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Achtsamkeit

Kaum ein Wissenschaftszweig hat in den letzten Jahren so viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen wie die Neurowissenschaften. In weiten Teilen sind die altehrwürdigen Geisteswissenschaften zugunsten der neueren Kognitionswissenschaften in den Hintergrund getreten. Während die Erforschung des Ich früher ganz klar auf dem Hoheitsgebiet der Philosophie stattfand, sind die Zuständigkeiten inzwischen neu verteilt.

Ich möchte aus der Vielzahl der Veröffentlichungen, die in diesem Zusammenhang von Interesse wären, nur einen Text – oder genauer: nur einen Begriff auswählen, jenen der Achtsamkeit. Der Neurobiologe und Psychologe Daniel J. Siegel stellt ihn in seinem Buch Das achtsame Gehirn in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Achtsamkeit, das ist auf der einen Seite Gewahr- oder Gegenwärtigsein, die Lenkung der Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt, eine Art der bewussten Steuerung unserer Wahrnehmung. Auf der anderen Seite klingt in dem Begriff auch die Achtung (vor den anderen) an. Wer »Achtung!« sagt, kann damit sowohl alarmieren, man solle nun aufpassen, als auch ausdrücken, er empfinde Respekt gegenüber jemandem.

Der Held kennt seine Aufgaben

Genau diese Doppelbedeutung ist auch für die Heldenreise von essenzieller Bedeutung. Ich beginne mit der zweiten Bedeutung: Achtung vor anderen zu haben, ist genau das, was ich meine, wenn ich vom Ideal des demokratischen Helden spreche. Man könnte auch sagen, er ist ein achtender Held, während ältere Heroen oft verachtende Helden waren. Es ist kein Wunder, dass Siegel seine Wissenschaft Interpersonelle Neurobiologie nennt. Dort wie hier geht es nicht um das Fitmachen von verhärteten Einzelkämpfern für ihren Showdown gegen die ganze Welt, sondern um ein zukunftsstiftendes Heldentum, um einen Helden, der nicht von Feinden und Gegnern umzingelt ist, sondern Aufgaben sieht, die er zusammen mit anderen anpacken und bewältigen möchte. Und er wählt Arten und Weisen des Handelns, die keine Opfer hinterlassen. Er will keine Schandtaten begehen, sondern Gutes bewirken. Er will nicht von den Menschen getrennt, sondern mit ihnen sein.

Aufmerksamkeit im Alltag nutzt die Zeit

Nun zur ersten Bedeutung der Achtsamkeit als Fokussierung der Aufmerksamkeit. Wenn wir unser Leben gewissermaßen »einfach so« leben, unsere Alltagsroutinen immer weiter laufen lassen und auch alles andere »irgendwie« geschieht, dann verstreicht die Zeit formlos. Wenn wir aber bewusst und zielgerichtet unsere Aufmerksamkeit lenken, wenn wir achtsam gegenüber uns selbst sind, dann formen wir uns selbst, unser Erleben, unseren Alltag, unser ganzes Dasein. Wir lenken den Fluss der Zeit, wir sind den »Naturgewalten« dann nicht mehr wehrlos ausgeliefert, sondern bestimmen mehr und mehr selbst, wo und wie es langgeht. Achtsamkeit für sich selbst, für die eigenen Bedürfnisse genauso wie für die eigenen Fähigkeiten – das sind keineswegs irgendwelche »Luxusartikel«, die niemand wirklich braucht, vielmehr gelangen wir so zu uns selbst, an die Quellen unseres Menschseins: »Die Fähigkeit, seine eigenen Potenziale zu erkennen und zu entwickeln, ist das herausragende Merkmal des Menschen. Diese Selbstreflexionsfähigkeit braucht unsere Spezies überlebensnotwendig, um dem Chaos und der Starre gleichermaßen zu entgehen.« (Daniel J. Siegel, The Mindful Brain – das achtsame Gehirn. In: Hüther/Roth/von Brück, 2008, S. 38–55, hier S. 55)

