Kitabı oku: «Neue Schweizer Bildung (E-Book)», sayfa 4

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Dank der Berufsmaturität wird das Bildungssystem durchlässiger.

Die Berufsmaturität gilt als Paradepferd der neueren Schweizer Bildungslandschaft. Zuweilen erwartet man ungemein viel von ihr. Als eine Art eierlegende Wollmilchsau soll sie alles leisten, was an Forderungen an die Bildung herangetragen wird: vom Upskilling bis zur Integration. Man meint, sie ächzen zu hören unter diesem Erwartungsdruck. Dabei ist sie ein eher filigranes Konstrukt: Von Beginn weg musste sie die Doppelbelastung von Schule und Arbeit im Betrieb stemmen. Es gilt, von den Jugendlichen, die diesen Weg wählen, nicht Übermenschliches zu erwarten. Ist die Berufsmatura ein Murks? Ja und nein. Ja insofern, als sie eine Doppelbelastung darstellt. Man kann sich an die eigene Jugendzeit, die eigene Lehre erinnern, vermutlich hätten viele das nicht stemmen können. Nein insofern, als der duale Bildungsweg geschätzt wird. Viele Jugendliche nehmen lieber eine zusätzliche Belastung in Kauf, als länger die Schulbank zu drücken. Andere wissen schlicht nicht, was auf sie zukommt. Aber: Wenn der duale Weg eher akzeptiert wird als ein vollschulisches System, kann man die Beliebtheit dieses Bildungswegs nutzen.

Für sozial schwächere Familien beziehungsweise deren Kinder ist die Berufsmaturität ein Weg und Mittel zum Aufstieg. Doch was ist sie für Akademiker*innenfamilien? Wie wird sie zur echten Alternative? Was braucht es, dass auch sie diesen Weg für ihre Jugendlichen in Betracht ziehen? Man kann den Akademiker*inneneltern Vorurteile, Bildungsdünkel und Unkenntnis des Schweizer Bildungssystems vorwerfen. Das ist aber keine so gute Strategie. Ein besseres Argument ist die Durchlässigkeit. Die Architekt*innen des dualen Bildungswegs haben das früh erkannt. «Kein Abschluss ohne Anschluss» lautet die Formel. Die Möglichkeit, vom dualen jederzeit auf den akademischen Weg wechseln zu können, kann für Akademikerfamilien ein entscheidendes Argument sein. Nach der Berufsmatura kann man über die Passerelle an die Universität wechseln. Auch nach der Fachhochschule ist das möglich. Zwar sind diese Wechsel mit Aufwand verbunden und das Vertrösten, Bildung könne mit dreissig oder vierzig Jahren immer noch nachgeholt beziehungsweise ausgebaut werden,[29] ist nicht unproblematisch. Doch allein die Möglichkeit ist von zentraler Bedeutung. So können Richtungsentscheidungen später im Leben revidiert werden – und zwar auf beide Seiten. Profan ausgedrückt: Wenn Akademiker*inneneltern fürchten, ihre Kinder an die Welt der dualen Bildung zu verlieren, besteht doch die Hoffnung, dass sie später, falls sie möchten, zurückkehren können zur akademischen Bildung. Man mag lächeln über ein solches Argument. Doch es ist wichtig. Hinzu kommt: Nicht alle Jugendlichen schaffen den Sprung ins Gymnasium. Die Berufsmaturität bietet auch jenen echte Bildungskultur, die den dualen Weg nicht freiwillig antreten.

Die Berufsmaturität etabliert eine neue Bildungskultur.

Akademiker*inneneltern fürchten bisweilen, der duale Bildungsweg unterstütze die Anstrengungen ihrer Erziehung nicht, sondern unterlaufe sie geradezu. Sie fürchten um die Bildungskultur innerhalb der Berufsmaturität. Erfährt dort nicht Geringschätzung, was ihnen wichtig ist? Nämlich Bildung um der Bildung willen? Was geschieht mit der Welt des Geistes, des Spiels, der Kritik – in einem streng auf Nützlichkeit hin ausgerichteten Bildungsverständnis? Ist durchökonomisierte Ausbildung nicht das Gegenteil von Bildung?

