Kitabı oku: «Pappelallee», sayfa 5
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Röslein, Röslein, Röslein rot … So könnte er es singen. Aber er singt nicht, nein er brummt nur die Melodie. Getschmar hat die Ellenbogen weit aus dem Fenster geschoben und blinzelt mit der Sonne. Aber dann fällt sein Blick wieder hinunter in den Hof zu dem kleinen Blumenbeet. Ein Handtuch besser, aber immerhin, auch wenn es sich an die unverputzte Mauer drückt. Dort jedenfalls trägt der einzige Rosenstock das lang ersehnte dunkelrote Röslein. Ein breites Lächeln tritt in Getschmars Gesicht. Mit tiefen Atemzügen hebt er stolz die Brust.
Da die Musik endet, eilt Getschmar zurück ins Wohnzimmer und erscheint erst wieder im Fenster, als auch die Musik ertönt. Diesmal noch etwas lauter. Röslein, Röslein, Röslein rot, Röslein auf der Heiden …, so schallt es in den morgendlichen Hinterhof, dem die Sonne auch heute keine Beachtung schenkt. Nur oben bei Getschmar und seinem Nachbarn, dem jungen Reinhard Voss, wird sie kurz verweilen, um dann den Seitenflügel sogar bis in den zweiten Stock zu streifen. Mehr ist nicht drin, nicht mal jetzt. Dem Hinterhaus bleibt nur eine unerfüllbare Hoffnung.
Das Quietschen der großen Hoftür übertönt die Musik.
Verdammt!, flucht Getschmar und beugt sich über die Brüstung, um den Störenfried auszumachen. Doch der Störenfried ist eine Frau. Mit leichtem, fast federndem Schritt kommt Frau Frenzel aus dem Vorderhaus. In ihrer Hand schaukelt ein Mülleimer. Ihr erster Blick gilt dem Beet und der Rose. Verwundert bleibt sie stehen.
Schön was?, ruft Getschmar aus dem vierten Stock in den Hof.
Wunderschön, ruft Frau Frenzel zurück.
Das macht die gute Pflege, Frau Nusselbeck, erwidert Getschmar, obgleich er eigentlich wissen sollte, dass Frau Nusselbeck am Tag der Polonaise Frau Frenzel geworden ist. Aber egal: Das ist mit den Blumen wie mit den Menschen, legt Getschmar vielsagend nach. Man muss sie nur richtig anpacken.
Das kann ich mir denken, antwortet die Frenzel fast nebenbei. Nur nicht auf die Anspielung eingehen. An den rostigen Mülltonnen leert sie ihren Eimer und lässt, zufällig, versteht sich, den Blechdeckel laut auf die Tonne fallen. Doch Getschmar lässt sich nicht aus der Ruhe bringen.
Ich könnte Ihnen ja mal eine Rose schenken, Frau Nusselbeck, ruft er hinunter und lächelt freundlich.
Das würden Sie tun? Frau Frenzel ist erstaunt.
Warum denn nicht, gibt sich Getschmar großzügig. So ein Röslein, nur für Sie!
Die Frenzel schaut sich nervös um. Glücklicherweise sind an diesem Sonntag noch alle Fenster im Hinterhof geschlossen. Wie charmant, Herr Getschmar, aber …
Nichts aber, unterbricht Getschmar. Vielleicht kommen Sie mich mal besuchen. So am Abend und dann … Da wollen Sie mir die Rose schenken?
Naja, Sie wissen schon, man kann sich eben auch durch Blumen ein Stückchen näherkommen. Sicherheitshalber mustert er die Fenster im Hinterhof, aber alle bleiben zu.
Wein gibt es bestimmt auch!, ergänzt Frau Frenzel und lächelt vielsagend.
Jaja, bestimmt, stottert Getschmar, muss schließlich würdevoll sein, so eine Übergabe.
Das kann ich mir vorstellen, sagt sie und schnalzt laut mit der Zunge. Wie bei der Polonaise zur Hochzeit, was Herr Getschmar?
