Kulleraugen. Dann zieht sie den kurzen Rock wieder gerade, kneift die Augen zusammen und wirft das Haar über die Schulter. So bleibt sie noch eine Weile stehen. Lange genug, dass die Männer im Gang und am Tresen sich noch das Feuchte aus den Mundwinkeln wischen können.
Das eingefallene alte Männlein am Tisch nimmt kaum Notiz von seiner Bedienung. Ungerührt sitzt es da, im Anzug aus feinem Zwirn und mit einem großkarierten Binder. Nur langsam hebt es den greisen Kopf mit den herausgetretenen Backenknochen. Aber Chefs können sich das leisten. Die Angestellten mit Nichtbeachtung strafen.
Jeder andere Gast hätte jetzt mindestens eine halbe Stunde auf Angies nächste Lieferung gewartet. Und das wäre noch eine milde Strafe. Denn Angie kann auch ganz anders. Schon bei einer Wiederholungstat würde der Gast schlichtweg verdursten!
Aber Chefs dursten nie. Kaffee trinkend thront das alte Männlein an seinem Einzeltisch und schreibt Abrechnungen. Jeden Tag. Mindestens dreißig Jahre macht es das so, sagt der Wirt. Und der muss es als Sohn ja wissen. Irgendwann wird er auch mal am Ecktisch sitzen und den Chef spielen. Aber erst wenn sein Sohn den Tresen übernimmt. Doch das kann noch dauern. Können ja nicht loslassen, die Alten!
Lothar nickt vom Tresen aus dem alten Mann zu.
Auch der Mann nickt. Dabei hat er den langen, aber schmalen Raum im Auge. Und die Gäste.
Ehrfürchtig schlagen die Männer einen großen Bogen um den Chef. Nur Angie, die schöne Angie, die den Kaffee bringt, darf an den Tisch. Die Uhr kann man danach stellen. Sonst bleibt der Tisch leer.
Fünf Kellnerinnen hat der schon überlebt, sagen die Leute. Fünf Kellnerinnen in dreißig Jahren. Da sind die davor, als er noch am Tresen stand, gar nicht mitgerechnet.
Aber so eine prallbusige mit großen braunen Augen war noch nie dabei, sagt einer der Zimmerleute mit den fehlenden Fingern.
Zitternd führt der Alte die Tasse zum Mund. Über die weiße schmale Hand ziehen sich kleine rote Adern. Zwei dicke Goldringe glänzen. Aber wieder nippt er nur. Ein Kännchen pro Abend, zwei am Tag.
Die Angie schafft er auch noch, flüstert eine der verblühten Damen vom Tresen und kichert.
So ein knackiges junges Ding, schnalzt ein kräftiger Kohlenträger. Da würde ich nicht lange fackeln.
Die Dame unterbricht ihr Kichern und macht große Augen. Von wegen, raunt sie den Mann an. Nicht mal berühren würdest du die!
Der kräftige Kerl kratzt sich mit seiner rechten großen Pranke am Kopf. Der Kopf ist rot. Sagen muss er nichts mehr, denn die Umstehenden lachen schon. Und dann schauen sie neidisch auf den runden Stammtisch. Denn nur die Gäste am Stammtisch klopfen im höchsten Glücksrausch mal auf Angies Hintern. Natürlich nur, wenn das Trinkgeld stimmt.
Aber das ist selten.
Meistens lassen auch sie nur ihre Augen Angie nachlaufen, blasen nervös graue Qualmwolken in die Höhe und drücken sich an die kranke feuchte Wand hinter dem Stammtisch. Dort wo der Schimmel kniehoch steht.
Die Wand hat die Blattern, weiß Schüller. Und der muss es wissen. Das ist in alten Häusern wie eine Seuche, erklärt er bedeutungsschwer. Dabei wedelt er sich mit seinem Hut frische Luft zu.
Die Blattern!, lacht Lothar. Von wegen!
Was denn sonst?, sagt Schüller.
Ja, was denn sonst.
Warum auch nicht. Also.