Ein Beispiel dafür, wie man mit Bildungskultur nicht umspringen sollte, liefert die gegenwärtige unselige Diskussion über die zweite Landessprache in der Bildungsreform «Kaufleute 2022».[30] Diese sollte für angehende Kaufleute vom obligatorischen Grundlagen- zum Wahlpflichtfach herabgestuft werden. Zur Wehr gesetzt hat sich der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz.[31] Auch gibt es politischen Widerstand. In seiner Antwort auf eine Interpellation hält der Bundesrat fest:[32] Die Inhalte der Grundbildung sind zwar Sache der Organisationen der Arbeit, doch ausnahmsweise soll den Kantonen das Recht eingeräumt werden, in dieser politisch sensiblen Frage mitzureden. Obwohl es nur die Grundbildung betrifft, machen Beispiele wie dieses misstrauisch. Die Berufsmaturität ist für Akademiker*inneneltern nur dann eine echte Alternative, wenn sie Bildungskultur repräsentiert. Wenn sie mehr ist als blosse Ausbildung. Mit Bildungskultur ist jene Kultur gemeint, die vereinfachend als klassisch humanistisch bezeichnet werden kann. Die Chancen dafür stehen gut. Die Berufsmaturität beinhaltet Allgemeinbildung, ästhetische Bildung, abstraktes Denken. Übrigens: Nach der öffentlichen Aufregung ist die Reform «Kaufleute 2022» auf ihren Entscheid zurückgekommen. Der Kaufmännische Verband empfiehlt jetzt, den Französischunterricht beizubehalten.

Das Gymnasium kann viel lernen von der Berufsbildung. Umgekehrt gehört in die Berufsbildung eine Bildungskultur, wie sie am Gymnasium gelebt wird. Das ist keine Selbstverständlichkeit, denn Lerninhalte werden auf Ebene der Grundbildung vor allem von den Organisationen der Arbeit vorgegeben. Auch bei den Lerninhalten der Berufsmaturität sprechen sie ein gewichtiges Wort mit. Aber dort ist die Situation anders. Das wird durch die Struktur der BM sichergestellt. Die Eidgenössische Berufsmaturitätskommission EBMK[33] besteht aus 15 Vertreter*innen von Kantonen, Organisationen der Arbeitswelt, Berufsfachschulen und Fachhochschulen. Mit dieser Verteilung wird sichergestellt, dass die Bildungsziele im Verbund festgelegt werden – und so als Abbild einer Bildungsidee gelten können, die sich aus dem Widerstreit verschiedener Interessen ergibt.

Der Rahmenlehrplan der Berufsmaturität[34] zeigt: Die BM versteht sich nicht als rein fachlich orientierte Bildung. Allgemeinbildende und berufsspezifische Fachbereiche stehen in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander. Die Berufsmaturität folgt einer Gliederung in einen Grundlagen-, Schwerpunkt- und Ergänzungsbereich. Der Grundlagenbereich ist für alle gleich, er umfasst die erste und eine zweite Landessprache, Englisch und Mathematik. Je nach Ausrichtung unterscheiden sich die Fächer innerhalb des Schwerpunkt- und des Ergänzungsbereichs. Von den vielfältigen Bildungszielen der Berufsmaturität betont der Rahmenlehrplan BM besonders zwei: Das eine ist die Fachhochschulreife. Das zweite ist die erweiterte Allgemeinbildung, genauer der Aufbau von Wissensstrukturen auf der Grundlage der beruflichen Erfahrung. Beide Ziele beinhalten sowohl Fachkompetenzen als auch weiter gefasste Kompetenzen wie geistige Offenheit, persönliche Reife, Verantwortung und Selbstreflexion. Mit der Berufsmaturität kehrt wieder mehr Bildung in die Ausbildung zurück. Das ist ein erfreulicher Prozess. Dass es ökonomische Faktoren sind, welche die Bildung fördern, ist eine spannende Pointe der Geschichte.

Das Verhältnis von Bildung und Ausbildung muss neu gedacht werden.