Getschmar wischt sich mit einem großen Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Doch antworten muss er nicht.
Zum Glück, denn direkt unter ihm öffnet jetzt Frenzel das Fenster. Sein Kopf erscheint auf der Brüstung. Wo bleibst du so lange, Ingrid?, ruft Frenzel böse. Wir wollen doch los in Garten!
Ja, komme doch schon, erwidert die Frau und verlässt eilig den Hof. Vorher aber winkt sie noch einmal nach oben und dies so missverständlich, dass jeder der beiden Herren behaupten könnte, nur ihm gelte der Gruß.
Getschmar jedenfalls streckt die Arme, wie nach getaner Arbeit in den hellblauen Himmel. Röslein, Röslein, Röslein rot …, singt er mit krächzender, sich jetzt überschlagender Stimme.
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Stolten. So ist sein Name. Und auch ihrer. Aber Frau Stolten sieht man nicht. Niemals. Sie liegt im Bett und das seit über 40 Jahren.
Eine Bombe, so sagt Getschmar, hat im letzten Kriegsjahr das Hinterhaus und damit die Wohnung der Stoltens getroffen. Volltreffer sozusagen. Die Decke ist bis heute nur notdürftig repariert.
Stolten selbst war an der Front, aber die schwangere Frau hat es schwer getroffen, immerhin sie überlebte. Auch wenn sie keine Beine mehr hat. Nur das Ungeborene war sofort tot.
Besser wäre, die wär gleich krepiert, sagt Getschmar, denn seitdem ist sie an das Bett gefesselt. Dasselbe Bett, indem das erste gemeinsame Kind zur Welt kommen sollte.
Gesehen hat Frau Stolten niemand. Jedenfalls nicht die letzten Jahrzehnte. Nicht mal Getschmar, der seit 1966 das Hausbuch führt. Da war die Stolten schon über zwanzig Jahre behindert. Und der Alte lässt niemand in die Wohnung. Nicht mal die staatlichen Wahlhelfer, die mit der Urne im Wohngebiet unterwegs sind und die säumigen Wähler an ihre staatsbürgerlichen Pflichten erinnern. Was schon ein Unding ist, wie Getschmar feststellt, die Genossen draußen vor der Tür stehen zu lassen. Und das bei so viel Verantwortung. Tun doch nur ihre Pflicht, mehr nicht!
Den Arzt aber, den lässt Stolten gewähren, nur der kommt selten. Gegen die zwei Beinstumpen kann auch er nichts tun.
Gut, sagt Getschmar, zu lachen hat der Stolten nicht viel. Manchmal trifft es einen auch hart.
Und doch, der lange drahtige Mann mit dem weißen gescheitelten Haar lächelt immer freundlich. Jedenfalls wenn man ihn im Treppenhaus begegnet oder im Hof oder beim sonntäglichen Gang zur Kirche. Stolten ist nämlich gottesfürchtig.
Das sind die Schlimmsten, sagt Frenzel, die Alte ist fast draufgegangen, so wie das Kind und dann rennt der immer noch in die Kirche. Und das jeden Sonntag. Das soll mal einer verstehn!
Graustock versteht das. Aber eine Erklärung will er für den Frenzel nicht finden. Schon gar nicht, wo doch jetzt der Getschmar zu ihnen getreten ist. Und das im Hof vor den Mülltonnen, wo noch manch einer zuhört. Und dem Getschmar darf man erst recht nicht mit Kirche kommen. Oder einem anderen Hokuspokus. Nein, danke.
Also dann doch besser über den langen Stolten reden, der sich so exakt durchs Haus bewegt. Die Arme immer dicht an der Hose und den Oberkörper leicht nach vorn gebeugt.
Einmal Soldat, immer Soldat, sagt Getschmar. Kein Wunder nach fünf Jahren Krieg und vier Jahren Kriegsgefangenschaft.
Stolten sieht trotz der Geschichte jünger aus, als er wirklich ist. Eine gute Partie für manche Witwe. So weiß es Getschmar, aber der Kerl bleibt bei seiner Frau und das bis ins hohe Alter. Da ist dem auch nicht mehr zu helfen.