Zu viel Wasser, sagen die Leute. Die Feuchtigkeit steigt aus den Grundmauern bis ins Erdgeschoss. Und wenn man wartet und nichts macht, steigt er auch noch weiter, hinauf bis zum ersten Stock. Dann ist der Putz wie ein vollgesaugter Schwamm, nur schwerer. Und zum Schluss fällt er ab. Da muss man aufpassen, dass man den Dreck nicht auf den Kopf bekommt. Kann nämlich schmerzhaft sein.
Schöne Bescherung.
Wenigstens die vielen Tierchen, die die Wand wie einen Fels erklimmen, fühlen sich wohl. So sagt es Angie, wenn sich einer über die kranke Wand beschwert. Ist schließlich nicht ansteckend.
Wenn nur nicht immer der Gestank wäre.
Gestank?
Hat schließlich auch was, so ein süßlicher Geruch. Fast anziehend, sagt einer der Müllfahrer und atmet tief ein. Wie nach Verwesung.
Verwesung, das hört sich auch nicht besser an! Da kann man auch gleich von den Blattern reden.
Eben nicht, denn diese Verwesung hat noch eine andere Bedeutung. Das ist wie das geadelte Verderben. Und damit hat sie einen gewissen Charme. Aha! Aber so quer denkt nur einer im Luftikus, und der ist noch gar nicht da. Ja, der Hülsmann würde solche Erklärungen finden und dabei den Boden unter den Füßen verlieren. Künstler eben, Lebenskünstler noch besser.
Also doch Verwesung, wiederholt der Mann von der städtischen Müllabfuhr.
Und es riecht nach Liebe, ergänzt sein Nachbar. Fleisch, Schweiß und Liebe. Dabei kreist seine Zunge um den geöffneten Mund.
Und das ist dann fast der Höhepunkt. Es sei denn, Angie kommt vorbei und hinterlässt den Duft eines unbekannten Parfüms. Und dieser Duft mischt sich mit dem Geruch nach Verwesung. Der Tod könnte süßer nicht sein.
Kein Wunder, wenn einige der Gäste die Augen schließen. Und dabei das Luftikus verlassen, auf dem Weg ins Paradies.
Da muss dann schon der Wirt selbst eingreifen. Von wegen Umsatz und so. Oder eine der Damen.
Hört auf zu träumen, ertönt auch schon eine kräftige Frauenstimme. Wobei die Dame wohl ahnt, keinen Platz in dem Männertraum zu finden.
So gehen die Augen wieder auf. Nicht im Paradies, sondern im Luftikus. Und dann ist sie schon da in ihrer ganzen Fülle. Gerda. Zu bieten hat auch sie was. Breite kräftige Arme, die sie quer über den Tisch legt und ein pausbäckiges rundes Gesicht, in das eine schwere Brille rutscht. Also meine Herren!
Gut. Dann eben Gerda. Frauen sind im Luftikus ohnehin rar.
Und Gerda ist zufrieden, trotz Konkurrenz. Muss ja nicht immer gleich ein Schieber sein oder gar ein Fleischermeister. Nach ein paar Doppelten sehen die Männer eh alle gleich aus.
Der feuchten Wand hilft kein Doppelter. Sie kann ja nicht mal eine Tapete tragen! So haben es die Maler nach einer ausgiebigen Untersuchung festgestellt und es gar nicht mehr versucht. Den Tapetenkleister haben sie lieber gegen ein paar Frischpils vom Tresen und einem sensationellen Augenaufschlag von Angie getauscht.
Vor die Wand schiebt man besser die Musikbox. Dann sieht man den Schimmel nicht mehr.
Also muss die Box wieder her und Elvis oder besser gleich Freddy Quinn. Den versteht man wenigstens. Und er ist Stammkunde, so wie die meisten hier. Jedenfalls akustisch. La Paloma ohé und so. Ach wie schön!
La Paloma, ohé, einmal müssen wir geh’n
,einmal schlägt uns die Stunde der Trennung.
Einmal komm ich zurück.