Moderne Bildung ist von Beginn weg zweierlei: Sie ist eine Folge der Industrialisierung, gleichzeitig definiert sie sich in Abgrenzung dazu. Diese Dialektik führt die Schule zum Erfolg – ohne dass die Diskussionen darüber, was Bildung genau sein soll, jemals verstummt wäre. Oft wird diese Dialektik sowohl zweckfreier als auch funktionalistischer Bildung an Humboldt festgemacht. Wilhelm von Humboldt ist ein wichtiger Bildungsreformer im Deutschland des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Seine Bildungsreform knüpft an den humanistischen Kern der Aufklärung an. Aufbauend auf Humboldts Ideen wird im deutschen Sprachraum jene Aufteilung in Bildung und Ausbildung vollzogen, die wir heute als Aufteilung in einen akademischen und einen dualen Weg kennen. Zwar erfasst die moderne Bildung ab dem 19. Jahrhundert die breite Masse, doch gleichzeitig wohnt ihr ein elitäres Moment inne, das nur aus seiner Entstehungszeit heraus verstanden werden kann. Das Gymnasium ist noch lange nach Humboldt einer schmalen Elite vorbehalten. Für die übrigen ist zwar auch eine gewisse Grundbildung, danach aber eine nützliche Ausbildung vorgesehen.

Humboldt verwahrt sich gegen eine Vereinnahmung der Bildung für Nützlichkeitsdenken aller Art. Dabei hat er vor allem die Grundbildung und die gymnasiale Bildung im Blick. Es verwundert nicht, dass wir heute, in der Zeit der Industrialisierung 4.0, mit den gleichen Spannungsfeldern konfrontiert sind. Der Ruf nach Nützlichkeit von Bildung ist nicht neu. Doch es gibt heute so wenig Grund wie damals, vom Ideal einer Bildung abzuweichen, die sich am Menschen orientiert – nicht an seiner Verwertbarkeit. Zweckfreie und unabhängige Bildung muss – das ist Teil des Projekts Aufklärung – von jeder Generation aufs Neue gegen vulgär-utilitaristische Vorstellungen verteidigt werden. Zum Wesen der Bildung gehört ebendies: dass sie sich und ihre Grundlagen gleichsam selbst vermittelt, dass sie den Lernenden ihren Wert bewusst macht; den kulturgeschichtlichen Rahmen der Aufklärung. Dass Bildung mehr und etwas anderes ist als Ausbildung, versteht sich nicht von selbst. Man kann und muss es lernen.

Dies ist aber nur die eine Seite des dialektischen Verhältnisses von Bildung und Wirtschaft. Die andere Seite ist ebenso wichtig: Bildung ist nicht nur ein Kind der Aufklärung, sondern auch der Industrialisierung. Sie verdankt ihre Existenz zu ganz wesentlichen Teilen ebenjener Wirtschaft, von der sie sich immer wieder abgrenzt. Der Motor der modernen Schule ist der technische und wirtschaftliche Fortschritt. Das gehört auch zum Gesamtbild der Bildung. Vielleicht muss, wenn allzu romantische Reden angestimmt werden von der Zweckfreiheit der Bildung, diese Seite in Erinnerung gerufen werden.

Industrialisierung und Bildung gehen eine komplizierte Allianz ein. Es ist nicht verwunderlich, dass sich der Konflikt immer wieder an der Frage der Nützlichkeit entzündet. Die Doppelnatur moderner Bildung zeigt sich schon im Begriff der Schule. Bei den antiken Griechen hiess Schule Musse. Sie war jener Bevölkerungsschicht vorbehalten, die es sich leisten konnte, eben nicht arbeiten zu müssen. Diese Auffassung von Bildung steht einem funktionalistischen Bildungsverständnis diametral gegenüber. In unserem heutigen Bildungsbegriff konkurrenzieren sich die beiden gegensätzlichen Auffassungen. Auf begrifflicher Ebene versucht man das, zumindest auf Deutsch, im Gegensatzpaar von Bildung versus Ausbildung zu fassen. In Ländern mit zwei Bildungswegen steckt immer noch viel von jenem Gegensatz in diesen Wegen – nicht nur als Selbstinszenierung der Akademiker*innen, sondern auch im Selbstverständnis handwerklicher Bildung. Im Grunde aber verläuft die Grenze zwischen nützlicher und angeblich unnützer Bildung nicht entlang der verschiedenen Bildungswege. Auch innerhalb der jeweiligen Bildungswege gibt es diese Diskussionen. Ein Beispiel dafür ist das gymnasiale Bildungsziel der persönlichen Reife. Gemeint ist jene persönliche Reife, präzisiert der entsprechende Artikel,[35] die auf anspruchsvolle Aufgaben in der Gesellschaft vorbereitet. Das Gymnasium dient nicht einfach der zweckfreien Entfaltung des Individuums – wie schön die auch sein mag –, sondern bleibt als Bildungsinstitution der Gesellschaft verpflichtet: Die persönliche Reife soll auch dieser nützen. Auf der anderen Seite hat sich berufliche Grundbildung nie im blossen Anwenden erschöpft. Mit zunehmenden Ansprüchen nimmt die Bedeutung des Abstrahierens und Transferierens zu. Ein Indiz dafür ist die zunehmende Organisation der Berufslehre in Modulen.[36] Was in einem Modul gelernt wird, kann auf verschiedene andere Bereiche, teils auch auf andere Berufe übertragen werden.

