Kitabı oku: «Pappelallee», sayfa 3

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Also dann doch Luftikus, Pappelallee 80. Und das direkt vom Verhör. Der Tisch in der hinteren Ecke muss es schon sein. Und ein Bier oder zwei und natürlich Angie und Schieber Micha und der lange Lothar. Auch wenn der Hülsmann jetzt gern allein wäre. Schon weil ihn die Frage nach der Schuld quält. Was also ist Schuld?

Aber Hülsmann findet keine Antwort. Nicht jetzt, wo alles noch so frisch ist. Und er nur ahnen kann. Aber das hilft auch nicht weiter.

So sitzt er da, der Hülsmann, mit seiner schweren Zimmermannskluft, die am Kragen schon glänzt, obgleich er gar kein Zimmermann ist, sondern nur ein Kulissenschieber. Vor sich das angefangene Bier und die ausgefranste, fast vergilbte graugelbe Tischdecke. Darauf ein paar alte Brandflecken und der grünweiße Bierdeckel.

Umgeben von diesem Geruch, diesem typischen Modergeruch des Luftikus.

Wenigstens was Vertrautes.

Nur Katharina, die Freundin, ist nicht da. Auch nicht der Ottmar Graustock aus seinem Haus. Der, der eigentlich für alle irdische Trübsal zuständig ist. Schließlich ist der junge Mann mit der runden Nickelbrille auf dem besten Weg, Pfarrer zu werden, oder soll man gleich Seelsorger sagen? Aber nein, heute ist nicht mal der da. Dabei wäre es notwendig.

Hülsmann also, dort in der Luftikusecke. Sitzt da wie das Leiden Christi. Und das ohne kirchlichen Beistand. Hätte ja auch ins Wiener Café gehen können. Ins WC wie die Leute abkürzen. Da wo diese Intellektuellen immer sitzen und die Welt verbessern wollen. So sagt es auch Angie. Dort hätten auch die Vertrauten auf ihn gewartet. Der Ottmar und die Katharina und vielleicht noch der Reinhard Voss, auch ein Bewohner aus der Gethsemane. Aber nein, nach diesem Besuch in der Volkspolizeiinspektion ist dem Hülsmann nicht mehr nach Weltverbesserung bei gepflegtem Rotwein und auch nicht nach neuer Prenzelberg-Lyrik zwischen Rauchschwaden und schönen Frauen. Und Theater hat er eh selbst genug. Da braucht es kein WC.

Und schon gar nicht braucht er das Rampenlicht. Das grelle Licht quälender Fragen, die auch er nicht beantworten kann. Warum?, wäre so eine Frage. Und Hülsmann sieht schon die Mutmaßungen, die wie Kraut in den Himmel schießen. Die Literatur, die haben Angst vor der Literatur! Überleg doch mal! Die Gedichte, nein, die hättest du nicht vortragen dürfen! Oder gar jenes Theaterstück mit diesen fragwürdigen Helden! Kann ja sein, dass es wahr ist mit diesem Musiker, der in den Westen verkauft wurde, während seine Frau mit dem Kind im Osten ihn nicht sehen kann, weil er nicht herein und sie nicht raus darf. Kann alles sein, aber muss man das auch öffentlich machen? Manche Sachen schreibt man besser für den Schreibtisch!

Aber diese Künstler können die Tinte nicht halten oder die Noten.

Oder haben den falschen Umgang. Ja, der Umgang, das sind die falschen Leute, jedenfalls für die da oben, du solltest dich vorsehen! Kirchenleute noch dazu stellen ja alles infrage, Menschen und ganze Staaten, das kann nicht gut gehen. Niemals!

Hülsmann hätte sich die Ohren zugehalten und nichts hören wollen. Und doch wären sie wieder da, die Stimmen: Also mal ehrlich, hast du uns was vorenthalten? Was verborgen? Vielleicht doch so einen Antrag gestellt, um das Land zu verlassen? Ist ja nicht schlimm, macht ja hier fast jeder, aber reden solltest du wenigstens mit uns! Wenigstens das!