Kein Leben ist das nicht, sagt auch Frenzel und legt nach: Ich würd das sicherlich nicht tun. Wäre doch nicht bescheuert. Aber da ist die jungvermählte Frau nicht dabei. So kann er die große Lippe riskieren, wie der Getschmar sagt. Ist doch sonst auch nicht leichtsinnig, der Frenzel, schon gar nicht im ersten Ehejahr.
Leichtsinnig ist auch nicht der Stolten und doch gibt es auch Gerüchte um ihn. Wie auch sonst, wenn ein junger Mann aus dem Krieg kommt, hungrig nach Leben und sich freiwillig einschließen lässt im Hinterhof, zweiter Stock links.
Lebendig einschließen, wiederholt Getschmar. Und das neben einer, die lebendig begraben ist!
Graustock will weiter. Ja, das Leben, seufzt er bedeutungsschwer und will die Geschichte von den Kloses aus seinem Heimatdorf erzählen. Er, der sein Bein in Russland ließ, sie, die Martha, die, gepeinigt von den Besatzern, vier Jahre im sibirischen Arbeitslager verbrachte. Und doch haben sie zusammengehalten, bis heute. Aber nein, das würde auch der Getschmar nicht verstehn. Weder die Liebe noch das Arbeitslager.
Lügenmärchen! Arbeitslager für Frauen und Kinder, von wegen!
Warum also sollte er, Graustock, noch die Geschichte der Martha Klose erzählen, die dort die erst fünfzehnjährige Schwester verlor und sie eigenhändig in der tief gefrorenen russischen Erde verscharrte. Warum, wo es keiner hören will. Und wen interessiert das schon. Ein Leben, das in Sibirien verscharrt wurde. Und von dem nur eine Wollmütze geblieben ist. Und die bricht der Martha Klose noch heute das Herz. Aber das ist ja eine andere Geschichte. Das Leben geht weiter.
Ja, es geht weiter, aber wie?
Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, sagt Getschmar in die Ruhe hinein und spielt wieder auf den Stolten an. Muss ja jeder selbst wissen.
Frenzel nickt.
Ja, das müssen die Menschen, denkt Graustock. Trotzdem machen sie weiter, immer weiter.
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Nun also ist es raus.
Fast eine Woche hat Hülsmann gebraucht. Eine Woche, in der er die Nachricht bei sich trug. Nicht in seinem Buch unter der Weste, nein, im Kopf. Dort wo seit Tagen alles durcheinandergeht.
Auflage! Und was für eine! Berlin nicht verlassen dürfen!
Das hat uns noch gefehlt. So sagt es Ottmar Graustock und macht ein besorgtes Gesicht.
Auch Katharina, Hülsmanns Schneewittchen, die am Morgen nach ihm schauen wollte, weiß nicht weiter. Sie hat sich auf dem braunen Ledersessel in der Ecke von Hülsmanns Zimmer niedergelassen. Gleich gegenüber vom Klavier.
Das habt ihr jetzt davon, sagt sie. Die Lesung in der Lychener hättest du dir sparen sollen. Und ausgerechnet Ralf Stöcker und seine Karla in den Mittelpunkt zu stellen. Als wenn es nicht schon schlimm genug ist, dass sie im Gefängnis waren und nur er freigekauft wurde. Und nun sind sie auch noch getrennt durch die Mauer.
Das ist es ja eben.
Was eben? Du hast doch gesehen, wie die Diskussion dann lief.
Aber die Texte waren gut, verteidigt Ottmar seinen Freund, den er erst seit seinem Einzug in die Gethsemanestraße kennt. Ich hätte es nicht besser sagen können. Studiere eben nur Theologie.
Aber Hans hat den Kopf hingehalten. Szenische Lesung, wenn ich das schon höre. Geschichten aus der Provinz! Ihr habt euch keinen Gefallen damit getan, nein, ich bin sicher, dass sich Hans selbst ans Messer geliefert hat.