Ins Luftikus kommt man immer zurück. Womit wir dann wieder beim Tanz sind. Samstagabend oder Freitag, wie gehabt. Aber immer nur dann, wenn sich jemand findet, die Box mit einer Münze zu bestücken und den Tanz eröffnet. Oft ist allerdings das Klappern des Ventilators über dem Eingang lauter als die Musikbox. Da wissen die Tanzpaare dann nicht, ob sie nach Platte oder Ventilator tanzen. Aber auch das ist egal.
Wenigstens es dreht sich, sagen die Gäste.
Angie hat dann Mühe, das Lokal wieder zum Stehen zu bringen, denn auch ihr wird ganz schwindlig.
Noch eine Trommel Pils und die Kurzen nicht vergessen! So geht das in einer Tour. Immer und immer wieder. Nicht mal der dicke Wirt hinter dem Tresen hat dann was zu lachen. Aber warum sollte er auch, ist ja nicht zum Vergnügen da.
4
Vier Schritte vor, vier Schritte zurück. Mehr kann der junge Mann nicht gehen. Dann nimmt er auf einem der knarrenden Holzstühle Platz und schaut zum Generalsekretär auf. Der lächelt, wie er immer lächelt. Erstarrt und künstlich.
Mein Dorian Gray, denkt Hülsmann. Denn auch der Generalsekretär wird nicht älter. Seit Jahren lächelt er von den Wänden der Republik. Die Zeit hat ihm nicht eine einzige Falte angehangen. Dabei ist er noch älter als Hülsmanns Großvater.
Der Großvater kann vom ewigen Leben nur träumen. In einem Pflegeheim in Templin, Uckermark, ringt er täglich mit dem Tod. Es gibt kaum Hoffnung, sagen die Ärzte. Vielleicht noch ein paar Monate. Das Leben ist eben endlich.
Endlich! Endlich ist auch der Warteraum. Hans Hülsmann geht wieder vier Schritte. Vier Schritte nach vorn, vier Schritte zurück.
Hülsmann ist Künstler. Auch wenn er sich so gar nicht sieht. Denn eigentlich ist er Kulissenschieber oder Theaterhandwerker, wie es offiziell heißt. Volksbühne, altes ehrwürdiges Haus.
Hülsmann liebt das Theater. Vielleicht weil er darin die Welt erblickt. Das große Welttheater, sagt er, ist wie ein Buch. Hülsmann ist der Leser dieses dicken Buches, still und unaufgeregt. Fast ein wenig abgeklärt für seine achtundzwanzig Jahre. Auf jeden Fall hat der den Frieden mit sich gefunden, weiß schon der Lothar zu berichten. So wie der auf die Welt schaut, mit diesem verklärten Blick.
Den Frieden hat Hülsmann weniger dem verklärten Blick zu verdanken als zwei anderen Dingen. Einem Zaubermantel und einem Buch aus braunem Schweinsleder, das er unter der Weste trägt. Der Mantel hängt an der heimischen Garderobe und kann unsichtbar machen. Eine Eigenschaft, die in schlechten Zeiten ihr Gold wert ist. Was natürlich auf der Hand liegt. Und dennoch nicht vergessen werden soll.
Mystisch ist es in jedem Fall. Fast wie im Märchen, mit Feen, Einhörnern, Zauberstäben, Hexen und magischen Steinen. Jedenfalls glaubt das Ottmar Graustock, und der könnte es ja wissen. Nicht nur weil er Hülsmanns Freund und Nachbar im Haus Gethsemanestraße 5 ist. Nein, der Graustock studiert immerhin Theologie und das will was heißen in einer Welt, in der zwar Generalsekretäre nicht altern, aber ansonsten Gott für tot gehalten wird. Aber das ist eine andere Geschichte.
Das Buch ist Hülsmanns Heiligtum. Das liegt wohl an den handgeschriebenen Texten. Randglossen der Ewigkeit, sagt Hülsmann. Oder noch komplizierter: Parerga und Paralipomena.
