Kitabı oku: «Neue Schweizer Bildung (E-Book)», sayfa 5

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Endnoten

1 24Bolli, Thomas; Rageth, Ladina; Renold, Ursula: Der soziale Status der Berufsbildung in der Schweiz. Konjunkturforschungsstelle ETH Zürich. Nr. 110, Mai 2018.

2 25Kiener, Urs: «Gleichwertig, aber andersartig». Schweizer Monat. 2/2017.; Strahm, Rudolf: «Gleichwertig und andersartig». Referat an der Bürgenstock-Konferenz der Schweizer Fachhochschulen. 15.01.2010.

3 26Folio BCH: Meine Lehre. Prominente erinnern sich. 6/2020.

4 27Criblez, Lucien: Bildungsexpansion durch Systemdifferenzierung. Revue suisse des sciences de l’éducation. 1/2001.;Criblez, Lucien: Schweizer Gymnasium. Ein historischer Blick auf Ziele und Wirklichkeit. In: Eberle, Franz; Schneider-Taylor, Barbara; Bosse, Dorit: Abitur und Matura zwischen Hochschulvorbereitung und Berufsorientierung. Springer Fachmedien 2014. S. 39.;Nyikos, Lajos: Bildung ist kein Vorrecht der Gymnasiasten. Schweizerische Lehrerzeitung. 113. 1968.

5 28Forneck, Hermann: Keine Hochschule zweiter Klasse. NZZ. 05.04.2018.

6 29SwissSkills Career: Chancen der Berufslehre. Murats Weg zum Sozialarbeiter. 2021; SBFI: Berufsmaturität, verfügbar unter: www.sbfi.admin.ch/sbfi/de/home/bildung/maturitaet/berufsmaturitaet.html [18.10.2021].

7 30SKKAB: Kaufleute 2022. 2021.

8 31Zingg, Samuel: Modularisierung ja – aber nicht auf Kosten der Landessprachen! LCH. 04.02.2020.

9 32Stellungnahme des Bundesrates: Reform «Kaufleute 2022». Nur noch eine Fremdsprache obligatorisch? Interpellation. 25.11.2020.

10 33SBFI: Eidgenössische Berufsmaturitätskommission EBMK. 2021.

11 34Bonati, Peter: Rahmenlehrplan für die Berufsmaturität. SBFI 2017.

12 35Verordnung über die Anerkennung von gymnasialen Maturitätszeugnissen. 1995, 2013.

13 36Berufsbildung2030.ch. SBFI 2021.

14 37Bünzli, Alexandra; Schneider, Gerold: Sinn und Zweck – Geisteswissenschaft im Zeitalter der Digitalisierung. In: Baumgartner, Pascal; Frey, Pascal; Pfister, Andreas: Bildung im 21. Jahrhundert. VSDL 2022.

15 38Die junge Akademie: Zwei Kulturen der Wissenshaften. 2021.

16 39Koschorke, Albrecht: Zur Epistemologie der Natur/Kultur-Grenze und zu ihren disziplinären Folgen. Deutsche Vierteljahrschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. 83/1. 2009.

17 40Ordine, Nuccio: Von der Nützlichkeit des Unnützen. Graf Verlag 2014.

18 41Dahrendorf, Ralf: Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik. Die Zeit. 1965.

19 42Rossetti, Daniela: Literatur. Ein Recht für alle. In: Baumgartner, Pascal; Frey, Pascal; Pfister, Andreas: Bildung im 21. Jahrhundert. VSDL 2022.

20 43Largo, Remo H.; Czernin, Monika: Jugendjahre. Piper 2013.

21 44Zingg, Samuel: Lehrstelle schon in der zweiten Oberstufe suchen? LCH. 17.12.2020.

22 45Precht, Richard David: Anna, die Schule und der liebe Gott. Goldmann 2013.

23 46Strahm, Rudolf: Die Akademisierungsfalle. Warum nicht alle an die Uni müssen. hep 2014.

24 47SBFI: Berufsbildungsplus.ch. 2021.

Chancen

Der duale Weg hat eine sozial ausgleichende Funktion.

 Die St. Galler Studie «Switzer-Land of Opportunity» von 2020 zeigt die ausgleichende Funktion des ausgebauten dualen Wegs.

 Fachhochschulabschlüsse führen in der Schweiz zu ähnlich guten Löhnen wie Universitätsabschlüsse. Die breite Masse profitiert von dieser Entwicklung. Für Spitzenpositionen braucht es weiterhin akademische Bildung.

