Kitabı oku: «Sonntagsgeschirr», sayfa 2

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Sonntagsgeschirr

Kaum hatte Angelina das schmiedeeiserne Tor hinter sich geschlossen, prallte der Verkehrslärm auf sie ein. Für einen kurzen Augenblick hatte sie ein Gefühl von Gehaltensein und innerer Ruhe verspürt. Als sie nun den Zaun entlangging, der den Friedhof umgab, brauste ein Auto nach dem anderen vorüber. Widerstrebend schlenderte sie zur nächsten Bushaltestelle. Am liebsten hätte sie sich in Lenis Wohnung verkrochen. Doch Vater erwartete sie. «Ich bin in der Gegend», hatte sie am Tag zuvor am Telefon gesagt. «Bist du morgen zu Hause?»

Sie wusste nicht, ob er sich über ihr Kommen freute. Seit Mutters Beerdigung war sie nicht mehr bei ihm gewesen. Sieben Jahre waren vergangen und es hatte keine Fragen von ihm und keine Erklärungen von ihr gegeben.

Angelina starrte durchs Busfenster, vor ihr lag die Brücke. Es gab keinen Friedhof in Winkeln. Die Toten wurden in der Stadt begraben. Wenn sie als Kind gefragt worden war, ob sie aus der Stadt sei, hatte sie verneint. Sie wohne ennet der Sitter. Auf der anderen Seite des Flusses. Für sie war es ein Dorf gewesen, obwohl Winkeln längst zur Stadt gehört hatte.

Als der Bus über die Fürstenlandbrücke fuhr, drückte sie ihre Stirn an die Fensterscheibe. Drei Jahre lang war sie jeden Tag diesen Weg mit dem Fahrrad zur Schule gefahren. Über dem Fluss hatte sie jeweils angehalten und in die Tiefe geblickt. Die Steine hatten sich im seichten Wasser erahnen lassen. Nach Regengüssen hatte sich die Farbe des Flusses von Moosgrün in ein gelblich lehmiges Braun verwandelt. Sie hatte es gemocht, dieses undurchdringliche und schnell strömende Wasser. War das Fundament des Brückenpfeilers überspült gewesen, hatte es viel geregnet auf den Höhen des Appenzellerlandes. Angelina erinnerte sich, wie sie und ein Schulfreund über die Brücke geradelt waren und sie zu den Wäldern hinuntergeschaut hatte. Dabei hatte sie ihn gerammt, und er war ins Brückengeländer gefahren. Ihnen beiden war nichts geschehen, aber sein Vorderrad war so verbogen gewesen, dass er das Velo nach Hause tragen musste.

Immer wieder waren Unfälle geschehen, weil Angelina umhergeschaut hatte. Sie war über Mäuerchen und Steine gefallen, gegen Pfähle und Abschrankungen geprallt oder in Glastüren gelandet. Engel-Guck-in-die-Luft hatten sie sie genannt. Irgendwann hatte Angelina mit Bergsteigen angefangen. Um mich festzuhalten und mir das Stolpern abzugewöhnen, dachte sie rückblickend. Aber vielleicht auch nur, um weiter zu sehen, über den nächsten Hügel hinaus.

Bei dieser anhaltenden Hitze musste der Fluss zu einem Rinnsal geworden sein. Vom Bus aus konnte sie das Wasser nicht sehen. Der Fahrradweg verlief immer noch auf dem Trottoir. Bei der nächsten Haltestelle stieg Angelina aus, ging durch die Unterführung und zwischen den gleichförmig hellbraunen Häusern hindurch. Hier hatte sie fast die Hälfte ihres Lebens verbracht. Angelina hielt inne und schaute sich um. An jeder Ecke lagen Erinnerungen. Sie waren Fragmente ihres Lebens, einige bunt und leuchtend, andere dunkel und schwer. Bilder drängten sich auf, unverblümt und ungefragt.

Die mächtige Fichte hatten sie gefällt, aber der grosse Findling inmitten der Wiese war geblieben. Dies war ihr Treffpunkt gewesen. Hier war geplaudert worden, gezankt, gelacht und gestritten. Hier wurden Freundschaften geschlossen und Schlachten gefochten.

