Kitabı oku: «Sonntagsgeschirr», sayfa 3
An der Urnäsch
Der Tag war genau so, wie Leni und Angelina ihn sich vorgestellt hatten, strahlend blau und unerbittlich heiss. Was hatte Leni vor drei Tagen gesagt? In der Sonne schmoren und nach Abkühlung lechzen?
Sie wollten die Urnäsch entlangwandern. Es war Angelinas Vorschlag gewesen. In der Schlucht mit ihren steilen Wäldern und felsdurchsetzten Flanken würde sich die Kühle halten und das Wasser, aus den Bergen kommend, sich kaum aufwärmen. Angelina hatte Würste und Bürli eingekauft, auch ein wenig Gemüse. Sie hatte fast so etwas wie Vorfreude verspürt. Darauf, durch diese wilde Schlucht zu ziehen, das kalte Wasser zu spüren, Steine zu schiefern und natürlich aufs Feuermachen. Wie lange hatte sie nicht mehr Holz aufgeschichtet, es angezündet, zugesehen, wie die Flammen sich hochschlängelten, mehr und mehr Holzscheite erfassten und diese dann glühend zusammenfielen?
Am Vorabend hatte Angelina Lenis Fahrrad aus dem Keller getragen, vor dem Haus mit einem Schlauch abgespritzt, die Reifen aufgepumpt, die Kette geölt und eine Proberunde gedreht. Es war gefahren. Ein zweites Rad hatte Leni bei der Nachbarin ausgeliehen.
Mit den Fahrrädern fuhren sie nun ins Kubel. Da es abwärts ging, erreichten sie schnell die alte Holzbrücke, dort wo Sitter und Urnäsch zusammenflossen, und wenig später die zweite Holzbrücke über die Urnäsch. Die Leute nannten sie Hüslibrugg, weil sie überdacht war und Seitenwände mit zwei Fensteröffnungen hatte. Angelina lehnte das Fahrrad ans Metallgeländer am Wegrand und betrat die Brücke, auf der es angenehm schattig war. An den Querbalken standen Sprüche in verschlungener Schrift. Bereits als Kind hatte Angelina die Schrift zu entziffern versucht. Sie war fasziniert gewesen von dieser Baute mit ihrem verwitterten Holz. Sie hatte sich berittene Kaufleute und Händler mit schweren Karren und beladenen Lasttieren vorgestellt, wie sie den beschwerlichen Weg über die holprigen Pfade ins Tobel hinunter und wieder hinauf auf die Hügel des Appenzellerlandes meisterten.
Nun betrachtete sie die verschnörkelte Schrift in mattem Schwarz auf dem bleichen, leicht gräulichen Holz. Mit etwas Mühe las sie: «Die Brug in deiβem Tieffen tobel, Wirt genant Alhier Im Kobel.» Sie drehte sich um und las an einem anderen Balken: «Zu Wüssen ist das die Brug 20 schuh Länger ist dan die vor der stehete.»
Dann ging sie zur Fensteröffnung in der Brückenmitte und lehnte hinaus. Unter ihr hatte das Wasser einen leichten Grünstich. Als Kinder hatten sie von hier Steine in den Fluss geworfen. Als ob es dort unten nicht schon genug davon gibt, dachte sie.
Leni war immer noch dabei, die Schrift des Balkens über ihr zu entziffern. «Anno 1778 Durch ein unerdencklichen Wasser guβ, Nimt es 6 Deckte Brugen an deiβem Nemlichen fluβ, Auch damit 3 Fuhr ville weg und alle samtliche Steg, … Kannst du das lesen?», fragte sie. «Fuhr ville oder Muhr?»
«Ville ist Französisch und heisst Stadt», antwortete Angelina. Sie blickte immer noch hinunter zur Urnäsch.
«Das ist bestimmt Französisch.»
Angelina stellte sich neben Leni und las laut: «Nimt es 6 Deckte Brugen an deiβem Namlichen fluβ.»