 Die Bildungsmobilität bleibt tief – trotz beziehungsweise wegen der guten Löhne.

Bildung darf nicht als Erb-Meritokratie instrumentalisiert werden.

 Die Studie «Soziale Selektivität» des Schweizer Wissenschaftsrats zeigt: Das Schweizer Bildungssystem ist im internationalen Vergleich wenig offen. Es trägt zur Tradierung der Klassen bei.

 Erb-Meritokratie bedeutet: Auch in liberalen Systemen wird sozialer Status vererbt.

Innerhalb der Lehre gibt es grosse Unterschiede.

 Die Diskussion um Gymnasium oder Lehre droht die grossen Unterschiede innerhalb der Lehre zuzudecken.

 Die zunehmenden schulischen Anforderungen verschärfen den Zielkonflikt von Praxisnähe und allgemeiner Bildung.

Durchlässigkeit darf kein Feigenblatt sein.

 Es gilt, neben der theoretischen die faktische Durchlässigkeit im Auge zu behalten.

Der duale Weg hat eine ausgleichende Funktion.

Die Bildungsmobilität in der Schweiz ist im europäischen Vergleich unterdurchschnittlich. Die Chancengerechtigkeit, ein Grundpfeiler der liberalen Demokratie, erweist sich in der Praxis als unvollendetes Projekt. Auf diese Situation wird von verschiedenen Seiten immer wieder hingewiesen.[48] Untersuchungen zeigen, dass von der Öffnung des akademischen Wegs von den Sechziger- bis zu den Neunzigerjahren des 20. Jahrhunderts vor allem bildungsnahe Familien profitiert haben.[49] Mehr Mädchen kommen ab den Sechzigerjahren ans Gymnasium, der Stadt-Land-Gegensatz nimmt ab. Hingegen findet der erhoffte Zugang für Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien nur teilweise statt. Arbeiter*innenkinder machen bis heute in der Regel eine Lehre, selbst wenn sie die Voraussetzungen fürs Gymnasium erfüllen würden.[50] Bei vergleichbaren schulischen Leistungen entscheiden sich Akademiker*innenkinder fürs Gymnasium, Arbeiter*innenkinder für eine Lehre. Insgesamt bleibt das Elternhaus beziehungsweise die soziale Herkunft der entscheidende Faktor.

Aufstiegsmöglichkeiten für bildungsferne Schichten bietet vor allem der ausgebaute duale Weg mit Berufsmaturität und Fachhochschule. Seine ausgleichende Funktion wird ziemlich unaufgeregt, dafür umso treffender in der aktuellen St. Galler Studie «Switzer-Land of Opportunity» erfasst.[51] Sie zeigt, wie sich die ausgebaute Berufsbildung in der Schweiz in den letzten Jahren ausgewirkt hat. Der duale Weg ermöglicht Fachhochschulabgänger*innen auf dem Arbeitsmarkt ähnlich gute Chancen und ähnlich hohe Löhne wie Universitätsabsolvent*innen. Dies, obwohl in der Schweiz die Bildungsmobilität relativ gering ist: Akademiker*innenkinder besuchen häufiger das Gymnasium und die Uni. Die Studie zeigt nun aber: In der Schweiz hängt der Lohn nicht stark vom Lohn der Eltern ab – weniger als in den USA, der Heimat des American Dreams, weniger als in Italien, sogar weniger als in Schweden. Für die grosse Mehrheit gilt: In der Schweiz muss man nicht an der Uni studieren, um einen guten Lohn zu erhalten. Mit einer Fachhochschule oder höherer Berufsbildung verdient man ähnlich viel wie Universitätsabgänger*innen. Abbildung 2 zeigt die Bildungswege in Abhängigkeit vom Einkommen der Eltern.


Abbildung 2: Die Schweiz hat, wovon Amerika träumt.[52]

Abbildung 2 zeigt den Anteil der Kinder in den jeweiligen Bildungswegen (vertikale Achse) im Verhältnis zum Einkommen ihrer Väter (horizontale Achse). Auf den ersten Blick scheint vieles klar: Die linke Seite zeigt, dass nur wenige Kinder, deren Väter einen tiefen Einkommensrang haben, ans Gymnasium oder an die Universität gehen. Die Wahl des Bildungswegs – Gymnasium oder Lehre – hängt stark vom Einkommen der Eltern ab. Nun zeigt aber die «Tertiär»-Linie, dass auch relativ viele Jugendliche tertiär gebildet sind, obwohl ihre Väter zu den unteren Einkommensrängen gehören. Diese Jugendlichen besuchen vor allem Fachhochschulen oder die höhere Berufsbildung. Das bedeutet: Von den Jugendlichen mit einkommensschwachen Eltern gehen zwar wenige ans Gymnasium oder an die Universität, trotzdem bilden sich relativ viele von ihnen nach der Lehre auf tertiärer Stufe. Und auf diesem Weg erreichen sie ähnlich hohe Löhne wie jene Jugendlichen auf dem akademischen Weg.