Zögernd drehte sich Angelina um und ging zum Hauseingang. Würde sie Vater erzählen, was geschehen war? Würde er fragen: Was führt dich zu mir? Warum gerade jetzt?

Angelina blieb im düsteren Hauseingang stehen und betrachtete die Briefkästen. Sie waren in zwei Reihen übereinander angeordnet. Gegenüber waren die Klingeln in zwei senkrechten Fünferreihen. Kollbrunner stand in krakeliger Schrift auf einem Schildchen. Angelina drückte den weissen Knopf. Dann lehnte sie sich mit der Schulter gegen die Glastüre, die rechte Hand auf dem metallenen Griff. So hatte sie es als Kind auch immer getan. Ein Surren ertönte und die Tür gab nach. Langsam stieg Angelina die Treppe hoch.

Hatte Vater sich verändert? War er älter geworden? Wie lebte er ohne Mutter? Jede Stufe eine Frage. Hatte sie sich verändert?

Beim Treppenabsatz blieb sie stehen. Die Stufen wechselten die Richtung. Früher waren sie ihr höher erschienen. Angelina ging weiter. Jede Stufe eine Antwort. Sie alle waren älter geworden. Sie hatte sich verändert. Menschen veränderten sich immer. Sie sehnte sich nach Stillstand.

Angelina schluckte. Doch der Kloss im Hals blieb. Ihre Hand hielt sich am Holz des Geländers fest. Es war in all den Jahren glatter geworden, blank poliert durch unzählige Hände. Als Kinder hatten sie Wettrennen veranstaltet. Sie waren bis zuoberst in den fünften Stock gestiegen und losgerannt. Bei den Absätzen hatten sie die linke Hand fest ans Geländer geklammert, um die Kurve in zwei Sprüngen zu meistern. Nachbarn hatten geschimpft wegen des Lärms, des Getrampels der Füsse auf dem Steinboden.

Angelina klingelte. Die Glocke klang schrill, nicht so wie in ihrer Erinnerung. Sie vernahm schlurfende Schritte.

«Vater, guten Tag, wie geht’s?» Angelina spürte den Kloss im Hals.

«Angelina. Komm rein.» Er legte leicht die Hand auf ihre Schulter und zog sie fast unmerklich näher. Dann drehte er sich um und sie folgte ihm in die Wohnung.

«Setz dich. Kaffee?» Vater war neben dem Tisch stehengeblieben und stützte sich auf eine Stuhllehne.

Angelina schob sich auf den Stuhl, der früher ihr Platz gewesen war, und fuhr mit der Hand über die Tischdecke aus Plastik, als ob ihr dies Halt gäbe. Durch die offene Küchentür sah sie Geschirr auf der Ablage stehen. Früher hat er nie gekocht, nicht einmal Kaffee konnte er kochen, dachte sie. «Ja, gerne einen Kaffee.»

Er drehte sich um und ging ein paar Schritte in die Küche. Angelina betrachtete ihn von hinten. Sein Rücken war etwas gebeugt, die Schultern waren schmäler geworden, das graue Haar wirr, lichter.

«Und Maurice», fragte er. Auch seine Stimme war brüchig geworden.

«Er muss arbeiten. Viel zu tun. Es geht ihm gut, glaube ich.»

«Du hättest hier übernachten können.»

«Möchtest du das?»

«Es ist genug Platz. Das Zimmer hinten war früher auch deins. Seit du weg bist, hat es Margaret als Nähzimmer genutzt.»

Angelina stand auf und ging den schmalen Korridor entlang. Nichts schien sich verändert zu haben, seitdem Mutter nicht mehr hier war. Nur der Geruch war anders geworden. Sie fehlte.

«Ich war heute Morgen auf dem Friedhof», sagte Angelina laut, während sie die Türfalle des hinteren Zimmers drückte. «Ich habe gegossen.»

«Ja, sie brauchen viel bei dieser Hitze.»

Angelina hörte das Klappern des Geschirrs, dann Vaters Schritte hinter sich. Vor dem Fenster stand der Tisch mit Mutters Nähmaschine. An der Wand gegenüber das Bett, ihr Bett aus der Kindheit mit dem roten Überwurf, den aufgedruckten braunen Bären und blauen Bällen. Daneben der Schrank, dunkelbraunes Furnier.