«Da war ich auch schon, und weiter?», konterte Leni.
«Auch damit 3 Wuhr ville weg und alle samtliche Steg, vom urnäscher Berg und thall biβ hie Här bein Weg», las Angelina, obwohl sie sich auch nicht ganz sicher war. «Wer wohl damals bestimmt hat, was hier geschrieben steht?»
«Der Erbauer», antwortete Leni. «Auf der Tafel vor der Brücke steht, dass sie im Jahr 1780 vom berühmten Zimmermeister Hans Ulrich Grubenmann erbaut wurde.»
«Oder die Obrigkeit? Vielleicht war’s auch egal. Damals konnten bestimmt viele nicht lesen. Kennst du diesen Grubenmann?»
«Nein, Brücken sind nicht gerade mein Spezialgebiet.»
«Es muss wild getan haben, wenn sechs Brücken vom Wasser mitgerissen wurden», sagte Angelina, während sie zurück zum Fahrrad ging und den Rucksack vom Gepäckträger nahm.
«Da hoffe ich, es gibt kein Gewitter.» Leni blickte zum Himmel, der immer noch wolkenlos blau war.
Sie kletterten über den nahen Holzzaun und folgten dem Fusspfad über die Wiese. Bald erreichten sie den Wald und eine Felswand mit einer abschüssigen Stelle, bei der ein Drahtseil befestigt war. Angelina kletterte behände hinunter.
«Du hättest mir sagen sollen, dass ich hier Kletterkenntnisse brauche. Dann hätte ich letzte Woche ein Höhentraining absolviert», stöhnte Leni, als sie mit dem Fuss nach einem Felsabsatz tastete, während sie sich mit beiden Händen ans Seil klammerte. Angelina packte Lenis linken Fuss und schob ihn auf einen breiten Vorsprung. Die Ferse hielt sie mit den Händen fest umklammert. Leni schwankte, als sie den anderen Fuss abhob. Fast hätte sie Angelina ins Gesicht getreten. «Jetzt das Gewicht langsam nach unten verlagern», sagte Angelina ruhig.
«Wohin?»
«Da rechts kannst du stehen.»
Leni stiess einen undefinierbaren Laut aus, bevor sie ihren Körper nach unten sinken liess und ihr rechter Fuss Halt fand. Angelina liess die linke Ferse los und trat einen Schritt zurück. Abermals hätte Leni fast das Gleichgewicht verloren. Dann streckte sie das linke Bein, bis es auf den erdigen Untergrund traf und sie wieder festen Boden unter den Füssen hatte. «Puh, wo führst du mich da hin!»
Kurz danach kamen sie zu einer Stelle, an der die Bäume licht standen. Ein Paar mit zwei Kindern hatte hier eine Decke ausgebreitet. Angelina grüsste und folgte dem Pfad ans Flussufer. Dort zog sie ihre Sandalen aus und trat barfuss auf die Steine. Die Hitze brannte an den Fusssohlen. Schnell hüpfte sie ins kühle Nass. So heiss hatte sie es nicht vermutet. Und das Wasser war weniger kalt als erwartet. «Wir müssen hier queren», sagte sie zu Leni.
Der Fluss war wegen der anhaltenden Hitze zu einem Rinnsal verkommen und bildete nur an wenigen Stellen tiefere Becken. Angelina wusste, dass es ein ganzes Stück flussaufwärts eine Verbreiterung gab, bei der es einen kleinen See hatte, das Tüfelsseeli. Bis dorthin wollte sie gehen. Die Stelle war tief genug zum Schwimmen. Früher hatten sich an diesem Ort die Nacktbadenden getummelt. Ob es immer noch so war, überlegte Angelina. Hatten nicht Leni und sie davon geträumt, in der Sonne zu liegen und für einmal ohne Bikiniabdrücke braun zu werden? Hinter dem Tüfelsseeli standen die Felswände so dicht beieinander, dass es gerade breit genug war, um hindurch zu schwimmen. Der Ort hatte von jeher eine Anziehungskraft und Faszination auf Angelina ausgeübt, die sie sich nie ganz erklären konnte. Es war ihr immer unheimlich vorgekommen, zwischen den Felswänden zu schwimmen. Dort war es dunkel und das Wasser eisig und tief. Einmal war ihr eine Schlange im Wasser begegnet, nur kurz, dann hatte sich diese ans Ufer geschlängelt und war im Dickicht verschwunden. Fast so, als hätte Angelina sich etwas eingebildet.