Wegen der Kunst?
Vielleicht wegen der Kunst!
Wegen der Wahrheit?
Ja, wegen der Wahrheit!
Hülsmann nimmt auf einem Stuhl Platz. Wenn es das ist, dann weiß ich auch nicht. Resigniert starrt er auf die Holzdielen. Erst nach einer Weile fährt er fort: Da wird jemand nach fast zwei Jahren Gefängnis in den Westen verkauft, was schon schlimm genug ist, und muss Frau und Kind in der DDR zurücklassen. Und das nur, weil der Vater der Frau ein hohes Tier ist. Dabei sind sie einst gemeinsam ins Gefängnis gekommen. „Verleumdung staatlicher Organe“, wie sich das schon anhört! Während also er im Westen ist, wurde sie auf Zutun ihres Vaters in den Osten entlassen. Aber noch viel schlimmer, nun darf der verkaufte Sklave nicht wieder zurück, nicht einmal besuchsweise einreisen, um sein Kind zu sehen! Selbst seine Post kommt nicht an und die ihre auch nicht. So ist er, der bereits einmal gesessen hat, nun zu lebenslanger Sippenhaft verurteilt. Ohne Gefängnis und das als freier Mann im Westen. Einfach so!
Beruhige dich, versucht Katharina Hülsmanns Erregung zu dämpfen. Dass sie so hohe Wellen schlägt, liegt an der Geschichte. Die ist so dramatisch, dass Hülsmann gar nicht umhin konnte, sie aufzuschreiben. Nur dass er sie auch noch vorlas, macht die Sache nicht besser. Nicht auszudenken, wenn sie in falsche Hände kommt. Für den Westen ein Fressen! Und Hülsmann kann von Glück reden, dass er nur eine Auflage hat. Andere gehen dafür ins Gefängnis. Paragraf 219, das ist doch eindeutig. Schließlich sind es Schriften, die dem Ansehen der DDR schaden. So heißt es genau. Und das macht schon ein paar Jahre. Es gibt eben Dinge, von denen auch Hülsmann wissen sollte, sie besser für sich zu behalten. Ist doch alt genug, der Junge.
Aber egal, die Geschichte ist jetzt in der Welt. Schließlich ist das junge Paar, das am Weinbergsweg wohnt, eng mit Hülsmann befreundet. Oder besser dort wohnte, denn Ralf Stöcker lebt jetzt in West-Berlin, wie es offiziell heißt, während seine Verlobte Karla mit dem bald dreijährigen Mädchen noch immer am Weinbergsweg zu Hause ist. Gesessen haben sie beide. Nur dass Karla bereits nach sechsmonatiger Haftzeit freikommt. Zum Glück für das Kind, das solange im Heim war. Ralf sitzt fünfzehn Monate länger, erst in Cottbus und dann in Karl-Marx-Stadt. Und er wird in den Westen entlassen, freigekauft.
Was bleibt, ist nun ein ost-westliches Telefongespräch irgendwann in der Nacht. Aber nur wenn Karla eine freie Zelle findet. Eine, die auch intakt ist. Und natürlich muss man durchkommen. Schon das ist mehr als fraglich. Von stundenlangen Wählversuchen, bei denen die Finger an der Drehscheibe wund werden, kann auch Karla berichten. Und sie weiß, was es heißt, wenn sie endlich im Wedding ankommt und ausgerechnet dann ein westliches Besetztzeichen erklingt. Das aber heißt, alles wieder auf Anfang. Und hoffen, dass sich das Murren derjenigen, die vor der Telefonzelle Schlange stehen in Grenzen hält. Oder dass man sie noch einmal gewähren lässt. Nur noch drei Versuche, bitte!
Nein, Fräulein, sehen doch, was hier los ist. Was bilden Sie sich ein. Alle wollen mal telefonieren!
Karla durchleidet diese Telefontortur. Manchmal mit einem schreienden Kleinkind auf dem Arm. Sie weiß, was es heißt, in einer Stadt zu telefonieren, die nur wenige Leitungen freigibt.