«Du hast nichts verändert.»

«Komm, der Kaffee wird kalt.»

Vater zitterte ein wenig, als er den Kaffee eingoss. Er hatte das schöne Geschirr genommen aus dem Buffet im Flur. Sonntagsgeschirr, dunkelrote Rosen und mit Goldrand.

«Ich habe dir etwas mitgebracht.» Angelina nahm die Schachtel Pralinés aus der Tasche und legte sie auf den Tisch.

«Danke.»

«Ich hoffe, sie sind nicht geschmolzen.»

Der Kaffee war dunkel und kräftig, nicht so dünn, wie Mutter ihn gemacht hatte.

«Und, was machst du so den ganzen Tag?», fragte Angelina.

«Lesen.» Er zeigte auf einen Stapel Zeitungen, die auf der Kommode lagen. Daneben hatte es zwei dicke Bücher. «Früher hatte ich nie Zeit dafür.»

«Was liest du?»

Anstatt zu antworten, schob er schwerfällig den Stuhl zurück, ging zur Kommode, zog eine Schublade heraus und kam mit einem weinroten Etui zurück. Es gelang ihm nicht sofort, den silberfarbenen Schnappverschluss zu öffnen. Gepolstert in dunkelblauem Samt lag eine goldglänzende Münze.

«Schau», sorgfältig klaubte er die Münze heraus und hielt sie Angelina hin.

Angelina nahm sie zwischen Daumen und Zeigefinger und drehte sie vorsichtig. Mit den Fingerkuppen spürte sie die feinen eingeprägten Sterne am Rand. Sie betrachtete die Frauengestalt auf der Vorderseite und die Prägung 20 Fr. mit Schweizer Kreuz auf der Rückseite. Als Angelina die Münze in Vaters Hand zurücklegte, sagte er: «Ist sie nicht schön?» Er drehte sie im Licht der hereinscheinenden Sonne. Vorsichtig schob er das Goldvreneli in die runde Vertiefung im Etui zurück, klappte den Deckel zu und reichte es Angelina über den Tisch.

«Für meinen Enkel.»

«Vater!» Angelinas Stimme klang schrill. «Ich habe keine Kinder.» Im selben Moment fuhr ihr der Gedanke durch den Kopf, dass dies nicht stimmte.

«Dann ist sie für dich. Als Notgroschen.»

Salat am Abend

«Hast du Hunger?» Leni stand in der Küche vor dem geöffneten Kühlschrank. «Salat? Oder soll ich etwas kochen?»

Angelina schloss die Wohnungstür hinter sich, liess sich auf den Fussboden fallen und lehnte gegen die Wand. Essen? «Diese Hitze!»

«Du hast recht, es ist viel zu heiss, um etwas Warmes zu essen. Also Salat.»

Vom Bahnhof war Angelina durch die Mülenenschlucht spaziert, und obwohl der Schluchtweg um diese Zeit im Schatten lag, stand ihr der Schweiss in Perlen auf der Stirn.

«Mein Gott!» Leni kam zwei Schritte auf Angelina zu und grinste. «Muss ich dir ein Glas Wasser bringen oder gleich einen Eimer, eiskalt?»

Angelina lehnte sich nach vorne und öffnete langsam die Schnürsenkel ihrer Turnschuhe. Leni verschwand in der Küche, um im Kühlschrank zu hantieren. Vom Gang aus sah Angelina, wie ihr gelocktes, schwarzes Haar ihre nackten Schultern verdeckte und in der Mitte ihres Rückens endete. Sie trug ein knallig rosafarbenes Trägershirt und enge, weisse Jeans. Und obwohl ihr Körper massig wirkte, strahlte sie Behändigkeit und Vitalität aus.

Leni und sie kannten sich seit der Schulzeit. Schon damals war Leni das Gegenteil von ihr gewesen, klein, pummelig, unsportlich, fröhlich. Wieso sie Freundinnen geworden waren? Weil sie beide die Schule gleich wenig mochten? Weil Gegensätze sich anzogen?