Nein, auf all diese Fragen und gut gemeinten Hinweise hatte Hülsmann keine Lust. Die Welt erklärt sich manchmal einfach nicht. Schon gar nicht an einem solchen Tag, der besser still enden sollte oder eben in dieser anderen zeitlosen Welt eines Luftikus. Ohne die große Literatur und ohne die noch größere Politik.

Ja, das Luftikus ist ihm irgendwie näher, vertrauter, trotz Freddy Quinn, der Musikbox und dem Schiff, das nach Hongkong fährt:

Fährt ein weißes Schiff nach Hongkong.

Hab ich Sehnsucht nach der Ferne.

Aber dann in weiter Ferne.

Hab ich Sehnsucht nach zu Haus.

Das Luftikus möchte sich verstecken. So wie er sich selbst verstecken möchte vor den Augen der Welt. Vor den Fragen, die er nicht beantworten kann und die er, selbst wenn er sie beantworten könnte, nicht beantworten will.

Also dann nicht in die eitle Schönhauser mit den vielen Geschäften, sondern in die Pappel und dann ins Luftikus. Wenn man seine Ruhe haben will, ist es besser. Aber Ruhe ist ja auch übertrieben.

Machst ja ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter, bemerkt jetzt Angie und schaut betroffen mit den großen braunen Augen.

Hülsmann zuckt nur mit den Schultern. Was soll er auch sagen. Jetzt wo er eine Auflage hat und die Stadt nur nach Genehmigung verlassen darf. Dabei hat er dem Ottmar versprochen, an einem der nächsten Wochenenden mit nach Drehna zu fahren, dort in die Niederlausitz, wo Ottmars Vater eine Pfarrstelle bekleidet. Und er hatte sich gefreut, auf die Gegend und die Leute und einigen neuen Stoff für ein Theaterstück, an dem er jetzt schreibt. Aber das kann er nun wohl vergessen.

Das Theater doch auch, sagt Lothar, der, würde er nicht an der Volksbühne Elektriker sein, ein Theater noch nie von innen gesehen hätte. Schreibst doch ohnehin nur für die Schublade. Das machen im Kiez doch alle.

Naja, die Bemerkung hätte sich der lange Lothar verkneifen können. Also muss der dicke Schüller ran. Auch der hat keine Ahnung von Literatur und Theater. Aber immerhin hat er ein tröstendes Wort. Auch wenn er selbst nicht daran glaubt. Irgendwann, sagt er, dann werden sie dich schon spielen. Vielleicht in der Volksbühne.

Bei so viel Quatsch kann nicht mal Lothar lachen. Vom Kulissenschieber zum Starregisseur, ich sehe schon die Schlagzeilen.

Vielleicht im Neuen Deutschland! Lothar schüttelt den Kopf. Du hast sie ja nicht mehr alle.

Warum denn nicht, verteidigt sich Micha Schüller. Der Hans ist wirklich gut.

Ob gut oder nicht, wer will das schon einschätzen. Die Texte hat er nur im Wiener Café vortragen können, in Auszügen versteht sich. Und manchmal bei diesen Lesungen auf irgendeinem Dachboden oder bei den Treffen der Freunde. Nein, eigentlich müsste Hülsmann Theater machen, aber das ist ja auch nicht so einfach. Ein Studium! Wo denkt ihr hin? Die Bedingungen, die … naja, das muss wohl nicht weiter erklärt werden. Das weiß ja jedes Kind. Und jetzt kann er erst recht alles vergessen.

Wenn die einen erst mal auf den Kieker haben …, Schüller weiß Bescheid.

Lothar nickt. Nun musst du doch nicht alles schwarzmalen. Kopf hoch Hülsmann!

Wir haben auch nicht studiert und siehst ja, was aus uns geworden ist. Dabei schlagen sich Micha und Lothar gegenseitig auf die Schultern.

Eben, sagt Angie. Schaut euch mal an.

Aber die beiden können nichts an sich erkennen. Egal wie lange sie sich mustern. Wird eben nicht besser.

Also dann lieber noch ein Bier von Angie, die vorher noch dem alten Chef in der Ecke ein neues Kännchen Kaffee auf den Tisch stellt.