Angelina versuchte, nicht an schwimmende Schlangen zu denken, sondern sich auf die Steine im seichten Wasser zu konzentrieren. Einige waren mit Algen überzogen und rutschig, andere spitz und stachen in die Fusssohlen. Vorsichtig watete sie ans andere Ufer. Leni folgte ihr mit unsicheren Schritten. Sie hatte es vorgezogen, ihre Turnschuhe anzubehalten. Bald darauf versperrten Felsen den Weg und die nächste Flussquerung stand an. Angelina sprang diesmal von einem grossen Stein zum anderen und hielt auch am gegenüberliegenden Ufer nicht inne, sondern sprang weiter und weiter. Sie dachte an Maurice. Ob er ins Wallis gefahren war? Sich bereits im Abstieg vom Gipfel befand? Bei dieser Hitze musste man früh sein, bevor der Schnee weich wurde. Oder war er zu Hause geblieben, alleine? Vermisste er sie? Und ihr Kind?
Als sie sich umdrehte, stellte Angelina fest, dass Leni ein rechtes Stück zurücklag. Sie kam nur langsam vorwärts. Angelina wollte auf sie warten. Sie dachte ans Bergsteigen, wie manche Männer, von Kraft und Ehrgeiz vorwärts getrieben, ihr von weit oben aufmunternde Worte zuriefen. Und obwohl Angelina keinen Ehrgeiz hegte und ihr Ziel, das Tüfelsseeli zu erreichen, im Grunde unwichtig war, wartete sie nicht. Eine Unruhe drängte sie vorwärts. Als ob stillstehen aufgeben wäre.
Kurze Zeit später hörte sie Leni ihren Namen rufen. Sie nahm sich vor, nur noch diese eine Stelle zu queren und am anderen Ufer im Schatten auf Leni zu warten. Ihre Füsse tasteten sich von einem Stein zum nächsten. In der Mitte hatte es eine kleine Stromschnelle und sie war tiefer, als Angelina vermutet hatte. Bis zur Hüfte stand sie im Wasser. Die Strömung riss an ihren Beinen. Sie hätte den Fluss besser an der seichten Stelle weiter oben gequert. Wenn sie fiele, würde die Strömung sie flussabwärts über ein, zwei Felsstufen mitreissen. Wäre es schlimm? Zu ertrinken?
Dafür führte der Fluss zu wenig Wasser. Hastig setzte sie einen Fuss vor den anderen, rutschte, kämpfte ums Gleichgewicht, fing sich auf, stolperte vorwärts und fiel in den trockenen, weichen Kies. Ein Brennen am rechten Ellbogen durchzog ihren Körper. Sie spürte die Wärme des Bodens und schloss die Augen. Einfach liegen bleiben, dachte sie. Hier am Ufer der Urnäsch, für immer.
«Angelina, hast du dir wehgetan?» Leni kniete neben ihr. Durch Tränen hindurch konnte Angelina verschwommen ihr besorgtes Gesicht sehen.
«Mein Gott, hast du grosse Schmerzen?»
Angelina öffnete die Augen und wollte etwas sagen. Doch es kamen keine Worte.
Leni schüttelte sie sanft an der Schulter. «Angelina, wo tut es weh?»
«Es ist gestorben, mein Kind ist tot.»
Leni schaute sie verwirrt an.
«Ich war schwanger und nun ist es tot. Ich hatte eine Fehlgeburt.»