Die Selbstreflexionsfähigkeit ist Voraussetzung für Achtsamkeit

Jeder Mensch hat diese Fähigkeit. Siegel verortet sie im »präfrontalen Kortex«, dem Bezirk des Gehirns direkt hinter der Stirn. Wie dem auch sei, genau diese Fähigkeit (bzw. dieses Hirnareal) lassen wir Menschen allzu oft verkümmern. Wir gehen nicht sorgsam mit den Potenzialen um, die uns mitgegeben wurden. Die Nachlässigkeiten schleichen sich ein, verstärken sich im Wechselspiel mit den »Notwendigkeiten«, die wir so gerne beschwören, um eine Ausrede zu haben, weil wir die Dinge nicht anpacken. Die Spirale beginnt abwärts zu drehen, erst leicht, dann immer heftiger und unaufhaltsamer. Das Ende ist die Verödung ehedem fruchtbaren Bodens, auf dem nun nichts, aber auch gar nichts mehr wächst.

Die Heldenreise ist Dünger für die Achtsamkeit. Tritt man sie an, dann lernt man, was man früher vielleicht besser gekonnt hat – man lernt wieder, auf sich selbst zu hören, das zu hören, was im Alltagslärm die Stimme verloren hat. Man lernt wieder zu sehen, was aus dem Blickfeld geraten ist. Man lernt wieder, sich auf die wirklich wichtigen Dinge zu fokussieren, statt im Ver- und Zerstreuten alles als gleich wichtig oder unwichtig wahrzunehmen, alles gleichgültig als gleich gültig zu werten.

Die Heldenreise ist ein Trainingslager für Achtsamkeit, aber auch in der anderen angesprochenen Hinsicht. Wer sich selbst achtet und auf sich selbst achtet, wird letzten Endes auch den oder die anderen achten. Wer heute, hier und jetzt, ein wirklicher Held ist, hat verstanden, dass der Weg zum Heroe nur über die Achtung der Mithelden führen kann. Insofern sind das Konzept Achtsamkeit und die Heldenreise Anleitungen, sowohl sich selbst als auch die anderen mehr zu schätzen, mehr Aufmerksamkeit in beide Richtungen zu investieren, die Sorge um sich und den Respekt gegenüber den anderen auf einem hohen Niveau auszutarieren.

Ob Sie sich nun sich selbst zuwenden oder nicht, ob Sie auf die Heldenreise gehen oder so weitermachen wie bisher: Auf einer Reise sind Sie sowieso – es stellt sich allenfalls die Frage, auf welcher. Man kann mit Autopilot fliegen oder das Steuer selbst in die Hand nehmen. Man kann die Reise, auf der man sich befindet, dafür nutzen, zu sich selbst zu finden, oder ziellos den Schlingerkurs der automatischen Steuerung über sich ergehen lassen. Mein Rat in dieser Angelegenheit: Nutzen Sie Ihren Flug. Spannen Sie die beiden Flügel der Achtsamkeit auf. Und gehen Sie nicht auf die erstbeste All-Inclusive-Bequemlichkeitsreise, sondern machen Sie den einzig wirklichen Abenteuerurlaub: die Heldenreise.

Erzählen können

Das Modell der Heldenreise, wie es Campbell anhand von Geschichten aus mehreren Jahrtausenden entwickelt und das Rebillot und Kay zur spirituellen Methode der Selbsterfahrung ausgebaut haben, ist seither von zahlreichen Psychologen, Gestalt- und Psychotherapeuten adaptiert worden. Von fragwürdiger Esoterik bis zu ernsthaften Therapieformen reicht das Spektrum, in dem man sich auf die Reise begeben kann. Mit meinen Coachings und diesem Buch möchte ich die Methode nicht nur für den Einzelnen, sondern auch und vor allem für Teams und Organisationen, in Mitarbeiterseminaren, Teamentwicklungsprozessen und Change-Kontexten fruchtbar machen, sind doch die Helden unserer Tage vielfach ökonomische Akteure.

Die Heldenreise gibt es als Drehbuch im Kino

Aber auch auf einem ganz anderen Gebiet ist das Modell längst extrem wichtig geworden. Die Heldenreise, die zuerst in Mythen, Märchen und Sagen entdeckt wurde, findet heute in den Kinosälen rund um den Globus statt. In den Traumfabriken Hollywoods, Bollywoods und der ganzen cineastischen Welt werden Heldenreisen am laufenden Band produziert.