Nützlichkeitsdenken geht nicht den Bildungswegen entlang.

Unterschiedliche Fachbereiche gelten als mehr oder weniger nützlich. Die MINT-Förderung ist seit Jahrzehnten ein grosses Thema an den Schulen, auch an den Gymnasien. MINT, das sind Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Diese Fächer sollen einen höheren Stellenwert bekommen und mehr Mädchen sollen sich für diese Männerdomänen interessieren. Dies versteht man als Antwort auf den gegenwärtigen technologischen Wandel. Allerdings ist die MINT-Förderung vor allem Ausdruck der frühen Phase der Digitalisierung ab den Siebziger- und Achtzigerjahren: Sie fokussiert auf den Einsatz von Taschenrechnern, auf Programmieren und Simulationen im Physikunterricht. Die aktuelle Phase der Digitalisierung betrifft die ganze Gesellschaft, auch die geisteswissenschaftlichen Fächer. Die wachsende Bedeutung der Digital Humanities ist ein Zeichen dafür.[37] Das Internet und der Umgang mit Informationen, Social Media, die Virtualisierung des Soziallebens – das sind herausfordernde Prozesse der Gegenwart. Geisteswissenschaftliche Fächer bieten kulturelle Orientierung. Ganzheitliches Denken, das Erkennen von Zusammenhängen – das leistet ein Fachgebiet nicht allein.

Es gilt, den Graben zu überwinden, der zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften verläuft. Zuweilen ist sogar die Rede von zwei unterschiedlichen Kulturen.[38] Zu Recht ist aber darauf hingewiesen worden, dass der eigentliche Graben nicht zwischen den Fachbereichen verläuft, sondern entlang der Grenze zwischen Nützlichem und angeblich Unnützem.[39] Als Richtschnur gilt dabei die Verwertbarkeit der Lerninhalte – für den Job, fürs Studium, für den Alltag. Nicht verschiedene Fachbereiche stehen sich gegenüber, sondern die Grenze verläuft innerhalb der Fächer selbst. Ein Beispiel aus der Mathematik: Wozu die ganze höhere Mathematik, wenn doch einfaches Addieren ausreicht fürs Shopping? Lernenden seien solche Fragen erlaubt. Erwachsene sollten einen Schritt weiter sein. Ähnliche Fragen gibt es in jedem Fach, etwa in Deutsch: Wozu Gedichte lesen? Die Geschäftskorrespondenz ist poetisch genug.

Es geht hier nicht darum, das Nützlichkeitsdenken per se geisseln zu wollen, denn dieses hat durchaus seine Berechtigung. Es geht vielmehr darum, den weiter gefassten Wert des vermeintlich Unnützen in Erinnerung zu rufen.[40] Bildung ist mehr als ein Mittel zum Zweck. Daran soll gerade in einem Band, der häufig mit ökonomischen Notwendigkeiten argumentiert, erinnert werden. Es gibt noch andere Dimensionen des Lernens – jenseits von Arbeitsmarkt und Digitalisierung. Jede Fachkraft ist zuerst ein Mensch. Und erst als solcher gut im Job. Darin kann man eine utilitaristische Pointe sehen. Erst der menschliche Faktor, könnte man in ökonomischem Vokabular argumentieren, macht den Unterschied. Wenn schon mit dem Nutzen von Bildung argumentiert werden soll, dann richtig. Man sollte die sogenannte Wirtschaft – oder was man darunter versteht – nicht unterschätzen. Wirtschaftsbossen ein plumpes utilitaristisches Bildungskonzept zu unterstellen, ist klischiert. Das Bildungsverständnis der Wirtschaft reicht weit über das Utilitaristische hinaus. Kritische Stimmen werden einwenden, selbst Kreativität oder Innovation blieben, zu Kompetenzen verzerrt, bloss ein Mittel zum Zweck. Für Arbeitgeberinnen bleibe der gebildete Mensch letztlich Humankapital und seine Bildung bloss Rohstoff.