Diese Situation kann man nun auf mindestens zwei Arten interpretieren: Man kann sich daran stossen, dass es immer noch stark vom Elternhaus abhängt, ob man an der Universität studiert. Man kann eine Schein-Gleichheit anklagen und die geringen Lohnunterschiede als eine Art Befriedung kritisieren. Man kann das geisseln als Genügsamkeit und Mittelmässigkeit, als Beruhigungstaktik, die satt und zufrieden macht – aber im Grunde die alten Hierarchien zementiert und weiterführt. Doch man kann die Situation auch umgekehrt werten. Man kann die Leistungen von Berufsmaturität und Fachhochschulen als Verbesserung würdigen, als Beitrag zu mehr Chancengerechtigkeit. Man kann sich darüber freuen, dass immerhin so viel möglich ist – auch wenn es nicht völlige Gleichheit bedeutet.

Der Ausbau des dualen Wegs verdient zweifellos Anerkennung. Gleichzeitig ist es problematisch, sich damit nun zufriedenzugeben. Denn diese Zufriedenheit erklärt ein Stück weit, weshalb man in der Schweiz so wenig Notwendigkeit sieht für eine neue Bildungsoffensive. Es sei doch, so der Tenor, wenn nicht alles bestens, so doch vieles gut. Man kann das Schweizer Bildungssystem als typischen Schweizer Kompromiss ansehen. Der Ausbau des dualen Wegs erlaubt einer breiten Masse ein anständiges Einkommen – verhältnismässig unabhängig vom Einkommen der Eltern. Zwar gibt es wenig Bildungsmobilität, trotzdem sind die Lohnunterschiede im Rahmen – so kann man die Situation in der Schweiz derzeit zusammenfassen. Die Wertung dieser Situation hängt von den Erwartungen an die Chancengerechtigkeit ab. Einen Punkt macht die Studie allerdings deutlich: Nach ganz oben führen Fachhochschulen in der Regel nicht. Dafür braucht es weiterhin universitäre Abschlüsse. Dies schiebt auch jenen Diskursen einen Riegel vor, die von einer völligen wirtschaftlichen Gleichheit der Bildungswege sprechen. Es stellt sich wieder die Frage: Ist das Topkader überhaupt der Anspruch an die Fachhochschulen?

Was also ist der Königsweg? Es kommt auf die Bewertungskriterien an: Wer Berufsmaturität und Fachhochschule als Königsweg bezeichnet, argumentiert mit tiefer Jugendarbeitslosigkeit und hohem Einstiegslohn. Wer hingegen das Topkader anvisiert, für den ist der Königsweg die akademische Bildung. Die St. Galler Studie zeigt: Das nicht ausgeschöpfte Potenzial unter sozial benachteiligten Familien, die «Lost Einsteins»,[53] bremsen die Innovationskraft. Die Begabten unter den Bildungsfernen in die Fachhochschulen zu bringen, ist ein wichtiger Zwischenschritt. Doch er bleibt ambivalent. Indem man Talente aus der Unterschicht auf den dualen Weg schickt, bleiben viele von ihnen verloren für die akademische Bildung. Die Frage bleibt: Wie bringt man mehr von ihnen an die Universität, in die Forschung und Entwicklung? Mehr Bildungsmobilität muss ein Ziel bleiben – auch in der Schweiz.

Bildung darf nicht als Erb-Meritokratie instrumentalisiert werden.