Christopher Vogler, der für Walt Disney, Warner Bros., 20th Century Fox und andere große Studios mehrere Tausend Drehbücher gelesen und bewertet hat, erkundete mit Die Odyssee des Drehbuchschreibers als Erster das archetypische Muster des modernen Films. Von A wie Auf der Suche nach dem grünen Diamanten bis Z wie Zwölf Uhr mittags basiert das große Kino auf dem Skript der Heldenreise. Ob Titanic, Indiana Jones, Krieg der Sterne oder Pulp Fiction – immer bedienen sich die Drehbuchautoren bei dem uralten Muster, das die Fantasie der Menschen seit den Anfängen der Geschichte wieder und wieder beflügelt hat. Vogler hat den genetischen Code des Drehbuchs geknackt und damit eine wirkungsvolle Anleitung für Autoren gegeben.

Die Heldenreise ist ein Grundmodell für Geschichten

Aber wir alle sind Autoren. Denn wenn Menschen zusammenkommen, erzählen sie Geschichten. Geschichten, die auf verschiedenen Mustern basieren. Die Heldenreise ist, wie wir bereits gesehen haben, ein Grundmodell, mit dem unendlich viele Geschichten erzählt worden sind. Und wir alle sind die Drehbuchautoren unserer eigenen Lebensgeschichte, unserer Erfolgsstory.

Die eigene Erfolgsstory schreiben

Wenn ein junges Unternehmen förmlich explodiert und nach wenigen Jahren schon viele Hundert Millionen wert ist, dann sprechen wir üblicherweise von einer Erfolgsstory. Die Gründer hinter der Story haben den Ruf gehört, haben ihre Vision verwirklicht und zieren als leuchtende Beispiele die Cover der Wirtschaftsmagazine. In vielen Teams, Büros, Abteilungen, Firmen und Unternehmen wird dagegen nicht (viel) erzählt – und es gibt auch keine erzählenswerte Erfolgsstory. Im Überfluss dagegen gibt es Stress, Überbelastung, Erschöpfung, Ärger, Frust, Verzweiflung und Angst, nicht selten mit körperlichen Folgen – Migräne, Magengeschwüre, Kreislaufstörungen, Tinnitus und Burn-out-Syndrom. Das sind Phänomene, die jeder kennt, ob als Selbstständiger, Angestellter oder Manager.

Wie soll man kreativ sein, mit dem Kopf im Schraubstock? Wie soll man Visionen entwickeln, als Rädchen in der unaufhörlich ratternden Maschine? Wie soll man sein Glück finden, wenn man ständig von ihm wegläuft? Wie soll man sich entfalten, wenn man rund um die Uhr um die besten Plätze auf der Karriereleiter kämpft? Sie können sich die Antwort leicht selbst geben. Wir müssen also einen Weg finden, um »Stopp!« sagen zu können – um schließlich unsere eigene Erfolgsstory erzählen zu können.

Was nicht erzählenswert ist, ist überflüssig

Paul Rebillot und Melissa Kay sprechen gelegentlich von einem »Nullpunkt«, wenn sie den Aufbruch des Helden beschreiben. Der Held hält inne, er sucht einen abgeschiedenen Ort der Ruhe auf, um aus dem reißenden Strom der Zeit auszusteigen. Indem er auf die innere Reise geht, blendet er das Alltagsleben mit seinen kleinen und großen Problemen aus und schafft die Möglichkeit, sich neu zu erfinden. Der Business Hero hält den Zeiger an, wohl wissend, dass die Uhr weitertickt. Er ist jemand, der sich eine Atempause verschafft, um mehr Luft zu bekommen. Er löst sich aus Zusammenhängen und bleibt doch im Kontext. Er verlässt seine normale Existenz, um stärker und erfolgreicher zurückzukehren. Er lernt auf seiner Reise jenseits des Alltags, seine eigene Vision vom Erfolg formulieren zu können.

Für wen kommt die Heldenreise infrage?

Sie fragen sich, ob Sie sich auf die Heldenreise einlassen sollten? »Ist das überhaupt das Richtige für mich?«, überlegen Sie. Sie müssen die Entscheidung selbst treffen. Um sie Ihnen zu erleichtern, führe ich ein paar typische Fälle auf, die ich in meiner Praxis – so oder so ähnlich – kennengelernt habe:

• Ein Selbstständiger, der allein arbeitet oder schon ein paar Mitarbeiter hat, zweifelt, ob der eingeschlagene Weg der richtige ist. Jeden Tag, wenn er aus seinem kleinen Büro in einem ehemaligen Ladenlokal kommt, ist die Sonne längst untergegangen. Er fühlt sich ausgebrannt und leer. Das Unbehagen nagt an ihm, aber er weiß es nicht einzuordnen.