Es geht hier nicht darum, dieses Spannungsfeld aufzulösen. Es geht darum, die Dialektik aufzuzeigen, die darin liegt. Bildung ist beides: Sie ist ein zweckfreier Reichtum und gleichzeitig kann sie nutzbar gemacht werden; ökonomisch, gesellschaftlich, kulturell. Man muss Bildung nicht in Opposition zum Arbeitsmarkt stellen, ganz im Gegenteil: Die Arbeitswelt 4.0 will vom Menschen, was Maschinen nicht können. Das genuin Menschliche ist gefragt. Was es braucht, sind Menschen als kulturelle Wesen in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit. Innovationen brauchen Fantasie und Vorstellungskraft, Emotionalität, Spielfreude, einen geistigen Horizont. Zugegeben, dieser Gegensatz von Mensch und Maschine konstruiert ein etwas einseitig romantisches Menschenbild. Doch im Gegensatz zur Entfremdung, die den Menschen im 19. Jahrhundert zur Maschine machte, bietet die Arbeit 4.0 neue Chancen, sich in der Arbeit als Mensch zu erfahren. Die heutige Wirtschaft braucht gebildete, kritische Menschen, die mehr sind als Arbeitskräfte. Nicht nur die Wirtschaft braucht sie, erst recht die Gesellschaft, Politik und Kultur.

Es gehört zur Jugendkultur, das Lernen auf seinen Nutzen hin kritisch zu überprüfen. Eine Bildungskultur kann man nicht einfach befehlen. Oder herbeireden. Doch man kann sie pflegen. Das ist die Aufgabe der Erwachsenen, der Schule, der Gesellschaft. Fächer haben unterschiedliche Images. Je näher sie an der Berufsbildung sind, desto höher stehen sie bei Jugendlichen im Kurs. Einen schwereren Stand hat mitunter der allgemeinbildende Unterricht ABU. Die Berufsmaturität baut den schulischen Anteil aus, damit macht sie sich nicht bei allen beliebt. Doch immerhin ist es nicht die – allenfalls verhasste – Schule, sondern die sehr viel coolere Berufsschule. Zudem setzt sie sowohl auf Berufsbildung als auch auf grundlegende Bildung. Die BM ist nicht einfach mehr ABU, sie geht darüber hinaus. ABU in der Berufslehre hat eine gewisse Funktionalität: Gesundheit, rechtliche Grundlagen, Ethik. Die Berufsmaturität hingegen leistet mehr als Lebenskunde. Sie trägt ihren Namen zu Recht. Sie vertritt in der Lehre ein Bildungsideal, das nicht allein den Gymnasiast*innen vorbehalten bleiben darf. Bildung ist ein Menschenrecht – auch für Berufslernende.[41] Auch sie haben das Recht, Bücher zu lesen, das Recht auf Mathematik, auf Nachdenken und Entdecken. Kunst und Kultur sind kein Privileg für wenige. Sie sind, richtig angegangen und auf entsprechendem Niveau, auch keine Überforderung. Gerne werden, etwa um das Desinteresse von Berufslernenden an Philosophie zu belegen, einschlägige Erfahrungen von Berufsschullehrpersonen zitiert. Solche Anekdoten sind problematisch: Sie postulieren ein Desinteresse bei den Jugendlichen, das im Sinne einer «self-fulfilling prophecy» bestätigt wird. Wenn schon mit der Erfahrung von Lehrpersonen argumentiert werden soll: Es gibt zahlreiche Beispiele von Berufsschullehrer*innen,[42] die gute Erfahrungen machen mit anspruchsvollen Stoffen, etwa im Literaturunterricht, und die sich für das Recht ihrer Schüler*innen auf kulturelle Bildung einsetzen.

Die Maturitätspflicht erreicht sozial Benachteiligte.