Akademiker*innenkinder haben eine viel höhere Chance, an einer Uni zu studieren, als Kinder von niedrigqualifizierten Eltern. Das bestätigt mit aktuellen Daten die Studie «Soziale Selektivität»[54] des Schweizer Wissenschaftsrats. Gleichzeitig gilt aber auch: Von den Jugendlichen mit wenig qualifizierten Eltern wechseln doch einige an die Fachhochschulen. In der Schweiz erwerben im Durchschnitt 36 Prozent aller jungen Erwachsenen einen Hochschulabschluss. Von jenen mit mindestens einem tertiär gebildeten Elternteil sind es mehr als die Hälfte (52 Prozent). Von den Jugendlichen, deren Eltern über einen Sek-II-Abschluss verfügen, sind noch 30 Prozent tertiär gebildet. Haben die Eltern nur einen obligatorischen Schulabschluss, sind es 14 Prozent. Dabei deckt die Bezeichnung der tertiären Bildung vieles zu. Unterscheidet man zwischen den verschiedenen Formen tertiärer Bildung, sind die Unterschiede ausgeprägter, insbesondere zwischen Universitäten (Tertiärbildung A) und Fachhochschulen beziehungsweise höherer Berufsbildung (Tertiärbildung B). Von den Jugendlichen mit tertiär gebildeten Eltern wechseln mehr als ein Drittel (37 Prozent) an eine Universität und 19 Prozent an eine Fachhochschule. Ist das Bildungsniveau der Eltern mittel, wechseln 18 Prozent der Kinder an eine Universität und 16 Prozent an eine Fachhochschule. Ist das Bildungsniveau der Eltern niedrig, so gehen 11 Prozent der Kinder an einer Universität und 9 Prozent an eine Fachhochschule.

Die Zahlen zeigen: Der theoretisch mögliche Zugang zu akademischer Bildung findet in der Praxis wenig statt. Das Schweizer Bildungssystem erweist sich im internationalen Vergleich als wenig offen. Die Statusvererbung bleibt hierzulande hoch. Zwar gibt es bis in die 1990er-Jahre eine leichte Öffnung der Klassenstrukturen, aber trotz dieser Phase wirtschaftlicher, technischer und sozialer Modernisierung ist die soziale Mobilität kaum gestiegen. Die sozialen Klassen bleiben bestehen und reproduzieren sich weiterhin. Die zögerliche Bildungsoffensive der Sechziger- und Siebzigerjahre – Dezentralisierung der Gymnasien, verhaltener Ausbau der Hochschulen – führt zu einem Fahrstuhleffekt: Das gesamte Bildungssystem wird angehoben, dabei bleiben die Bildungsungleichheiten aber bestehen.[55] Was heute zu denken geben muss: Die zunehmende Anzahl Akademiker*innenfamilien verstärkt den Druck auf das Gymnasium. Der Verdrängungskampf nimmt zu. Das erschwert die Chancen für sozial benachteiligte Kinder. Nach der Bildungsoffensive der Sechzigerjahre findet heute eine neue soziale Schliessung statt. Die Chancen für Nicht-Akademiker*innenkinder, ans Gymnasium oder an die Universität zu kommen, sinken. Bildung bekommt damit den bitteren Beigeschmack eines ständebildenden Elements. Man hat in dem Zusammenhang auch von einer «Erb-Meritokratie»[56] gesprochen. Der Begriff fasst treffend, wie sozialer Status selbst in einem liberalen System vererbt wird.

Die sozialen Ungleichheiten sind seit Langem bekannt.[57] In Ländern mit früher Selektion und dualem Bildungssystem wie in Deutschland und der Schweiz sind sie besonders ausgeprägt. Die PISA-Studien zeigen deutlich: Was die Kompetenzen der Jugendlichen angeht, gibt es breite Überschneidungen zwischen dem Gymnasium und der Lehre.[58] Die besten Berufslernenden schneiden bei PISA in Mathematik und Deutsch besser ab als die schwächsten Gymnasiast*innen. Die Berufslehre profitiert von diesen starken Lernenden, doch für den akademischen Weg sind sie verloren. Gewiss – es gibt mehr Gründe für oder gegen einen Bildungsweg als bloss die Leistung. Trotzdem: Die Bedeutung der sozialen Herkunft im prinzipiell auf Leistung ausgerichteten Bildungssystem ist enorm.