Und vielleicht ist das schon genug, eine freundliche Bedienung in einem Land, das so unfreundliche Maßnahmen kennt. Noch dazu von Angie, deren Reize selbst dem Hülsmann nicht verborgen bleiben. Dabei geht der Kopf jetzt über von quälenden Gedanken.

Also, dann vielleicht doch noch ein Berliner. Und ein Korn kann ja auch nicht schaden.

6

Kreuzberger Nächte sind lang … so singen sie, dass sich der Lärm im Haus sammelt und die Treppen hinabläuft. Dabei ist die Tür im dritten Stock bei Frenzels noch geschlossen. Aber so heißen sie erst seit heute. Genauer – nach dem Besuch im Standesamt, Herr und Frau Frenzel, geborene Nusselbeck.

Kann man gut verstehen, dass die Nusselbeck nicht mit der Hochzeit warten wollte, sagt Ottmar Graustock, der auf den Treppenflur getreten ist. Bei dem Namen. Dabei lehnt sich der junge Mann mit seinem altmodischen schwarzen Anzug, den er selbst beim Kohlenholen trägt, an den Türrahmen.

Aber das ist noch lange kein Grund, uns die Nacht zu rauben, schimpft Getschmar, der gerade die Treppe hinaufkommt und wohl ahnt, was passieren kann. Sein dünnes graues Haar hat er über der faltigen Stirn ordentlich zur Seite gescheitelt. Wie immer, wenn er von der Arbeit kommt, trägt er eine braune Aktenledertasche. Getschmar ist Leiter. Volksbildungsabteilung des Bezirksamtes Berlin-Prenzlauer Berg. Und das ist schon was, wenngleich nicht alles! In der Gethsemanestraße 5 führt er noch das Hausbuch und ist Vorsitzender der Hausgemeinschaftsleitung. Und damit ist er wichtig. Sehr wichtig sogar, auch wenn Genosse Getschmar, darauf angesprochen immer abwehrt. Nein, nein, das ist nur meine Pflicht. Ehrenamtlich, versteht sich.

Natürlich, Herr Getschmar, Sie tun nur Ihre Pflicht!

Seine Pflicht ist auch der Hinweis auf die mögliche Beeinträchtigung der nächtlichen Ruhe. Und das mit hellseherischer Fähigkeit, wie auch sonst: Ich seh schon kommen, dass man heute Nacht kein Auge zumachen kann. Wäre ja nicht das erste Mal.

Sondern?, fragt Graustock interessiert. Der junge Mann ist erst vor einigen Wochen aus diesem Drehna aus der Niederlausitz in das alte Berliner Mietshaus gezogen.

Getschmar stellt die Aktentasche auf den Boden. Dann zieht er die Hosen an den Gürtelschnallen hoch und macht ein vielsagendes Gesicht. Die dritte Hochzeit Frenzels, flüstert er. Und das in nicht mal zehn Jahren.

Graustock scheint es nicht zu erschrecken, nur die hellen großen Augen kneift er hinter der Nickelbrille zusammen. Mehr nicht.

Naja, sagt Getschmar, als ahnt er schon, dass dem jungen Mann dies alles nichts bedeutet. Was weiß der schon? Aber das sagt er nicht. Lieber schaut er in das schmale blasse Gesicht von Graustock und denkt sich seinen Teil.

Nun, die Nusselbeck hat er ja schon drei Jahre, führt Getschmar jetzt doch aus, ist ja gleich mit eingezogen. Aber der Junge, der ist aus seiner ersten Ehe. Ziemlich deformiert, wenn Sie verstehen. Kein Wunder, den muss man sich bloß anschauen.

Aus der ersten Ehe?, fragt Graustock interessiert, woher wissen Sie das alles.

Ja! Getschmars rechter Zeigefinger geht in die Höhe. Dafür hat man eben ordentlich geführte Hausbücher! Von wegen, mir kann man da nichts vormachen. Gar nichts, wenn Sie verstehn.

Graustock bleibt nichts anderes übrig.