Leni hatte allem etwas Gutes abgewinnen können, nur der Schule nicht. Angelina hatte damals nur eines gewollt: weg. Manchmal war Angelina neidisch gewesen auf Leni mit ihrem unerschütterlichen Optimismus. Leni hatte nach der Schule eine kaufmännische Lehre bei der Gemeinde gemacht, während Angelina weggegangen war, zuerst zu einer wohlhabenden Familie ins Welschland, später auf Reisen, ans andere Ende der Welt nach Australien. Ohne Ausbildung, ohne Geld, ohne Ziel.

Fast hätten sie sich aus den Augen verloren. Dann, vor drei Jahren, hatte Leni sie in Genève besucht und war zwei Wochen geblieben. Vom ersten Augenblick an waren sie sich so vertraut gewesen wie früher.

Leni schloss den Kühlschrank. Angelina hörte, wie sie am Spülbecken hantierte, Wasser laufen liess, eine Schranktür öffnete. Sie zog die Turnschuhe von den Füssen und blieb einfach auf dem Boden sitzen. Hätte Leni gerne Kinder? Einen Mann? Was wusste sie wirklich von ihr?

«Leni?»

«Ja.»

«Hättest du gerne Kinder?»

Leni kam aus der Küche und blickte auf Angelina hinunter. «Willst du nicht duschen?»

«Du hast recht, ich brauche eine Abkühlung.»

Angelina drehte den kalten Wasserhahn auf und stellte sich unter die Brause. Sie blieb reglos darunter stehen, bis sie am ganzen Körper zitterte. Dann stellte sie das Wasser ab und seifte sich ein. Danach brauchte sie eine Weile, bis sie eine für sich angenehme Wassertemperatur gefunden hatte. Einmal war es zu heiss, dann wieder zu kalt. Schliesslich schob sie den Duschvorhang zur Seite, angelte das Frotteetuch vom Haken und trocknete sich in der Badewanne stehend ab.

«Essen», hörte sie Leni rufen.

In dem Moment als Angelina in die Küche kam und Leni den Salat auf den Tisch stellte, klingelte das Telefon.

«Fang schon an», sagte Leni leichthin.

Sie hatte den Tisch schön gedeckt mit einem beigen Tischtuch und dunkelblauen Servietten, passend zu den weissen Tellern mit blauem Rand.

«Es ist für dich. Maurice.»

«Sag ihm, ich rufe später zurück.»

«Ça va?», fragte Maurice als Erstes.

«Ich war bei Vater. Soll dir einen Gruss ausrichten.»

«Merci, wie geht es ihm?»

«Er hat jetzt Zeit, Bücher zu lesen. Wir haben eben gegessen. Und du?»

«Ich treffe mich gleich mit Robert, wir springen noch in den See.»

«Heiss heute.»

«C’était très pénible. Zum Glück haben wir eine Klimaanlage im Büro. Bei der Hitze spinnen auch die Leute und nicht nur die Computer.»

Angelina hörte, wie Maurice lachte.

«Et toi?», fragte er.

«Ich?» Wenn Maurice bei ihr wäre, sähe er ihre Traurigkeit?

«Ja, was machst du heute noch?»

«Weiss nicht.»

«Attends, es hat geklingelt. Das ist Robert. Je reviens tout de suite.»

Angelina schnäuzte sich die Nase und fuhr mit dem Handrücken über die Augen. Dann hörte sie Maurice’ Stimme. «Weisst du schon, wie lange du bleibst?»

«Nein.»

«Am Wochenende, bei diesem Wetter könnten wir … On pourrait aller en Valais.» Als Angelina schwieg, fuhr er fort: «Bon, on verra. Ich muss los. Robert wartet. Mach’s gut! Ich melde mich.»

Angelina legte den Hörer auf. Trotz der Hitze fröstelte sie.

Leni sass in der Küche und blätterte in einem Gesundheitsmagazin aus der Apotheke. Das Geschirr hatte sie weggeräumt. «Kaffee?», fragte sie.