Schweigend legte Leni die Arme um ihre Schultern und drückte sie an sich. Tränen quollen aus Angelinas Augen.
Welche Farbe hatte der Tod? Schwarz wie die Nacht, Grau wie der Fels oder doch ein tiefes dunkles Blau, so wie das Meer?
«Das tut mir leid», hörte Angelina Leni leise sagen.
«Es tut einfach nur weh. Unendlich weh.» Langsam setzte Angelina sich auf und stützte sich mit den Händen im Kies ab. Sie spürte das Brennen am Ellbogen.
«Ganz schön aufgeschürft», sagte Leni, als sie die Wunde sah.
«Hast du eine Apotheke dabei?»
«Nein.» Leni schüttelte den Kopf.
«Scheiss-Tag!»
Leni nickte. «Ja, ein Scheiss-Tag.»
Sie lachten beide.
Und sie gingen nicht bis zum Tüfelsseeli. Leni mochte nicht mehr weitergehen und Angelina hatte keine Lust mehr. Auf dem groben Kies neben einer kleinen Feuerstelle liessen sie sich nieder. Sie suchten Holz, und als genügend beisammen war, schichtete Angelina es auf. Bei einer Fichte brach sie die unteren feinen Zweige ab und machte daraus ein Bündel. Nun zündete sie das Reisig an, und als es aufflammte, schob sie es unter den Holzstapel. Schnell fingen die Äste darüber Feuer. Leni hatte ihren Cervelat auf einen Stock gespiesst und hielt ihn über das lodernde Feuer.
«Du musst warten, bis es Glut hat», sagte Angelina.
«Ich habe aber Hunger.»
«So verbrennt die Wurst.»
«Das ist mir egal.»
«Leni, du bist stur.»
«Nein, aber ich habe Hunger. Ausserdem ist es meine Wurst.»
Angelina legte ihren Cervelat zur Seite und nahm stattdessen eine Gurke aus dem Rucksack. Sie schnitt diese in der Mitte entzwei und biss in die eine Hälfte. Die Schale war fest. Ich hätte sie schälen sollen, dachte sie. Eigentlich mochte sie Gurken nicht besonders, hatte aber ebenfalls Hunger.
«Vielleicht bin ich stur», sagte Angelina auf der harten Schale herumkauend.
«Wie meinst du das?»
«Weil ich warten muss, bis das Feuer heruntergebrannt ist, obwohl ich Hunger habe.»
Leni lachte.
«Ich hasse Regeln.»
«Ach komm», sagte Leni, «du hast doch immer gemacht, was du wolltest.»
«Wann?»
«Früher schon. Bist einfach ins Ausland abgehauen.»
«Bin ich abgehauen?»
«Wie würdest du es denn nennen?»
«Die weite Welt entdecken.»
«Beschönigend.»
Angelina überlegte. «Zugegeben, es könnte als eine Flucht angesehen werden. Ich wollte weg, wieso auch immer.»
«Vielleicht wollten wir alle auf irgendeine Art weg.»
«Ich bin oft abgehauen», sagte Angelina nachdenklich. «Jetzt bin ich weg aus Genève, fort von Maurice. Lebendig macht es mein Kind nicht mehr.» Sie starrte ins Feuer. Langsam zerfielen die Äste zu Glut. «Denkst du, es kommt darauf an, wann jemand stirbt?»
Leni blickte sie an. «Du meinst, ob es darauf ankommt, ob ein Kind stirbt oder ein alter Mensch?»
«Verändert die Länge des Lebens etwas im Tod?»
«Denkst du an die ungetauften Kinder bei den Katholiken? Daran, dass diese nicht in den Himmel kommen?»
Angelina schüttelte den Kopf. «Nein, nicht wirklich. Ich glaube nicht mehr an die Kirche. Warum sollen die Ungetauften bestraft werden und nicht ins Paradies gelangen? Weil sie nicht leben durften?»
«Glaubst du an ein ewiges Leben?», fragte Leni nachdenklich.