Bisher hat die Berufsmaturität die besonders starken Berufslernenden ins Auge gefasst. Neben der Berufsmaturität – so die verbreitete Meinung – sollten auch Lernende mit einer einfachen Lehre ihren Platz finden. Die Auffächerung des Systems sollte dabei den unterschiedlichen schulischen Voraussetzungen gerecht werden. Es gibt ganze Berufsfelder, in denen sich die Berufsmaturität bisher kaum etabliert hat. Man argumentiert gern mit Tätigkeitsfeldern für Menschen, die ihre Stärken nicht im Schulischen, sondern im Praktischen haben. Auch für diese Jugendlichen, so die Argumentation, müsse das Schweizer Bildungssystem etwas im Angebot führen. Man spricht dann gerne von Individualisierung und davon, dass nicht alle Jugendlichen über einen Kamm geschoren werden sollen. Unter individueller Förderung versteht man zum Beispiel, dass schulmüde oder handwerklich interessierte Jugendliche eine Art Menschenrecht auf weniger schulische Bildung hätten, weil diese nicht zu ihrer Persönlichkeit passe. Der Schule wirft man im Gegenzug vor, die individuellen Neigungen nicht genügend zu respektieren. Das gipfelt mitunter im Appell, die Kinder, verstanden als Wild, vor der Schule, verstanden als Treibjagd, zu schützen.[43]

Weshalb nun dieser Vorschlag einer flächendeckenden Einführung? Warum sollen alle eine Berufsmaturität machen, auch die schulisch Schwachen? Zunächst gilt es anzuerkennen: Es ist wichtig, dass die Jugendlichen gewichtige und etablierte Stimmen haben, die sich für sie und ihr Wohlergehen einsetzen. Die Jugend muss ein Schonraum bleiben – gerade in einer Leistungsgesellschaft, die zunehmend Druck ausübt. Trotzdem gilt es wiederum, die Dialektik von Bildung und Gesellschaft im Auge zu behalten. Schule ist nicht nur eine Treibjagd, sie ist auch eine Befreiung und Ermächtigung der Jugendlichen. Die Schulpflicht ist beides: Zwang und Befreiung. In ihrer Entstehungszeit hat sich die Schule vehement gegen Kinderarbeit eingesetzt. Noch heute wehrt sie sich gegen Versuche von Firmen, immer früher geeignete Jugendliche für sich herauszupflücken.[44]

Die Individualisierung steht nicht erst seit den Bildungsreformen der Sechzigerjahre hoch im Kurs. Die Entfaltung der individuellen Persönlichkeit gehört seit der Aufklärung ins Zentrum jeder Bildung: Dass Lernende aus Gründen der Praktikabilität und aus preussischer Militärtradition zu Klassen zusammengefasst werden, hat man immer wieder als Makel empfunden, als Widerspruch zum Ideal der Individualisierung.[45] Allenfalls hat man den Klassenunterricht mit Funktionen wie der Förderung der Sozialkompetenz oder Integration legitimiert. Heute gibt die Digitalisierung der Idee der Individualisierung neuen Schub. Personalisierte Lernumgebungen machen es möglich, im jeweils eigenen Tempo zu lernen und Aufgaben verschiedener Schwierigkeitsstufen zu lösen – kurz: weniger im Klassenverband, dafür individueller zu arbeiten. Das sind interessante, aber nicht nur gute Entwicklungen. Teilweise unterlaufen sie die Idee der Schule selbst. Schulische Leistung hängt unter anderem von der sozialen Herkunft ab, das ist bekannt. Von der Schule jedoch erwartet man, dass sie niemanden diskriminiert – schon gar nicht aufgrund der sozialen Herkunft. Wie geht das zusammen? Traditionelle Pauker lösen das so: Sie scheren sich nicht um die jeweiligen Interessen und Desinteressen der Kinder. Das ist nicht einfach Ignoranz, das hat System: Interessen ergeben sich zumindest teilweise aus der Kultur des jeweiligen Milieus. Das Narrativ von individuellen Interessen und Begabungen bringt durch die Hintertür die alten Klassenunterschiede in das Schulzimmer zurück. Wenn Jugendliche in ihrem Vorurteil bestärkt werden, dass Schule für sie nichts sei, weil sie sowieso bald eine Lehre mit wenig intellektuellen Ansprüchen machen würden, dann stellt man diese Jugendlichen aufs Abstellgleis. Und das im Namen von Individualisierung. Die Aufgabe der Schule besteht darin, alle mitzunehmen, auch jene, die nicht wollen. Und zwar im Interesse der Jugendlichen. Deshalb braucht es die Maturitätspflicht, damit auch die schulisch Schwachen abgeholt werden.