Indes, die Abschottung des akademischen Wegs gegenüber sozial Benachteiligten, selbst gegenüber den schulisch Starken unter ihnen, scheint das Gros der Schweizer Bevölkerung nicht besonders zu stören. Man schätzt den ausgebauten dualen Weg als Alternative. Die Wertschätzung der Berufsbildung, ihrer Berufschancen, ihrer Anschluss- und Weiterbildungsmöglichkeiten ist ungebrochen hoch. Allerdings sind die Bildungsaspirationen je nach sozialer Schicht unterschiedlich. Familien haben ungleiche Ressourcen, was die Bildung angeht. Das betrifft zum einen die ökonomischen Ressourcen – beispielsweise um Vorbereitungskurse zu finanzieren –, doch auch die intellektuellen und kulturellen Ressourcen. Dazu zählt, ob die Jugendlichen weiter in die Schule wollen. Hinzu kommen die Leistungserwartungen der Lehrpersonen und ihre jeweiligen Zuweisungsentscheidungen. Schliesslich gibt es seitens der Betriebe unterschiedliche, manchmal diskriminierende Rekrutierungspraktiken. Die unterschiedlichen Bildungsaspirationen und die schulische Selektion verstärken sich gegenseitig. Mitunter werden die herrschenden Zustände mit genau diesem Wechselspiel legitimiert und man rechtfertigt die Selektion mit der fehlenden Bildungsaspiration bildungsferner Schichten: Die wollen gar nicht. Wo also ist das Problem? Wenn beide Seiten zufrieden sind: Wer will dann, dass sich etwas ändert?

Innerhalb der Lehre gibt es grosse Unterschiede.

Hinter der augenfälligen Aufteilung in den dualen und akademischen Weg gibt es weitere Unterschiede innerhalb der Lehre. Hier gibt es ganz unterschiedliche schulische Ansprüche. Die Anzahl Lektionen während der Lehre variiert zwischen 500 und 2000, das entspricht einem halben bis zwei Schultagen. Die aktuelle Studie «Wie die Herkunft die Berufswahl bestimmt»[59] zeigt: Die Lehre ist stark stratifiziert und sozial selektiv. Die Frage, wer eine Lehre mit hohen beziehungsweise geringen schulischen Ansprüchen wählt, entscheidet sich weitgehend schon während der Schulzeit, und zwar vom ersten Schuljahr an.

Der entscheidende Punkt ist einmal mehr: Noten fallen nicht vom Himmel. Leistung setzt Leistungsbereitschaft, Motivation und Selbstvertrauen voraus. Faktoren wie Leistungsbereitschaft werden durch das soziale Umfeld mitgeprägt.[60] Ob man zur Schule gehen will oder nicht, hängt vom Milieu ab. Schulische Leistung ist nicht nur das Verdienst des*der Einzelnen, sondern auch der Bildungskultur seiner*ihrer Schicht.[61] Die Sprache, der Stellenwert von Bildung, (fehlende) Lernstrategien und Unterstützung führen zu einem schichtspezifischen Lernhabitus.[62] Das relativiert die Vorstellung von individuellem Verdienst grundsätzlich, deshalb spricht man hier zu Recht von einer «Grauzone der Meritokratie».[63] Schon in der Primarschule ist die soziale Herkunft mitverantwortlich für Leistungsunterschiede. Nach der gemeinsamen Klammer der Primarstufe geht die Bildungsschere strukturell schrittweise auf: Die – sozial mitbestimmten – Leistungen definieren die Zuteilung in verschiedene Schultypen auf der Sekundarstufe I. Dieses Tracking wiederum ist entscheidend für den nächsten Schritt, den Übertritt in die Lehre: Betriebe wählen ihre Lernenden nach Schultyp – und umgekehrt. Lernende aus der Sek B beziehungsweise Realschule wählen eher anspruchsarme Berufslehren und machen selten eine Berufsmatura. Die Studie zeigt den strukturellen Grund, weshalb die Berufsmaturitätsquote trotz Kampagnen stagniert: Es gibt nur wenige Berufsfelder, in denen Berufsmaturand*innen gefördert werden. Daneben gibt es ein breites Feld von Berufslehren mit geringen schulischen Ansprüchen. Diesen Lernenden fehlen später die schulischen Grundlagen, um eine Berufsmaturität in Angriff zu nehmen – und eventuell sogar tertiäre Bildung. Es fehlt ihnen aber auch die nötige Bildungskultur. Das Argument, allen stünde später die Möglichkeit tertiärer Bildung offen, zieht nicht. In der Praxis wechseln nur wenige Berufslernende mit geringer Schulbildung an die Fachhochschule oder die höhere Berufsbildung. Man lässt sie während der Lehre in ein schulisches Loch fallen.