• Ein gut bezahlter Angestellter in einem geordneten Beschäftigungsverhältnis, bei dem alles gut läuft, fragt sich, ob es das gewesen ist. Ob das das ganze Leben ist. »Was mache ich hier eigentlich?«, diese Frage bricht manchmal durch, ohne wirklich beantwortet zu werden. Das, was bisher ein auskömmliches Zuhause gewesen ist – der Job –, erscheint immer mehr als Gefängnis. Aber was könnte eine echte Alternative sein?

• Eine Abteilung in einer Firma oder einem Unternehmen. Alle Kommunikationskanäle sind freigeschaltet, die Rahmenbedingungen könnten kaum besser sein. Aber trotzdem funktioniert es irgendwie nicht. Von Teamplay kann keine Rede sein, von gelungener Kommunikation untereinander sowieso nicht. Große Visionen und hochgesteckte Ziele? Fehlanzeige! Stattdessen kleinkarierte Vorgaben wie 2,75 % mehr Umsatz – und selbst das droht schiefzugehen. Woran es hakt, kann niemand so recht sagen. Zur Motivationslosigkeit gesellt sich die Erfolgslosigkeit, der Druck wächst. Vielleicht ist schon etwas unternommen worden, aber vergebens. Die Stimmung ist am Boden, die Situation verfahren. Mit herkömmlichen Mitteln aus der Hausapotheke ist dem Problem nicht beizukommen.

• Ein Manager hat viel erreicht und will noch mehr erreichen. Aber während er am Anfang der Karriere die Stufen mit Leichtigkeit und unwiderstehlichem Schwung genommen hat, sind aus den Sieben-Meilen-Stiefeln inzwischen klobige Hemmschuhe geworden. Im Sternzeichen der Hausse geboren, droht die Karriere in der Baisse zu versinken. Oder ist der berufliche Erfolg, dem er hinterherhechelt, gar nicht mehr das, was er wirklich will? Ein ganz anderer Lebensentwurf muss her. Möglicherweise würde ihn das stille Leben als Schafhirte viel mehr erfüllen als die atemlose Hatz nach der Rendite.

• Ein Unternehmen möchte sich neu aufstellen. Das Management hat erkannt, dass die Geschäfte, die jetzt noch gut laufen, mittel- und langfristig keinen Erfolg mehr versprechen. Märkte in Bewegung erfordern Unternehmen, die sich immer wieder neu erfinden. Aber wohin die Reise gehen soll, ist nicht so leicht zu sagen. Nichts ist schließlich ungewisser als die Zukunft. Hilfe von außen oder besser: Hilfe zur Selbsthilfe ist nötig, um neue Impulse setzen zu können.

Wenn Wandel zur Routine wird

All diese Situationen – und die Liste ist sicher nicht komplett – haben eins gemeinsam. Die Zeichen stehen auf Veränderung, aber Lösungen sind nicht in Sicht. Benötigt wird ein professionelles Change-Management. »Aber woher nehmen, wenn nicht stehlen?«, ist man versucht zu fragen, obwohl genau das Gegenteil der Fall zu sein scheint: Change-Programme haben seit Langem Konjunktur, ihre Zahl ist nachgerade inflationär. Wie Martin Claßen und Felicitas von Kyaw in Warum der Wandel meist misslingt kompetent gezeigt haben, hat sich längst und auf breiter Basis ein erheblicher Überdruss an Change-Prozessen eingestellt. Und zwar auf allen Ebenen, bis hin zu den Führungsspitzen. Zu viele haben zu oft die leidige Erfahrung gemacht, dass Veränderung eine hohle Worthülse sein kann – und dass Change-Prozesse selbst zur ewigen Routine werden.