Hülsmann versucht der jungen Frau zu helfen, immer und immer wieder. Aber auch er kann keine Genehmigungen erzwingen. Nur bei ihr sein, so oft es geht. Aber ist das wirklich ein Trost?
Karla scheut ihrerseits keine Mühen. Auch wenn ihre Ausreiseerlaubnis in den Sternen steht. Karlas Vater, ein echter Diplomat und zurzeit im sozialistischen Ausland im Einsatz, hat bisher alles erfolgreich verhindern können. Will schließlich nicht seine Karriere gefährden. Das muss doch auch die Tochter einsehen. Denn mit ihrer Inhaftierung hat sie es dem Vater schon schwer genug gemacht. Aber nein, diese Jugend immer! Nun wird sie sehen müssen, wer den längeren Atem hat. Den längeren Arm jedenfalls hat schon mal der Vater. Auch wenn er unsichtbar ist.
Karla, die ihren Namen nach dem Wunsch des Vaters dem Autor des Kommunistischen Manifests Karl Marx verdankt, hätte es wissen müssen. Schon einmal hatte die stille Kulturwissenschaftlerin Ärger gehabt. Und das, weil sie sich weigerte, die Kontakte zu ihrem Lebensgefährten abzubrechen. Nicht umsonst wurde sie vom Kulturinstitut verwiesen. Hintergrund war, dass Ralf, ein bekannter Rockmusiker, mit allzu kritischen Texten das Einstufungskomitee für Unterhaltungsmusik düpierte und sogar das nachfolgende Auftrittsverbot ignorierte. Erfolgreich war er damit freilich nur einmal, dann bekam er erheblichen Ärger mit der Abteilung Kultur beim Rat des Bezirkes.
Karla wurde aus dem Institut entlassen. Vergeblich versuchte sie, sich „in der sozialistischen Produktion zu bewähren“. Doch es hagelte für die überqualifizierte Frau Ablehnungen. Vielleicht war sie den Kaderleitungen trotz des prominenten Vaters nicht ganz geheuer.
Die existenziellen Nöte wurden größer. Auch Ralf verdiente nur noch sporadisch Geld. Mal bei einem Konzert in der Kirche oder privat. Mehr war nicht drin.
Ja, Herr Stöcker, das hätten Sie sich vorher überlegen sollen. Unsere Kulturpolitik ist doch eindeutig. So die Behörde nach der dritten Eingabe.
Nach einem Jahr vergeblicher Mühen stellten beide einen Ausreiseantrag. Da war Karla hochschwanger.
Das war der Anfang vom Ende. Auch für Karlas Vater, den Diplomaten. Hatte doch schon genug Ärger im Ausland! Der Klassenfeind schläft nämlich nicht.
Das ist Klassenkampf pur, vorn an der Front! Und unsereins kriegt doch die Angriffe des Gegners täglich mit, tobte er und wollte sich nicht mehr beruhigen. Aber nein, die eigene Tochter fällt ihm ausgerechnet an der Heimatfront in den Rücken. Nein, mit so einem Kind hab ich nichts zu tun!, schrie er. Nichts, gar nichts. Da können mir auch alle Enkel gestohlen bleiben!
Ein Jahr später, Karla hatte zehn Monate vorher die gemeinsame Tochter Charlotte entbunden, kamen sie. Irgendwann in der Frühe. Die Geschichte kennen wir. „Verleumdung staatlicher Organe“ und so weiter.
Und deshalb lässt sich Hülsmann nicht beruhigen. Schon der Gedanke macht ihn ganz verrückt. Kein Wunder, geht doch die Geschichte weiter. Denn voller Verzweiflung fährt Ralf Stöcker jetzt täglich mit der U-Bahn durch Ostberlin. Immer von Wedding nach Kreuzberg und zurück, und immer am Weinbergsweg vorbei, nur dass die U-Bahn am Rosenthaler Platz nicht mehr hält. Von dort wären es drei Minuten zu Frau und Kind, mehr nicht.