Ein komischer Kauz eben, der Hülsmann, sagt auch Schüller, aber wer ist das nicht, wenn er im Prenzlauer Berg lebt mit seinen heruntergekommenen Mietskasernen, Kulissen an einem Theater schiebt und hofft, selbst einmal das große Theaterrad zu drehen. Vielleicht als Autor oder gar als Regisseur. Aber dazu muss man eben studieren. Und zum Studieren sollte man besser keine Vorladung zur Volkspolizeiinspektion haben. Das gibt immer Ärger. Und jetzt hat er den Ärger, der Hülsmann.
Noch also sitzt er da in der Schönhauser Allee 22, in diesem Warteraum, und macht sich Gedanken über das Warten. Denn, so denkt Hülsmann, der Warteraum ist eigentlich ein Raum, in dem man gar nicht warten kann, weil die Zeit hier stillsteht. Damit aber widerspricht die Zeit der Form des Wartens, die eine Verlaufsform wäre. Denn sie ist es, die eigentlich vergehen soll, damit das Warten zum Warten wird und das Warten ein Ende hat.
Typisch Hülsmann, würde jetzt der Graustock sagen, so ein verdrehtes Denken. So typisch wie sein Aufzug, der auch etwas von Theater hat. Ein schwarzer altmodischer Zimmermannsanzug mit Weste und Perlmuttknöpfen. Ein Erbstück vom Großvater. Genauso wie die alte Sprungdeckeluhr, die an einer Kette hängt und aus einer Westentasche herausschaut. Dazu das kragenlose weiße Leinenhemd und der schwarze Hut mit breiter Krempe. Ein Kerl wie ein wandernder Geselle, den das letzte Jahrhundert vergessen hat.
Aber Hülsmann hat keiner vergessen, auch die Volkspolizei vergisst solch merkwürdige Gestalten nicht. Und auch nicht die anderen Leute, die zwar alle unter Volkspolizei firmieren, aber keine Uniform tragen. Für wen die arbeiten, muss man nicht raten.
Ist ja selbst dran schuld, sagen die Leute, wenn er so merkwürdig ausschaut. Da stimmt da oben was nicht. Dabei tippen sich die Leute mit dem rechten oder linken Zeigefinger an die Stirn.
Allein dieser Aufzug macht ihn verdächtig. Und dann sind da noch das schwarze schulterlange Haar und die verkniffenen kleinen Augen, die immer hinter die Dinge schauen.
Der Hülsmannsche Röntgenblick, sagt Graustock. Typisch.
Ausgerechnet Hülsmann, der manchmal sagt, was er besser für sich behalten sollte, dann aber wieder alles verheimlicht und jede Bewertung offen lässt. Oder in sein Büchlein trägt, für sich, versteht sich.
Diese Art Geheimniskrämerei gefällt nicht jedem. Dorian Gray zum Beispiel hätte keine Freude an dem Versteckspiel. Wo kommen wir denn da auch hin?
Also noch einmal, vier Schritte vor und vier Schritte zurück. Die Schritte hallen jetzt so laut, als wollten sie zur Decke hinaufschreien. Aber in diesen Räumen schreien nicht mal die Schritte. Die Angst liegt wie ein Tuch über den Lauten und Tönen, sie kriecht in die Kehlen und macht die Münder stumm.
Plötzlich bleibt Hülsmann stehen. Er lauscht. Fremde Schritte! Laut und drohend eilen sie den Gang entlang. Hülsmann kann noch gar nicht die Herkunft orten, da folgt schon eine Stimme. Und dann steht der Mann in der Tür.
Hülsmann, sagt der Mann, sodass der Angesprochene nicht weiß, ob das eine Frage oder eine Feststellung ist.
Hülsmann bejaht, entweder aus Instinkt oder dem Gefühl, besser nicht zu widersprechen. Denn diesen Aufforderungen, egal ob Frage oder Feststellung, entgeht man am besten durch Gehorsam.