Aber was dann aus diesen Menschen wird, tja … Getschmar schüttelt den Kopf. Sieht man ja, rote Haare und die, na wie soll ich sagen, wie bei einem Indianer …

Irokesenschnitt, verbessert der junge Graustock.

Genau so!, ruft Getschmar. Irokese und das mitten im Prenzlauer Berg. Hauptstadt der DDR. Hat wohl zu viele Indianerfilme gesehen, mit Gojko Mitić oder wie der heißt. Dabei geht sein Kopf jetzt auf und ab. Dann lehnt er sich zu Graustock hinüber und flüstert: Aber vielleicht bekommt der auch noch ganz andere Sachen zu sehen. Bei den Eltern würde mich das nicht wundern! Getschmar schaut sich ängstlich um. Doch im Treppenhaus ist niemand. Also fährt er fort: Nein, der Bursche war schon sechs Jahre alt, als die in das Haus zogen. Frenzels erste Frau hab ich selbst nicht gekannt und im Hausbuch war die auch nicht eingetragen. Aber das ist ja alles modern heute, nicht wahr?

Eine Antwort muss Graustock nicht geben, denn in diesem Moment springt im dritten Stock die Tür auf. Die Hochzeitsgäste treten singend auf den Treppenflur. Frenzel selbst, ein gutmütiger rundlicher Mittdreißiger, führt die Polonaise an. Seine neue Frau, eine etwas kräftige Dame mit frisch gefärbten blonden Locken, eine Freundin und der halbwüchsige Sohn mit dem Irokesenschnitt folgen. Im Entenmarsch, die Hände dem jeweiligen Vordermann auf die Schultern gelegt, kommen die Hochzeitsgäste polternd und lärmend die Holztreppe hinab: Wir ziehen los, mit ganz großen Schritten und

Getschmar schüttelt den Kopf und fasst die braune Aktentasche fester.

Als Frenzel, noch immer an der Spitze des Zuges, eine halbe Treppe tiefer Getschmar erblickt, stockt er. Aber ein kurzer Stoß von hinten treibt ihn wieder an. So also geht es lärmend weiter.

Gratuliere zur Eheschließung, ruft Getschmar seinerseits mit hochrotem Kopf und drückt sich an die Hauswand.

Frenzels Dank geht im Refrain unter.

Machen Sie doch mit, Herr Getschmar!, ruft die Nusselbeck alias Frenzel mit schwerer Zunge und weist mit einer Handbewegung auf das Ende des kurzen Zuges. Sind doch sonst so fürs Kollektiv … Und das andere, darüber wollen wir lieber nicht reden …

Frenzel zischt die Braut an und macht ein böses Gesicht.

Nein, lassen Sie mal, wehrt Getschmar ab. Vielleicht macht der Graustock mit, der ist jung und gut gebaut.

Doch Ottmar Graustock ist längst hinter seiner Wohnungstür verschwunden.

Einreihen, rufen jetzt die Gäste im Chor, sodass Getschmar verlegen lächelt.

Nun kommen Sie schon, lallt eine andere Frau und schiebt Getschmar in die Schlange. Brauchen doch keine Extrawurst!

Getschmar tritt der Schweiß auf die Stirn. Doch da ist er schon eingereiht, auch wenn er nur eine Hand auf die Schulter von Frau Frenzel, geborene Nusselbeck, legen kann, weil er mit der anderen die braune Aktentasche hält.

So ziehen die Gäste weiter, … mit ganz großen Schritten, und Erwin fasst … hinunter bis in den Hausflur, wo sie aufpassen müssen, weil doch der alte Löffler aus dem Erdgeschoss seine leeren Schnapsflaschen immer in den Gang stellt, dann auf den Hinterhof, wo sie zwei Bögen um die rostigen Wäschestangen und die verbeulten Mülleimer drehen. Ja da kommt Freude auf!, singen sie und jauchzen vor Vergnügen.

Aber aufpassen, ruft jetzt Getschmar, das Beet! Dass mir da keiner reintritt.

Was für Beet?, fragt die Freundin der Nusselbeck.

Getschmars Beet dort an der Mauer, klärt die neue Frau Frenzel auf und stolpert dabei mit der schweren Zunge nicht nur über die Worte. Steht jeden Abend drin und hackt und gießt und jätet.