Veränderung heißt, sich auf etwas einzulassen

In diesen Fällen ist offensichtlich der Sinn für und der Sinn von Veränderung verloren gegangen. Manchmal wird von der »Implementierung« von Change-Prozessen gesprochen – aber Veränderung kann kein umsetzender, abwickelnder Akt der Bürokratie sein. Veränderung heißt, sich auf etwas einzulassen, das man nicht ganz und gar beherrscht und nicht ganz beherrschen kann. Wenn man die Veränderung wirklich will, wird man sich auf etwas einlassen müssen, das man nicht gänzlich steuern kann. Wenn man, ob als Einzelner oder als Unternehmen, Prozesse, Systeme, Strategien, Strukturen oder Verhaltensweisen aufbrechen möchte, dann sollte man den Konsequenzen ins Auge sehen. Vielleicht verändert sich im dynamischen Prozess das Ziel selbst. Vielleicht brechen unangenehme Wahrheiten durch die Oberfläche. Vielleicht erfasst die Veränderung nicht nur jenen kleinen Bezirk, der neu aufgestellt werden sollte, sondern das große Ganze. Echte Veränderung ist nur bedingt planbar – mitunter aber unbedingt notwendig.

Change findet wirklich statt

Findet die echte Veränderung aber wirklich statt, kann der Benefit des Unternehmens gigantisch sein. Ist die Quote der Helden in einem Unternehmen gering, dann wird sich hier und da etwas tun, steigt sie aber und erreicht schließlich eine »kritische Masse«, dann werden Kettenreaktionen ausgelöst, die sich am Anfang niemand vorstellen konnte. Dann könnte es passieren, dass etwas »durch die Decke geht«, wie man so schön sagt, nämlich die Kreativität, die Motivation, der Erfolg. Einzelkämpfer haben es schwer, bilden die vielen Helden aber eine Allianz der Veränderung – und das heißt: Verbesserung –, dann bleibt Change keine Worthülse, sondern stellt sich schneller ein, als man das »von oben« durch Steuerungsmechanismen jemals bewirken könnte.

Veränderung ist die Realisierung der Zukunft – jetzt

Zu den interessantesten und eindrucksvollsten neueren Versuchen, die Problematik des Wandels zu denken, gehört zweifelsohne C. Otto Scharmers Theorie U. Am Anfang seiner Überlegungen steht ein einfacher Gedanke: Wandel kann nichts Äußerliches sein, er geht, wenn er wirklich ist, von einer »inneren Quelle« aus. Und zweitens: Wandel ist nicht die Fortsetzung der Vergangenheit mit anderen Mitteln, sondern die Realisierung der Zukunft im Jetzt. Die Veränderung kann also schaffen, wer in sich zukünftige Möglichkeiten aktualisiert. Scharmer nennt das »Presencing« – von presence, Gegenwart/Anwesenheit, und sensing, fühlen/erspüren – und meint damit, dass Veränderung geschehen kann, wenn man sie von der Zukunft her denkt. Der Weg nach innen, ins Ich, und nach vorne, in die Zukunft, ist der Königsweg, das Andere, das Neue, die Veränderung zu realisieren. Scharmer gibt uns sehr genau an, wie das aussehen könnte. Die Schritte, die äußere Wirklichkeit über den scheinbaren Umweg des Inneren, des Ich, zu verändern, sind: »innehalten, umwenden, loslassen, kommen lassen, in-die-Welt-bringen, verkörpern«. Sie werden diesen programmatischen Etappen so oder so ähnlich auch auf der Heldenreise begegnen. Auch bei ihr geht es wesentlich darum, dass Veränderung etwas ist, was zuerst und vor allem mit einer Reise nach innen zu tun hat – mit der Entdeckung verborgener Möglichkeiten.

Innovation ist Pflicht

Ökonomie ist heute, mehr noch vielleicht als früher, die Suche nach dem Neuen. Innovationskraft ist einer der wirtschaftlichen Faktoren überhaupt. Allerdings wird das Neue weitaus häufiger gesucht als gefunden. Das hängt offensichtlich damit zusammen, dass erstens dort gegraben wird, wo man alles Mögliche finden kann, nur nicht das Neue, und dass zweitens mit untauglicher Ausrüstung und fragwürdigen Methoden gesucht wird. Denn die naheliegendste Option wird vielfach übersehen: Der Mensch, das Ich, ist das Land der Möglichkeiten – und dorthin gilt es aufzubrechen.