Hülsmann, Hans, wiederholt der Mann mechanisch und setzt damit Vor- und Zunamen in die für Akten übliche Reihenfolge. Und er sagt es so, als wäre da noch ein zweiter Mann im Warteraum.
Aber der zweite Mann hört es nicht. Dorian Gray lächelt nur. Hülsmann nickt.
Folgen Sie, fordert der Mann und dreht sich auf der Türschwelle. Der Mann hat keine Uniform. Nur eine graue Hose und ein dunkelblaues Jackett mit aufgesetzten Taschen.
Bestimmt Präsent 20, denkt Hülsmann und sieht die Auslagen in der Schönhauser Allee vor sich. Gleich neben dem Wiener Café. Dort stehen fünf Schaufensterpuppen und die tragen alle graue Hosen und dunkelblaue Jacketts mit aufgesetzten Taschen. Präsent 20, verkündet ein großes Schild. So groß, dass sich Hülsmann schon Gedanken machte, was sich hinter dem Präsent 20 verbergen würde. 20 Jahre, 20 Menschen, 20 Prozent Baumwolle?
Hülsmann, in der Hand seinen abgeschabten Hut, folgt wortlos dem Mann, dessen Jacketttaschen glänzen. Kunststoff, lächelt Hülsmann, der glänzt immer so. Dabei muss er unweigerlich an den wohl einzigen Werbespruch auf einer der Autobahnbrücken zwischen Berlin und Leipzig denken. Plaste und Elaste aus Schkopau!
Plaste und Elaste aus Schkopau, wiederholt Hülsmann leise. Der Mann bleibt stehen und schaut Hülsmann mit großen Augen an. Ist was?, fragt er.
Nein, nein, ganz und gar nicht.
Dann weiter, befiehlt der Mann.
Hülsmann zählt die Stockwerke. Im dritten Stock werden die Schritte langsamer.
Der Mann im dunkelblauen Jackett ringt nach Luft. Gehen Sie voran, fordert er Hülsmann auf. Vielleicht weil er sich an die Vorschriften halten will.
Hülsmann stockt.
Na weiter, sagt der Mann und schiebt Hülsmann in den Gang. Der ist so lang wie ein Bergwerksschacht. Am Ende flutet Tageslicht durch eine kleine Öffnung in den Stollen.
Aus dem frisch gebohnerten Fußboden steigt eine vertraute Geruchsmischung. Es ist der strenge Geruch von Bohnerwachs und einem beißenden Reinigungsmittel. Wenn es auch nur einen Einheitsgeruch in diesem Land gibt, so denkt Hülsmann, dann ist es genau dieser Geruch. Er ist ein Markenzeichen, das man urheberrechtlich schützen müsste. Egal welches öffentliche Gebäude man auch immer betritt, sei es der Kindergarten, die Schule, die Polizei, der Bahnhof oder gar ein Standesamt, alles dünstet diesen merkwürdig strengen Einheitsgeruch aus. Selbst in der Volksbühne, einem Theater, steht dieser Einheitsgeruch in den langen Gängen des Verwaltungstraktes.
Der Flurboden glänzt im Gegenlicht wie die aufgesetzten Jacketttaschen. Beidseitig des Ganges reihen sich Türen aneinander. Unendliche Türen, die in unbekannte Zimmer führen. Nur die dreistelligen Nummern in schwarzen Plastebeschlägen verraten Unterschiede.
Hinter den Türen rasseln Schreibmaschinen. Sie stempeln Buchstaben in Papierrollen. Ihre Anschläge sind so flink wie das Trommeln von Regentropfen auf einem Autodach.
Hülsmann sieht schon die Buchstaben auf mechanischen Füßchen durch die Räume eilen. Erst in Marschkolonnen, dann in Gruppen und Grüppchen. Und er hört sie. Wie das Rasseln von metallenen Ketten, die über einen harten Boden gezogen werden. Gleichmäßig und nur manchmal von einer kurzen Pause unterbrochen. Typisch Hülsmann, dem wieder die Gedanken durchgehen. Oder die Fantasie.