Das Handtuch da!, ruft ein anderer und zeigt auf das penibel gepflegte Stück Erde mit Astern, Primeln, Margariten und einer mannshohen Sonnenblume.

Selbst Kerne!

Für die Spatzen im Winter, nicht wahr Herr Getschmar?, wendet sich die Braut ihrem Hintermann zu.

Getschmar nickt nur.

Und der Rosenstock?

Ja, was Besonderes, Frau Nusselbeck, oder muss ich doch besser Frenzel sagen?

Ach, wie Sie wollen, Getschmar. Aber es wird richtige Rosen geben! Und das in unserem Hinterhof!

Hört auf zu quatschen, singt lieber mit!, schreit Frenzel und gibt den Ton wieder an.

Wir ziehen los mit ganz großen Schritten … ertönt der Refrain im Chor und die Menschenschlange macht einen ehrfürchtigen Bogen um Getschmars kleines Hinterhofbeet.

Eine junge blasse Frau, die sich einen dicken Bauch hält, schließt im Erdgeschoss des Seitenflügels die Fenster.

Typisch für die Golzen, murrt Getschmar. Sich immer ausschließen aus dem Wohngemeinschaftskollektiv. Und der Freund ist auch nicht besser. Aber was will man von solchen Leuten schon verlangen. Hängen ja nicht mal die Fahne aus dem Fenster an den Feiertagen.

Bisschen Musike würde dem Kind auch nicht schaden, ruft Frenzel und weist auf den dicken Bauch.

Früh übt sich!, ergänzt kreischend seine Braut.

Mit einer letzten Runde um die Mülltonnen verabschiedet sich der Zug vom Hof und poltert die Treppe im Vorderhaus hinauf. Auch an Hülsmanns Wohnung ziehen sie vorbei. Schon wieder so ein Spielverderber, ruft die Nusselbeck, als der Zug den zweiten Stock erreicht. Dabei wippen ihre blonden Locken im Takt.

Der hat doch nur seine Bücher im Kopf, sagt Frenzel. Amüsieren kann der sich doch gar nicht.

Eben, ruft seine Braut, so ein paar Frauen sollten da nicht schaden! Und meine Freundin Rosi können wir doch nicht dem Getschmar überlassen!

Getschmar ringt sich ein Lächeln ab.

Den Hülsmann hat heut noch keiner gesehen, soll ja immer im Wiener Café sitzen. Die Jugend eben, immer quatschen, aber vom Arbeiten wollen die nichts hören.

Nein, der hat sonst auch nichts zu bieten, sagt Getschmar und ordnet mit einer Hand die dünnen grauen Härchen.

Aber ist zwanzig Jahre jünger, ergänzt die Nusselbeck leise, sodass es der Getschmar nicht hören kann.

Ist ja gut jetzt, ruft Frenzel und nimmt den Refrain wieder auf: Wir ziehen los

Ist das wirklich so ein Bücherwurm, der Hülsmann?, fragt jetzt die Rosi ungeduldig.

Natürlich, ruft Getschmar. Und Getschmar muss es wissen. So einem Hausbuchführer entgeht eben nichts. Der kommt, schnauft er, doch aus der Wohnung nicht raus. Ist doch auch bloß so ein Schreiberling. Sieht man ja schon, wie der aussieht. In dieser Montur hätten sie ihn früher abgeholt, aber nein, jetzt ist das ja schon normal. Jedenfalls für diese Menschen vom Theater. Da soll man mal die Welt verstehn. Weiß gar nicht, wovon der lebt, als Handwerker ist es ja da auch nicht so dolle mit dem Geld, wenn Sie verstehen. Also von wegen ein richtiger Mann, da haben wir hier im Haus ganz andere Kerle!

mit ganz großen Schritten

Das kann ich mir denken, antwortet die Braut und zwinkert Getschmar zu. Dabei spielt sie mit der Zunge in den Mundwinkeln, dass dem Getschmar ganz anders wird. Und das gerade jetzt, wo Erwin der Heidi von hinten an die Schulter fasst. Ja, da kommt Stimmung auf!