Angelina liess sich auf den Stuhl fallen und schaute aus dem Fenster. Von hier waren ein paar dunkle Baumwipfel des Berneggwaldes zu sehen. Langsam setzte die Dämmerung ein. «Leni, kann ich noch ein paar Tage bleiben?»

«Du kannst bleiben, solange du willst. Hat es mit Maurice zu tun?»

Angelina blickte wieder zum Wald. Dieses kräftige Grün der Bäume. Hatte es mit Maurice zu tun? War sie vor ihm geflohen? Oder vor sich selbst?

«Manchmal frage ich mich, was einen in einer Partnerschaft wirklich verbindet.»

«Und?», fragte Leni.

«Maurice will nächstes Wochenende eine Hochtour machen.»

«Hast du keine Lust?»

«Nein.»

Leni lachte. «Ich auch nicht.» Ihr Lachen steckte an.

«Und, was machen wir am nächsten Wochenende?», fragte Angelina.

Leni presste die Lippen aufeinander, als ob sie nachdenken würde. «In der Sonne schmoren, bis wir die Farbe dunkler roter Krebse angenommen haben und nur so lechzen nach kühlendem Nass.»

«Genau, splitternackt. Keine Bikiniabdrücke, nur ebenmässiges Braun.»

«Und du liest vor, während ich dahindöse.»

«Vorlesen?»

Leni stand auf, ging ins Wohnzimmer und kam mit einem roten Taschenbuch zurück, das sie aufschlug. Sie begann zu lesen: «Ich lag auf dem Liegestuhl und blätterte in einer alten Illustrierten. Die Sonne brannte. Der Himmel war blau und endlos. Das Meer war blau und endlos. So ging das seit Wochen.»

«Tönt gut.»

«Genau. Mein sechster Mord

«Was?»

«Milena Moser: Gebrochene Herzen oder Mein erster bis elfter Mord.» Leni legte das Buch auf den Tisch, schaltete das Licht ein und liess sich auf den Stuhl zurücksinken. Angelina nahm die dunklen Ringe unter ihren Augen wahr. Wie müde sie aussah.

«Strenger Tag heute?», fragte Angelina. Sie selbst fühlte sich völlig erschöpft.

Leni zuckte mit den Schultern. «Du meinst meine Arbeit auf dem Steueramt? Wir müssen die Steuern häufen, um Defizitberge abzubauen. Nur geben andere das Geld aus, das wir reinholen.»

«Wie lange bist du schon dort?»

«Ewig. Aber mehr dazu ein anderes Mal, ich bin todmüde. Du bleibst mir anscheinend noch eine Weile erhalten.» Sie zwinkerte Angelina mit dem einen Auge zu. «Da bleibt noch eine Menge Zeit für mörderische Pläne.»

Gravensteiner

Angelina konnte sich nicht dazu durchringen aufzustehen. Ein leerer Tag lag vor ihr. Im Bett des Gästezimmers liegend, hatte sie ihre Hände unterm Kopf verschränkt und betrachtete die Einrichtung. Ihr kam es so vor, als ob Leni ihr Jugendzimmer direkt von zu Hause in diese Wohnung gezügelt hatte. Über dem Bett hing ein grosses Poster, Sonnenuntergang am Meer, die Palmen als schwarze Konturen vor leuchtendem Rot. Gegenüber dem Bett stand der Schreibtisch, furniert, gelbliches Braun mit vier Schubladen, daneben ein Gestell mit Büchern, Federica de Cesco, Karl May, Die drei Fragezeichen, Tierlexikon, Weltatlas, ein Duden gelb-schwarz.

Wusste Leni, dass nicht Maurice der Grund für ihr Kommen war? Dass etwas Verhängnisvolles geschehen war und sie Mühe hatte, es in Worte zu fassen? Warum konnte sie nicht darüber reden? Es Leni oder Vater einfach sagen? Ich habe mein Kind verloren, es ist tot.

Warum konnte sie Vater nicht fragen: Wie lebst du? Ohne Mutter, alleine, alt? Was hält dich? Was lässt dich weitermachen? Und die letzte und einzige Frage: Wo ist der Sinn? Der Sinn in diesem Sterben?