«Weiss nicht», antwortete Angelina.
«Gerne hätten wir Sicherheit darüber, was nach dem Tod kommt. Doch uns bleibt nur der Glaube.»
«Der Gedanke ist tröstlich, meinem Kind irgendwann wieder zu begegnen. Es in meine Arme zu schliessen.»
«Angelina, das wirst du.»
«Meinst du?»
«Schau dich um. Es gibt mehr als dieses kümmerliche Leben.»
Angelina blickte zum Fluss. Das Wasser war leicht grünlich, fast klar. Ja, kümmerlich, dachte sie.
Das Holz war heruntergebrannt. Die Glut hatte ein leuchtend helles Rot und am Rand flammte das Feuer nochmals kurz bläulich auf. Blauorange, dachte Angelina.
Sie griff nach dem Cervelat, spiesste ihn auf eine mit dem Messer zugespitzte Astgabel und hielt ihn über die Glut.
Grosser Bruder
Endlich holte Angelina den Laptop aus ihrer Reisetasche und platzierte ihn auf dem Pult unter dem lächelnden Rod Stewart. Sie hatte sich fest vorgenommen, wieder zu arbeiten. Sich bei Jeanne zu melden und nach Arbeit zu fragen, getraute sie sich nicht. Aber sie hatte noch private Übersetzungsaufträge. Da war die Geschichte von Mariette. Es handelte sich um ein grösseres Projekt, eine Buchübersetzung. Perdu dans l’Annapurna, hiess der Originaltitel. Sie überlegte, wann sie das letzte Mal daran gearbeitet hatte. Es war der Tag vor demjenigen gewesen, an dem sie ihr Kind verloren hatte. Sie übersetzte das erste Mal ein Buch. Der Verleger hatte sie angefragt, denn er war der Meinung, der Text müsse von einer Frau und Bergsteigerin übersetzt werden. Die Geschichte war aus der Perspektive von Mariette geschrieben, die ihren Freund Noël nach Nepal begleitete. Noël plante mit Kameraden die Erstbegehung einer Route an einem Achttausender der Annapurna. Die bereits übersetzten Kapitel beschrieben die Reisevorbereitungen, die Ankunft in Nepal und den Aufstieg ins Basislager. Zuletzt hatte sie übersetzt, wie Noël ins Höhenlager aufgebrochen war, der Wind stetig zugenommen hatte und Mariette zusehends unruhiger geworden war. Angelina dachte an Maurice. Am Abend zuvor hatte er angerufen. Am Wochenende war er mit Robert und Katleen auf dem Besso gewesen und hatte die Überschreitung zum Blanc de Moming gemacht. Er hatte von der Kletterei und der fantastischen Aussicht geschwärmt. Sie wusste, dass der Besso eine einmalige Sicht auf die umliegenden Viertausender bot. Wenn jemandem die Namen der Berge nichts sagten, war es eine Besteigung wie jede andere. Sie jedoch hatte auch davon geträumt, eines Tages auf dem Besso zu stehen. Warum war er zu diesem Berg losgezogen? Es hätte so viele andere Ziele gegeben.
Sie spürte ihre Wut auf Maurice und zugleich war ihr Wunsch, den Besso zu besteigen, wie aus einer anderen Welt in einem vergangenen Leben. Sie fühlte sich nicht imstande zu solch einer Tour. Maurice kam gut ohne sie zurecht.
Entnervt klappte sie ihren Laptop zu. Sie konnte sich nicht konzentrieren. Ausserdem brannte ihr aufgeschürfter rechter Ellbogen. Im Bad durchsuchte sie die Schubladen nach einer Salbe, und als sie diese fand, strich sie eine dicke weisse Schicht auf ihren Arm. Dann marschierte sie schnurstracks zum Telefon.