Die steigenden Ansprüche stellen die Berufslehre zunehmend vor einen Zielkonflikt. Die Frage stellt sich: Wie viel schulische Bildung, genauer wie viel Allgemeinbildung braucht die Lehre? Genau so wird die Frage auch am Hochschulinstitut für Berufsbildung formuliert.[64] Die Akteur*innen der Berufslehre argumentieren in der Regel mit ihrer Praxisnähe und tiefen Jugendarbeitslosigkeit. Tatsächlich haben Lehrabgänger*innen mit stark berufsspezifischer Ausbildung, also beispielsweise Landwirt*innen, Maurer*innen oder Coiffeusen und Coiffeure mit viel Praxis im Betrieb, aber wenig Schule, hohe Chancen, nach der Lehre direkt in den Arbeitsmarkt einzusteigen. Man muss sie nicht erst einarbeiten. Und wahr ist auch: Berufslehren mit viel hohem Praxisanteil integrieren die schulisch Schwachen und Schulmüden. Doch diese Argumente müssen relativiert oder zumindest ergänzt werden. Zwar hat man mit einer Berufslehre kurzfristig die besseren Karten auf dem Arbeitsmarkt, doch mittel- und langfristig bietet der akademische Weg mindestens ebenbürtige Chancen. Ähnliches gilt innerhalb der Berufslehre: Wer eine Lehre mit viel Praxis und wenig Schule absolviert, wird spätestens nach zehn Jahren überholt von jenen anderen, etwa Detailhandelsfrauen, Buchhändlerinnen oder Hotelfachmännern, die mehr Allgemeinbildung in der Lehre hatten, also mehr Sprachen, Geschichte, Ethik, Gesellschaft, Politik, Recht und Wirtschaft. Oder in Kompetenzen ausgedrückt: mehr abstraktes Denken, bessere Strategien zum Problemlösen. Ihr Lohn und ihr Berufsstatus steigen schneller und sie treten vermehrt in die tertiäre Bildung ein. Mehr Schule in der Lehre heisst: bessere Vorbereitung auf das lebenslange Lernen, auf die berufliche Mobilität, die Wandlungen des Arbeitsmarkts. Und das bedeutet: Die Integration schulisch Schwacher ist zweifellos ein wichtiges Ziel. Doch wo es möglich ist, sollen nicht kurz-, sondern langfristige Perspektiven ins Auge gefasst werden. Die latente Schulfeindlichkeit passt nicht zum gegenwärtigen Wandel. Praxis ist ein beliebtes, kulturell tief verankertes Schlagwort, doch gegenwärtig braucht die Berufslehre nicht mehr Praxis, sondern eine moderate Verschiebung hin zu mehr Theorie.

Das heutige Bildungssystem steht sich selbst im Weg. Es versucht, die Berufsmaturitäts- und Fachhochschul-Quote zu erhöhen, und beharrt auf einer theoretischen Durchlässigkeit. Dabei widerspricht es seinen eigenen Zielen auf Ebene des Systems. Höhere Bildung ist nicht zu erreichen, ohne die notwendigen schulischen Grundlagen zu schaffen – hier auf der Sekundarstufe II. Statt den Fehler im System zu erkennen, schiebt man die Schuld auf die Jugendlichen. Jugendliche, welche die behaupteten Chancen einer Berufsmaturität nicht wahrnehmen, hält man gemäss der Devise von der Eigenverantwortung für dumm oder faul und ihren Verbleib im Herkunftsmilieu für selbstverschuldet. Statt sie zu bilden, bestärkt man sie in ihrer Bildungsskepsis. Ein Beispiel dafür ist das prinzipiell gut gemeinte Tool der Berufslehre «anforderungsprofile.ch»[65]. Auf dieser Webseite kann beispielsweise ein angehender Carrossier nachlesen, dass sein Wunschberuf in Mathematik hohe, in Fremdsprachen aber nur einfache Anforderungen stellt. Man kann sich vorstellen, wie sich solche Informationen auf das Lernverhalten und die Berufswahl der Jugendlichen auswirken, wie sie ihre Selbstexklusion verstärken können und was das für Folgen im Hinblick auf weitere Bildungsschritte hat. Die Sache ist ambivalent, denn man zeigt den Jugendlichen nicht nur, was sie brauchen, man suggeriert damit auch: Das brauchst du nicht. Und lässt damit sowohl die tertiäre Bildung als auch das lebenslange Lernen ausser Acht. Mit diesem kurzfristigen, nur auf die unmittelbare Grundbildung bezogenen Denken schafft man auf struktureller Ebene ein Bildungssystem, das eine Vielzahl von Jugendlichen unterqualifiziert – und zwar systematisch. Das veraltete Bildungssystem bremst alle: die Gesellschaft, die Produktivität der Wirtschaft, und am meisten die Jugendlichen.

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