Vor einigen ist wirklich niemand sicher. Nur an die Hexe traut sich keiner ran!

Genau, ruft Frenzels Sohn, die Jankowitz, der möchte man lieber nicht begegnen. Das gibt Albträume. Hexenalbträume.

Die Hochzeitsgäste lachen.

Also, dann schnell weiter, nicht dass die Hexe noch aufmacht, ruft die Nusselbeck, das gibt einen Schreck fürs Leben. Dann doch lieber die Kerle. Die können doch nicht alle weg sein.

Oder doch?

Was ist denn mit dem Voss von oben?

Keiner da, ruft Frenzels Sohn, der mit seinem Irokesenschnitt den Abschluss der Polonaise bildet. Hättest du eben vorher einladen sollen.

Wusste ja nicht, dass das so lustig wird, verteidigt sich die Braut und stößt ihre Freundin an. So geht es weiter, … mit ganz großen Schritten und Erwin fasst der Heidi von hinten an die Schulter …, was Getschmar nun irgendwie missversteht, sodass die Nusselbeck alias Frenzel jedes Mal bei eben dieser Textstelle aufkreischt.

Frenzel ändert daraufhin das Liedgut und schon sind die Kreuzberger Nächte wieder lang. Aber dann, aber dann

Nur Getschmar scheint der Text ganz und gar nicht zu passen. Prenzlberger Nächte sind lang, singt er lauter als alle anderen.

7

Ein komischer Vogel ist er ja.

Wer? Der Graustock?

Nein, der natürlich auch. Aber ich mein den Hülsmann.

Ach der, jaja, wie der schon rumläuft. Mit dieser schweren alten Zimmermannskluft. Und das nur wegen der großen Taschen und dem Stoff, der so derb ist, dass der noch in hundert Jahren hält. Nur waschen kann das keiner.

Ja, das sieht schon komisch aus, ein bisschen wie früher. Und der Hut erst. Vielleicht weil keiner die langen schwarzen Haare sehen soll.

Also ein Gang zum Friseur könnte da nicht schaden.

So gehen sie auseinander, die Frenzel und die Postfrau. Vorn im Hauseingang, wo die Briefkästen in einer langen Reihe an der Wand hängen.

Doch Hülsmann ist das egal. Genauso wie ihm vieles andere auch egal ist. Lebt eben sein eigenes Leben, da im zweiten Stock eines Mietshauses im Pappelkiez, Prenzlauer Berg. Fährt zur Arbeit ins Theater, Frühschicht oder Spätschicht, schiebt die Kulissen hin und her, baut auf und ab, trägt was hierhin und dorthin. So wie man das macht, wenn man sich Theaterarbeiter nennen darf. Oder besser Theaterhandwerker, was auch nichts anderes ist als ein Kulissenschieber. Und damit die unterste Ebene der Hierarchie im Theater beschreibt. Da ist der Lothar schon was anderes als Theaterelektriker oder die Leute auf dem Schnürboden oder gar die Requisiteure.

Aber Hülsmann ist auch das egal. Wenigstens, er ist am Theater. Und das wegen der Stücke, ob am Abend oder in den Proben. Es sind die Dialoge, die es ihm angetan haben. Dialoge?

Ja, Dialoge. In den Worten spiegeln sich die Seelen der Menschen, sagt er. Es ist wie das Abschreiten eines unbekannten Terrains. Ein Schachspiel mit Worten und unvorhersehbarem Ausgang. Umso komplizierter, desto besser. Am Ende gibt es immer einen Sieger. Oder zwei Verlierer.

Und das nur wegen der Sprache. Die Sprache verrät die Menschen. Dazu brauchen sie gar nicht handeln. Die Sprache verrät sogar das Denken.

Also dann doch wieder Dialoge. Das Aufeinanderprallen von Gefühlsarmeen und Denkpolizisten. Egal ob Heiner Müller oder Molierè, alles interessiert ihn. Vielleicht weil er selbst schreibt, aber das ohne Erfolg. Theater! Als wenn die Welt nicht Theater genug ist.