Chaos ist die Triebkraft für Neues

»Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können«, schrieb Friedrich Nietzsche, der unkonventionellste unter den Philosophen. Mein Vorschlag für ein substanzielles Change-Management ist die Heldenreise. Der Held verlässt sein normales Leben, er gibt dem positiven Chaos in sich den Raum, den es sonst nicht hat. Der Ausgang ist offen. Oft kommt es zur Reaktivierung der schöpferischen Kraft, die wir alle haben, die aber in allzu vielen Fällen, warum auch immer, irgendwann verschüttet worden ist. Vielfach entstehen neue Motivationen, wo vorher Stress, Zynismus und Ziellosigkeit das Zepter fest in der Hand hatten. Und manchmal geschieht etwas ganz und gar Unerwartetes, etwas, das man nicht vorhersehen konnte und das ohne Beispiel ist und bleibt.

DIE SPUR DER INNEREN STIMME AUFNEHMEN

Spätestens jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, an dem Sie – wenn Sie dazu bereit sind – ausprobieren können, einmal »Stopp!« zu sagen und dem zu lauschen, was sich in Ihrem Inneren abspielt. – Aber bitte nicht gleich aufgeben, falls Sie nach ein bis zwei Sekunden noch nichts wahrnehmen. Erinnern Sie sich daran, wie Sie als Kind das Laufen gelernt haben? Da haben Sie auch nicht nach dem ersten Hinfallen aufgehört und gesagt: »Das geht nicht!« Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen, und seien Sie geduldig mit sich.

Wahrnehmungsübung für zwischendurch:

Empfindungen sind nicht nur eine Sache der Psyche, sondern genauso des Körpers. Achten Sie im Folgenden also nicht nur auf psychische, sondern auch auf physische Signale.

Halten Sie einen Moment inne:

Was denken Sie gerade? Wie würden Sie Ihre Stimmung beschreiben? Welche Gefühle dominieren in Ihrem Inneren? Wie geht es Ihnen? Ganz hervorragend? Oder so lala? Oder nicht so gut? Nutzen Sie die nachfolgende kleine Liste, um genauer zu differenzieren!

Fühlen Sie sich …

• … gelangweilt (dann sollten Sie dieses Buch möglicherweise weglegen und etwas anderes machen) oder doch …

• … angeregt, ängstlich, aufgeregt, aufgewühlt, begeistert, beschämt, einsam, entspannt, erleichtert, erschöpft, erstaunt, freudig, fröhlich, gespannt, hellwach, hoffnungsvoll, interessiert, klar, minderwertig, müde, mitfühlend, nachdenklich, neidisch, neugierig, resigniert, scheu, traurig, unzufrieden, verwirrt, verzweifelt, zufrieden, zugehörig …?

Spricht eines dieser Adjektive Sie an? Oder fallen Ihnen ganz andere ein? Wie dem auch sei, halten Sie diejenigen Adjektive fest, die am ehesten auf Sie zutreffen, die Ihre momentane Stimmung am besten beschreiben – und spüren Sie ihnen nach, sagen Sie die Wörter beispielsweise vor sich hin oder denken Sie darüber nach, was Sie mit ihnen in Verbindung bringen.

Was spüren Sie? Was fühlen Sie? Wie reagiert Ihr Körper darauf?

Beginnen Sie einfach zu beschreiben, was Sie jetzt wahrnehmen! Spüren Sie Resonanzen? Tut sich etwas vor Ihrem geistigen Auge? Regen sich Gefühle? Spüren Sie eine körperliche Reaktion – ein Gluckern im Bauch oder eine Körperstelle, die sich wärmer anfühlt als andere und als vorher usw. Lauschen Sie ganz unvoreingenommen und achtsam auf die Resonanzen, die sich ergeben. Fangen Sie so an, mehr und mehr Ihre Wahrnehmung zu trainieren, in sich selbst hineinzuhören, um Ihre innere Stimme besser wahrzunehmen und zu verstehen! Das eine oder andere Bild wird sich bilden, Vorstellungen sich verändern, und Sie werden sich neu und anders wahrnehmen. Nehmen Sie mutig und mit allen Sinnen wahr.

Innehalten und in sich hineinhören, das ist ein guter Weg zu lernen, die oft verschüttete innere Stimme wieder zu vernehmen.

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9783862009596
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