Die Argumentation ist im Grunde dieselbe wie jene gegen Kinderarbeit. Die wenigen Jugendlichen aus sozial benachteiligten Familien, die heute den Schritt zur Berufsmaturität machen, tun das oft aus eigenem Antrieb – gegen die Kultur ihres Milieus, gegen das Verhalten ihrer Peers, trotz der Skepsis oder Gleichgültigkeit ihrer Eltern, gegen die Ablehnung in vielen Betrieben, unter enormem Erfolgsdruck beziehungsweise der Gefahr, bei ungenügenden Leistungen wieder aufhören zu müssen, trotz strenger Eintrittshürden und Aufnahmeprüfungen und unter Inkaufnahme von einem Jahr Einkommensverlust bei der BM2. Das muss man sich mal vorstellen. Das ist ein riesiger, fast unmenschlicher Schritt. Kein Wunder, tun ihn nur wenige bildungsferne Jugendliche, sondern vor allem die Kinder von Akademiker*inneneltern, die es nicht ans Gymnasium schaffen und deren Eltern finden: Na gut, dann immerhin die Berufsmaturität. Dass diese Bildungsform auch den Namen Maturität trägt, kommt diesen Eltern gelegen, ihr Kind macht dann immerhin eine Maturität – auch wenn es keine gymnasiale ist. Kurz: Kinder aus bildungsfernen Milieus machen weniger oft die Berufsmaturität. Die Berufsmaturität zur Pflicht zu machen, bedeutet, diesen Jugendlichen eine echte Chance zu geben.

Fast jeder kommt irgendwo unter. Doch es ist klar, die Anforderungen steigen. Den Jugendlichen vorzugaukeln, sie müssten sich darum nicht kümmern, ist nicht ehrlich. Es gibt einen Strukturwandel – mit ihm müssen sich die Jugendlichen auseinandersetzen. Zu jeder Zeit mussten Jugendliche damit umgehen, dass es ihre Träume gibt – und daneben Jobs. Dass diese in einigen Fällen besser zusammenpassen als in anderen, hat die Dimension einer universellen Ungerechtigkeit, die kein Bildungssystem der Welt beheben wird. Die häufig gehörten Wendungen, es müssten nicht alle studieren,[46] es gebe auch handwerklich interessierte Jugendliche, sind Binsenwahrheiten. Sie treffen grundsätzlich immer zu, bei einer Maturitätsquote von 5, 20 oder 50 Prozent. Hier haben sich Diskurse verselbstständigt und den Draht zur Realität verloren. Ideologien stehen pragmatischen Lösungen im Weg. Sich als Beschützer*in der schulisch Schwachen zu inszenieren, hat bestimmt etwas Schmeichelhaftes. Echtes Empowerment sieht aber anders aus.

Mit einer Berufsmaturität werden mehr Lehrabgänger*innen ein Studium an einer Fachhochschule in Angriff nehmen. Und wenn sie sich gegen ein solches entscheiden, sind sie durch die erweiterte Grundbildung doch besser gerüstet für eine Arbeitswelt, die hohe Ansprüche stellt – auch an sie. Damit wirkt die Berufsmaturität prophylaktisch gegen Überforderung und Arbeitslosigkeit im fortgeschrittenen Alter. Es ist nicht nötig, dass alle Berufsgruppen das gleiche schulische Niveau erreichen. Schon heute gibt es grosse branchenspezifische Unterschiede. Die Unterteilung zwischen einem Niveau A und B, wie sie oben skizziert wurde, kann hier hilfreich sein. Mit dieser Unterscheidung wird es auch für schulisch Schwächere möglich, den Anschluss zu behalten und am lebenslangen Lernen teilzuhaben. Die Ansprüche steigen überall, auch in Berufen mit scheinbar tieferen Anforderungen. Es gilt über alle Branchen hinweg: Berufslehren sind ein erster Schritt hin zu weiterer Bildung. Eingängige Slogans seitens der Berufslehre bringen es auf den Punkt: «Lerne Goldschmiedin – werde Polizistin.»[47]

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