Hülsmann bringt es so zu nichts, wie schon Frau Neumann bei der letzten Aussprache betonte. Und die weiß es genau. Ist schließlich Kaderleiterin an der Volksbühne. Eine Autorität also und das will schon was heißen. Oder könnte zumindest.

Da hat Hülsmann nur gelacht, den schwarzen Hut wieder aufgesetzt und das Zimmer der Kaderleiterin verlassen. Wozu sollte er es bringen?

Er hat doch was, etwa eine Freundin, eine echte, und die ist immerhin Ärztin, auch wenn der Vater Katharinas gegen diese Beziehung ist. Aber was anderes kann auch Hülsmann nicht erwarten, schließlich ist der Vater in der Partei und dann noch ein Sekretär. Und Parteisekretäre, egal an welcher Institution sie auch immer arbeiten, werden sich immer schwertun mit Menschen wie Hülsmann. Menschen, die so gar nicht in das Bild der Gesellschaft passen, wie der Vater das sagt. Und Heinrich Hoffmann, wie der Vater heißt, hat dafür immer ein Gefühl, ob jemand passt oder nicht. Schließlich hat er Lebenserfahrung.

Kein Wunder, denn dank der gesellschaftlichen Bedingungen, wie er bei jeder Gelegenheit betont, hat er sich hocharbeiten können. Und das aus ärmlichen Verhältnissen. Die Mutter Putzfrau, der Vater Schaffner. So ist aus dem Dreherlehrling eines Schwermaschinenkombinats ein Propagandist und aus dem Propagandisten ein FDJ-Sekretär geworden. Dazu bedurfte es einiger Anstrengung, die Heinrich Hoffmann nicht scheute. Parteilehrjahr heißt so eine Anstrengung, also Schulung, sozialistische Ökonomie und Marxismus-Leninismus, damit das Ganze eine Grundlage hat. Lernen, lernen, nochmals lernen war einer der Wandzeitungssprüche, mit denen Hoffmann groß geworden ist und die er ganz und gar verinnerlichte. Wenn dann noch ein fester Klassenstandpunkt hinzukommt, kann nichts mehr schiefgehen. Gar nichts mehr.

Hoffmann lächelt. Es ist so ein vielsagendes überhebliches Lächeln. Am Ende ist aus dem FDJ-Sekretär ein Parteisekretär im Kabelwerk Oberspree geworden. Einer, der jetzt hinter einem großen Bürotisch sitzt und sich nicht mehr die Hände schmutzig machen muss. Dafür ist er eine Art zweiter Betriebsdirektor mit weitgehenden Vollmachten, wenn es um den Produktionsprozess und die Planerfüllung geht. Und er kann in verantwortlicher Position am Sieg des Sozialismus arbeiten. Was schon schwer genug ist. Auch wenn die Republik in wenigen Monaten ihren 40. Geburtstag feiert. Geschafft ist es noch lange nicht.

Entsprechend missmutig schaut er mit berechtigtem Argwohn auf die Entgleisungen in der Gesellschaft. Da vergeht ihm das Lächeln gleich.

Muss doch nur daran denken, was da los ist in Budapest und neuerdings sogar in Berlin. Da sollen irgendwelche Bürger zur BRD-Botschaft und wollen am liebsten bleiben oder gleich nach dem Westen. Selbst wenn es nicht mal eine Handvoll ist und eigentlich völlig zu vernachlässigen. Aber, schimpft Hoffmann, wo kommen wir denn da hin, die Rechtsordnung so zu missachten. Und angefangen hat das alles mit der Perestroika. Kann ja gut sein, dass der Gorbatschow neue Ideen hat und so, aber ehrlich, vorher gab es so was nicht. Das muss man doch auch mal zur Kenntnis nehmen!

Entgleisung also, so eines seiner Lieblingswörter, der meist die Entfremdung vorangeht. Und natürlich fehlt in diesem Vokabular auch nicht die Entartung. Entartet ist bei Heinrich Hoffmann viel, die Jugend, die Zeit, das Denken, die Kunst.