Aufgeschreckt durch die dröhnenden Schritte im langen Gang, laufen die Buchstaben wild auseinander, um sich hinter Schränken und Heizungen, Akten und Papierstapeln oder unter Linoleumböden zu verkriechen. Andere klettern auf Schreibtische und Schränke, Aktenordner und Ablagen. Dann endet das Klicken und Klacken, das Hämmern und Rasseln. Hülsmann würde jetzt gern ein Buchstabe sein und sich hinter einem Aktendeckel verstecken und abwarten. Aber er ist kein Buchstabe. Kein A und kein Z. Nicht mal ein H, wie Hans.
Halt, sagt der Mann hinter ihm. Es ist die Tür 328.
Der Mann ballt die rechte Hand zu einer Faust und schlägt mit den spitzen Fingerknochen entschlossen gegen die Tür. Dann tritt er einen Schritt zurück. Zugleich legt er seine linke Hand fest um Hülsmanns Oberarm. Der Zugeführte wehrt sich nicht.
Moment, schallt eine Stimme von innen. Dann ist es ruhig.
Aber die Tür öffnet sich nicht. Auch folgt keine Aufforderung zum Eintreten. Sekunden vergehen, oder steht die Zeit wieder einmal still? In solchen Momenten steht die Zeit doch immer still. Sie hält den Atem an, denkt Hülsmann. Also hält er auch den Atem an.
Herein, schallt es endlich aus dem Zimmer.
Der Mann öffnet die Tür und schiebt Hülsmann in einen Raum. Der Raum ist hell und freundlich. Die späte Nachmittagssonne wirft gelbe Lichtkegel auf den braunen Fußboden. Hinter einem großen braunen Schreibtisch sitzt ein Mann. Er schreibt. Der Füllhalter zittert über die abgenutzte Schreibtischplatte. Das Blatt, das er füllt, ist nicht zu sehen. Der Mann hat ein weißes eingefallenes Gesicht mit großen dunklen Ringen unter den Augen. Sein Kopf ist fast kahl. Nur ein Streifen dünner grauer Härchen zieht einen schmalen Kranz über Ohren und Hinterkopf. Auch er trägt ein dunkelblaues Jackett mit aufgesetzten Taschen. Als der Mann aufsteht, fällt ein dickes Sitzkissen zu Boden. Er lässt es liegen.
Jetzt ist auch die graue Hose aus den Präsent-20-Auslagen neben dem Wiener Café zu sehen. Und ein wohlgenährtes Bäuchlein. Das wölbt sich spitz unterhalb der eingefallenen Brust. Darüber hängt ein kurzer brauner Binder. Die Spitze des Binders sitzt auf dem Bäuchlein auf.
Langsam geht der kleine Mann zum Fenster. Dabei stützt er sich auf den Schreibtisch.
Nun, Herr Hülsmann, sagt der Mann nach einer Weile, dann erzählen Sie mal. Dabei schaut er Hülsmann das erste Mal richtig an. Diesen merkwürdigen jungen Mann mit seinem schwarzen abgewetzten Cordanzug und der schwarzen, am Bauch ausgebeulten Zimmermannsweste, auf der immerhin sechs Perlmuttknöpfe leuchten. Fast beiläufig weist er ihm mit der linken Hand einen Holzstuhl zu.
Aber was soll ich erzählen?, fragt Hülsmann. Langsam lässt er sich auf dem zugewiesenen Platz nieder und schaut sich fragend nach dem Mann hinter sich um.
Der aber rührt sich nicht. Wie angegossen steht er da, die Hände an die Seite gelegt.
Sie werden schon wissen was, sagt die Stimme am Fenster.
Ich weiß wirklich nicht, erwidert Hülsmann und hebt die Schultern.
Natürlich nicht, sagt der Glatzköpfige und lächelt. Sie können uns nichts vormachen, Hülsmann! Da können Sie rumlaufen, wie Sie wollen. Das hilft alles nichts!