Angelina dachte an die Einsamkeit im Spital. Sie hatte geweint. Gerne hätte sie mit jemandem geredet. Doch für die Ärzte war sie ein technisches Problem gewesen und jener Tag ein leeres Datum, weder Geburts- noch Todestag ihres Kindes, sondern ein Arbeitstag von vielen. Zu dritt hatten sie um ihr Bett gestanden und wieder davon gesprochen, dass die Operation notwendig sei und die Vollnarkose kein Risiko. Es hatte sie, Angelina, immense Kraft gekostet zu widerstehen. Es könne Krebs entstehen, hatten die Ärzte gesagt, wenn das restliche Schwangerschaftsmaterial nicht operativ entfernt würde. Dies alles war so weit weg gewesen von ihrer eigenen Befindlichkeit, ihrem wahren Gefühl. Dieser Geruch nach perfekter Hygiene, diese unerlässliche Geschäftigkeit, diese aufgesetzte Fröhlichkeit, das gekühlte Müesli zum Frühstück und der halbwarme Kartoffelstock zum Abendessen, sie hatten nicht gepasst zu diesem unwiederbringlichen Verlust. «Jetzt schauen sie mal, das wird schon», hatte die Ärztin beim Spitalaustritt gesagt. Angelina aber wusste, es würde nicht werden.

Hier in Lenis Gästezimmer fühlte sie sich geschützt. Es war lang und schmal, fast so, wie ihr Zimmer zu Hause bei Mutter und Vater gewesen war. Es vermittelte einen Hauch von Vergangenheit. Damals, als Jugendliche hatten sie die Wände mit Postern vollgepflastert, ihre Zimmer zu einem privaten Reich erklärt und angefangen, diese mit dem Schlüssel abzuschliessen, um ihre Eltern auszusperren. Sie hatten geglaubt, alles wäre möglich, wenn man sie nur liesse.

Mit einem Ruck schlug Angelina die Bettdecke zurück und stand auf. Der grüne Bettbezug mit den orange-gelben Streifen war wohl das Einzige in diesem Raum, das nicht aus Lenis Jugend stammte. Mit einem Fuss schob Angelina die Reisetasche zur Seite und lehnte aus dem Fenster. Wie grün die Bäume waren. Die Buchenblätter, im Sommer kräftig, zartgrün im Frühling, rotbraun im Herbst.

Sie sollte sich nicht gehenlassen, aktiv sein, zu den Drei Weieren spazieren und schwimmen. Wenn es schon wieder einer dieser hochsommerlichen Hitzetage war. Bald käme der Herbst.

Angelina drehte sich um und blickte in ein Gesicht mit wilder Mähne: Rod Stewart. Das Poster war eine mehrmals aufgeklappte Doppelseite aus der Mitte eines Magazins. Auf dem Pult darunter waren Musikkassetten aufgereiht und daneben stand ein Radio mit Recorder. Wahllos nahm Angelina eine Kassette und schob sie hinein. Der Recorder funktionierte. Dieses Ding musste mindestens zwanzig Jahre alt sein. Eine tiefe, raue Stimme ertönte: «Oh the sisters of mercy, they are not departed or gone. They were waiting for me when I thought that I just can’t go on.»

Alles hätte Angelina erwartet, ABBA, Kiss, Beatles, aber er? Dunkel und melancholisch, passte das zu Lenis Jugend?

Angelina lauschte den Worten. Leonard Cohens Stimme war schwer und schleppend, fast wie Balsam. «you … must leave everything». Wie recht er doch hatte. Alles, alles loslassen.

Angelina hatte die Badesachen eingepackt, aber ihre Beine entschieden selbst, wohin sie gingen. Sie führten sie am Mannenweier und weiter an den anderen Weihern vorbei, den Wald entlang, hinauf Richtung Freudenberg zum grossen Holzkreuz. Es tat gut, Distanz zu gewinnen zu diesem Zimmer und der Erinnerung an eine Zeit, als sie geglaubt hatte, das Leben vor sich zu haben und nichts könne dabei schiefgehen.