Da haben es die Hülsmänner nicht leicht. Vor allem wenn sie sich zu allem Überfluss, mit eben dieser Kunst schmücken. Denn Kunst ist, wie Hoffmann meint, nicht nur nicht handfest, das ginge ja noch, Kunst ist gefährlich. Und man weiß ja nie, wo es damit endet.

Also, was noch?

Nun, Hülsmann hat sein Buch und den Mantel. Natürlich hat Hülsmann noch viele Bücher, aber dieses ist eben ein besonderes. Und das nicht nur wegen dem braunen Schweinsleder.

Kein Wunder, wenn es Hülsmann sein Heiligtum nennt. Alles was er darin festhält und das ist, obgleich ausgesucht, nicht wenig, wird Teil der Ewigkeit. Das Buch, das er auch heute liebevoll seine Parerga und Paralipomena nennt, behütet er wie seinen Augapfel. Stets trägt er es bei sich und hat dafür in die Innenseite seiner Weste eine Tasche genäht. Das Buch bläht so den Bauch, aber auch das ist Hülsmann egal, das Buch bleibt bei ihm.

Die Texte sind kaum leserlich. Hülsmanns Schrift ist nämlich klein, so klein, dass sie kaum zu entziffern ist. Da braucht es manchmal eine Lupe. Aber es liest ja auch niemand. Nur Hülsmann selbst und der hat allen Grund, das Buch bis zur letzten Seite zu füllen. Sei es mit Theaterstücken, Gedichten, Erzählungen, Zitaten oder nur Dialogen, die Hülsmann irgendwo aufschnappt und dann zu Papier bringt. Je kleiner er schreibt, desto mehr kann er sich mitteilen.

Das Buch ist Teil seiner selbst, mit ihm hält Hülsmann Zwiesprache, ihm vertraut er sein Denken und Fühlen an. Es ist eine Art Tagebuch ohne Tagebucheintragungen, weil Hülsmann seine Worte anderen Figuren in den Mund legt. Und diese Figuren wiederum sind Teil seines eigenen Theaters.

Ähnlich theatralisch verhält sich Hülsmann mit dem Mantel. Einem echten Zaubermantel, wie er sagt. Gekauft hat er ihn im Zweite-Hand-Laden Pappelallee, Ecke Stargarder. Es ist der größte Trödelladen im Kiez. Der Mantel ist aus schwerer schwarzer Wolle und so lang, dass er bis zu den Knöcheln reicht. Die Zauberkraft dieses Mantels besteht in seiner Tarnfunktion. Angezogen verschwindet man mit ihm und kann fortan die Welt aus dem sicheren Abstand eines Unsichtbaren betrachten. Also doch goldwert! Und wer wollte nicht mal unsichtbar sein und damit sich und alle Welt vergessen? Also auch das ist normal, jedenfalls nicht ungewöhnlich. Warum allerdings ausgerechnet dieser Mantel unsichtbar macht, kann nicht mal Hülsmann sagen, der sonst für alles eine Erklärung hat. Und das man an der Pappelallee, Ecke Stargarder, Zaubermäntel für zwanzig Mark verkaufen soll, erscheint auch wenig glaubwürdig. Aber vielleicht war es eben Zufall, so wie alles in der Welt Zufall ist oder Schicksal oder gottgegeben. Eben vorherbestimmt. Oder?

Nein, nein, so weit will dann auch Hülsmann nicht gehen. Immerhin hängt das wertvolle Stück griffbereit an einem dicken Haken neben seiner Wohnungstür. Ist er nicht mehr da, gibt es auch Hülsmann nicht. Der lässt sich dann im Mantel auf seinem dicken braunen Ledersessel nieder und betrachtet die Welt aus der Ferne. Entrücktsein, nennt er seinen Zustand selbst. Oder Kontemplation in Zeit und Raum!

So also ist es mit Hülsmann. Von wegen, dass er es zu nichts bringt. Da kann die Kaderleiterin an der Volksbühne noch so sehr das Gegenteil behaupten. Und was heißt das schon, es zu etwas bringen. Das Leben schreibt seine eigenen Aufgaben, sagt Hülsmann, wer sie löst, ist erlöst.

Also doch!

Was?

Ein komischer Vogel.

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