Will ich doch nicht, beteuert Hülsmann. Dabei zieht er so ein Gesicht, ein typisches Hülsmanngesicht, aus dem ganze Bände sprechen. Aber dafür kann der Hülsmann nicht. Denn irgendwie hat er, trotz mancher Narben, immer etwas Verschmitztes im Gesicht oder besser unter den Augen.
Schade, sagt der Glatzköpfige noch mit ruhiger Stimme und stellt sich jetzt neben Hülsmann. Dann aber bricht es aus ihm lautstark heraus: Mit solchen Bürschchen wie Ihnen werden wir schon fertig. Keine Bange! Dann setzt er sich wieder hin und beginnt zu schreiben.
Hülsmann ist rot angelaufen. Aber …, versucht er noch einmal. Aber ich weiß wirklich nicht, ich hatte doch nur diese Vorladung …
Der Glatzkopf springt wieder auf. Glauben Sie im Ernst, dass wir Sie aus lauter Spaß vorladen, Hülsmann? Glauben Sie das wirklich? Denken wohl, wir hätten sonst nichts zu tun. Dabei fuchtelt er mit der Hand vor Hülsmanns Gesicht herum. Nein, nein, bilden Sie sich nur nichts ein!
Ich weiß doch wirklich nicht, versucht Hans Hülsmann noch einmal seine Unschuld zu beteuern. Dabei gibt er sich alle Mühe.
Wissen Sie, was ich an Ihrer Stelle machen würde, unterbricht der Glatzkopf und lehnt sich über den Schreibtisch.
Hans Hülsmann schüttelt den Kopf.
Ich würde schön ruhig sein und auspacken. Alles, verstehen Sie, alles!
Aber, … stottert Hülsmann.
Ich sehe, sagt der Mann, das hat keinen Zweck mit Ihnen. Naja, so können wir Ihnen auch nicht helfen. Helfen, sagt er wirklich. Hülsmann merkt sich diesen Satz genau.
Der Mann setzt sich wieder hinter den Schreibtisch. Das Kissen hatte er vorher unauffällig aufgehoben. Das, und dabei nickt der Mann, haben Sie sich alles selbst zuzuschreiben … Aber was, wirft jetzt Hülsmann laut ein. Was? Sie kommen sich wohl sehr wichtig vor Hülsmann, was? Der Glatzkopf lacht. Aber nichts für ungut. Sie werden es noch rechtzeitig zu spüren bekommen. Dabei füllt er einen Zettel aus. Und ich bin sicher, Sie denken an diesen Tag. Ich würde es auch an Ihrer Stelle. Den Tag sollten Sie nicht vergessen!
Hülsmann würde solche Tage auch so nicht vergessen. Er braucht keine Erinnerung. Denn Hülsmann hat ja sein Büchlein. Hier wird auch dieser Tag seine Erwähnung finden. Und Sätze wie: Dann können wir Ihnen auch nicht helfen. Oder: Das haben Sie sich alles selbst zuzuschreiben! Sätze, die keiner Erklärung bedürfen. Schreiben gegen das Vergessen, nennt das Hülsmann.
Also, sagt der Mann und lehnt sich über den Schreibtisch. Dabei streift die Spitze des braunen Binders über die Tischplatte. Ab sofort halten Sie sich zu unserer Verfügung. Was das heißt, muss ich Ihnen nicht erklären, die Stadt jedenfalls verlassen Sie nur noch nach unserer Genehmigung. Ich würde Ihnen raten, sich danach zu richten. Wenn nicht, dann müssen Sie mit Konsequenzen rechnen! Ich jedenfalls habe Sie gewarnt.
Hülsmann spürt einen eisernen Handgriff um seinen Oberarm.
Kommen Sie, sagt die ernste Stimme hinter ihm. Dabei wird der Griff noch fester.
Dem Druck folgend, steht Hülsmann auf. Er will etwas sagen. Aber er kann nicht. Als sie im Gang stehen und die Tür sich schließt, löst sich der Griff um seinen Oberarm.
Wer war das?, will Hülsmann wissen.
Kommen Sie, sagt der Mann und schiebt Hans Hülsmann durch den langen Gang.