Abgesehen vom Umstand, dass Stöcker sowieso nicht einreisen kann, sind die Zugänge seit dem Mauerbau versperrt, die Bahnhöfe Geisterstätten. Und das mitten in Berlin, Hauptstadt der DDR. Bewacht sind sie trotzdem, damit kein Fahrgast abspringen kann.
Lächerlich, wie alle in der Runde finden. Doch Stöcker ist nicht zum Lachen, hört er doch die Stimmen seiner Frau und seines Kindes tief unten in der U-Bahn, wenn der Zug am Weinbergsweg vorbeirollt. Es sind nur einige Meter bis zu ihnen, aber dennoch ist es weit genug, um daran zu zerbrechen.
Wie lange also kann man das aushalten?
Wie lange?
Das ist mehr als Theater! Das ist das Leben, das wahre Leben! Jetzt vergräbt Hülsmann das Gesicht in seinen Händen. Eine kurze Pause nur, dann aber fährt er fort: Und warum soll es kein Stoff fürs Theater sein? Das ist großer Stoff, was denn sonst!
Ja, großer Stoff, pflichtet Graustock bei und kann sich an die Lesung erinnern. Das gesammelte Geld sollte Karla zugutekommen, die nichts unversucht lässt, noch ausreisen zu können. Doch die Zeit spricht gegen sie.
Großer Stoff, wiederholt auch Katharina, aber eben nicht nur fürs Theater.
Sondern?
Für die Stasi.
Aber wer sagt denn, dass es die Dialoge aus dem Stück waren?
Keiner.
Also bitte.
Katharina ist aufgestanden. Man kann den Staat nicht auf diese Art provozieren, am Ende wird er sich immer wehren. Und eins und eins zusammenzählen könnt ihr auch.
Auf welcher Seite stehst du denn?, fährt sie Hülsmann an.
Was soll das heißen?
Ach nichts. Hülsmann winkt ab. Dann geht er in seinem Zimmer auf und ab.
So wird es nicht besser, mischt sich Graustock ein. Wir sollten überlegen, was zu tun ist.
Da ist nichts zu tun. Wer weiß, vielleicht stehe ich auch schon unter Beobachtung. Auch das ist Theater, nicht ganz so groß vielleicht. Mit karger Besetzung, ein Zweimannstück. Nur dass es nicht in der Volksbühne gespielt wird, sondern in der Gethsemanestraße oder in der Pappelallee.
Katharina und Graustock schauen sich fragend an.
Ein Auto, sagt Hülsmann. Direkt vor dem Haus. Und zwei Männer, die Tag und Nacht in dem Lada sitzen.
Ein deutliches Zeichen!
Die Stasi?, fragt Katharina und wird ganz rot dabei. Sieht jetzt erst recht aus wie Schneewittchen, dabei hat sie Hülsmann noch gar nicht im Arm.
Womöglich, sagt Graustock. Es kann ja wegen Karla sein und ihrem Vater. Deine Besuche bei ihr machen dich verdächtig.
Ich weiß. Aber vielleicht ist es auch wegen unserer Zusammenkünfte im Wiener Café, ich sag nur Kierow und Victor.
Sehr gut möglich. Graustock reibt sich die Brillengläser.
Die können auch wegen Reinhard da sein, beruhigt Hülsmann. Doch das sagt er nur, weil er sieht, wie Katharina zu zittern beginnt.
Wer ist Reinhard, will sie wissen.
Reinhard Voss, ein alter Freund, wohnt oben unterm Dach. Und er hat einen Ausreiseantrag. Aber den haben ja bekanntermaßen viele. Ist ja auch nichts Besonderes. Schon gar nicht im Kiez.
Prenzlauer Berg, sag ich nur!
Schneewittchen schüttelt den Kopf. Wie soll das mal enden?
Hülsmann hebt die Schultern. Also doch Theater!
Es hilft jetzt alles nichts, wir müssen uns vorsehen, sagt Graustock.
Vorsehen, vor wem?
Ja, sagt Graustock und schaut sich Hilfe suchend um. Das ist es ja eben.
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