Von hier sah man die Berge, den Alpstein mit dem Säntis. Es war schwül. Der Sendemast auf dem Gipfel ragte wie ein übergrosses Streichholz am Horizont auf. Dahinter hingen ein paar Wolken. Angelina ging an der Linde vorbei und setzte sich auf die Bank. Obwohl diese direkt am Wegrand stand, war sie auf drei Seiten von Hecken umgeben und bot ihr eine Art Schutz.

Sie dachte an damals, als sie mit Meinhard zum ersten Mal auf den Säntis gestiegen war. Ohne Bahn. Weit war es ihr vorgekommen und steil. Mit dem Fahrrad waren sie auf die Schwägalp gefahren und dann losmarschiert. Ohne zu wissen, ohne sich zu kümmern, was käme. Dunkel war es geworden, bis sie wieder zu Hause ankamen. Mutter und Vater schimpften, weil es bereits spät war. Sie fragten nicht, wo sie gewesen seien. Und weder Meinhard noch Angelina sagten etwas. Stolz hatten sie ihr Geheimnis gehütet. Oben in den Bergen waren sie gewesen. Damals hatte sich für Angelina eine Tür geöffnet. Und vor drei Wochen war es so gewesen, als ob eine andere Tür, eine schwere stählerne, vor Angelina zugeschlagen sei.

Ein Mann setzte sich, ohne zu fragen, ans andere Ende der Bank. Er störte.

Soll er doch, soll er doch meine Tränen sehen, dachte Angelina trotzig. Nur nicht reden.

Der Fremde sass da und schwieg. Angelina schaute wieder zum Alpstein, dem hellen Grau der Felsen und dem dunklen Grün der Wälder davor.

Wolkengrau, Kalkgrau, Silbergrau – welche Farbe hatte die Ewigkeit?

«Möchten Sie auch?» Der Mann sass immer noch auf der Bank keine zwei Meter neben Angelina und hielt ihr einen Apfel hin. «Gravensteiner. Aus dem Garten meines Nachbarn.»

Angelina schaute wieder zum Gebirge, folgte mit den Augen den Konturen der zackigen Grate. Sie hörte, wie er in den knackigen Apfel biss und kaute.

«Geklaut?», fragte sie.

«Aber nein.» Er lächelte und nahm einen weiteren Apfel aus dem Beutel, der neben ihm lag.

Der Apfel schmeckte süss und leicht säuerlich.

Sie sassen schweigend und assen. Von der Stadt her drang fernes, gleichmässiges Rauschen und näher bei ihnen, aus einer anderen Richtung, ertönte Kuhgeläut.

«Ihr Nachbar», sagte Angelina, als sie den letzten Bissen geschluckt und den Kern in die Wiese hinter sich geworfen hatte. «Wo steht dieser Baum?»

Er lachte laut. «Wollen Sie etwa?»

«Klauen, meinen Sie?»

«Schmecken gut, nicht wahr.»

Angelina nickte.

«Ich komme in der Mittagspause oft hierher.» Kurz drehte er den Kopf zu Angelina, blickte dann wieder geradeaus. «Beruhigend, diese Landschaft.»

«Ja, die Berge, friedvoll und doch erbarmungslos», erwiderte Angelina. Es tat gut, mit einem Unbekannten zu reden. Einem, der nichts wusste von ihr, der nachher ging für immer.

«Vielleicht vermag die Natur mehr zu trösten als jeder Mensch. Denn sie ist einfach da, bedingungslos», sagte er, ohne sie anzublicken.

«Was ist Trost?»

Er überlegte eine Weile und sagte dann: «Etwas, das uns in unserem Leid zu berühren vermag.»

«Und wenn einen nichts mehr berührt?»

«Dann ist es eine tiefe Wunde.»

«Ich bin verwundet.»

«Ja, ich weiss.»

Eine Träne rann aus Angelinas rechtem Augenwinkel. Mit einer heftigen Handbewegung wischte sie sie weg und schloss die Augen. Hinter den Augenlidern wurde es nicht dunkel. Mit der Sonne gab es ein gleissendes, helles Schwarz. Gelbschwarz, Orangeschwarz, Schwarzweiss.

Als Angelina die Augen wieder öffnete, war er weg. Neben ihr auf der Bank lag ein rot-grüner Apfel.

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