Sie hatte ihr Handy zu Hause vergessen, zumindest hatte sie es Maurice so erklärt. In Wirklichkeit hatte sie es liegen gelassen, damit niemand sie erreichen konnte. Sie hätte es natürlich auch ausschalten können, aber es war eleganter, das Handy gar nicht dabeizuhaben. Die Telefonnummer von Meinhards Architekturbüro war problemlos im Internet zu finden gewesen. Bereits letzte Woche hatte sie sich vorgenommen, Meinhard anzurufen, es aber immer wieder hinausgezögert. Unzählige Male hatte sie sich irgendwelche Worte zurechtgelegt, um dann alles wieder zu verwerfen.
An Weihnachten hatten sie immer miteinander telefoniert und auch an den Geburtstagen. Doch letzte Weihnachten hatte Angelina nur eine Postkarte geschrieben mit einer Gämse im Schnee auf der Vorderseite. Die Feiertage hatte sie mit Maurice, Katleen und Robert im Goms verbracht. Es hatte gerade genug Schnee gelegen für ein paar Skitouren: Tällistock, Sidelhorn, Brudelhorn.
Früher hatten sie sich an Weihnachten daheim bei Mutter und Vater getroffen. Mutter hatte den Baum immer mit roten Kugeln und mit echten Kerzen geschmückt, die sie an Heiligabend angezündet hatten. Es war zauberhaft. Echte Kerzen! Wer benützte heutzutage noch echte Kerzen? Mit dem Tod von Mutter hatte sich alles verändert. Irgendwie war Angelina immer davon ausgegangen, dass Meinhard und Vater Weihnachten zusammen verbrachten. Ob das stimmte?
Das Klingeln am anderen Ende war zu hören als fernes Tut, Tut, Tut. Angelina presste den Telefonhörer fest ans Ohr und wartete mit einer Mischung aus Anspannung und freudiger Erwartung darauf, Meinhards Stimme zu hören.
«Architektur Kollbrunner.» Es war Meinhard.
«Hoi, ich bin’s.»
«Angelina?»
War es Verwunderung in seiner Stimme?
«Ich bin in St. Gallen, können wir uns sehen?», fragte Angelina.
«Machen wir, wann?»
«Ich kann nach Romanshorn kommen. Es ist sicher schön am See jetzt.»
Sie vereinbarten, sich am späteren Nachmittag zu treffen. Angelina legte den Hörer auf und es war, als wäre eine Last von ihren Schultern gefallen. Während sie in der Küche das Geschirr spülte, trällerte sie ein Kinderlied vor sich hin: «Vo San Gallä uf Sankt Fidä da hät’s es Tunnel, wämmer ine chunnt, wird’s dunkel, wämmer use chunnt, wird’s hell. Holeduli, duliduli, holeduliduliduliduli …»
Vom Bahnhof Roggwil aus sah Angelina bereits den Bodensee. Das leicht abfallende Wiesland mit den Obstbäumen, dann den See und das gegenüberliegende Ufer, Deutschland. Sie legte beide Hände flach an die Scheibe des Zugfensters und starrte hinaus, wie sie es als Kinder auch immer getan hatten. Als der Zug mit einem Ruck anfuhr und ihre Nasenspitze leicht gegen die Scheibe schlug, fuhr sie erschrocken zurück.
Beim Einsteigen in St. Gallen hatte Angelina überlegt, von welchem Sitzplatz aus sie Seesicht hätte. Von ihrer Wohnung zu Hause sah sie den Lac Léman nicht, dafür den Salève, den Hausberg von Genève, der aber bereits in Frankreich lag. Hier in der Ostschweiz war alles eine Spur näher, familiärer, provinzieller. Ob sie deshalb ausgezogen war in die weite Welt, um der Enge zu entkommen?
Sie hatte in Sydney gearbeitet, später in Cairns, war in Neuseeland gewesen und dann über den Pazifik zur Osterinsel und weiter nach Südamerika gereist. In Bogotá hatte sie eine Sprachschule besucht, danach die Andenländer durchquert, dabei einen Abstecher in den Urwald des Amazonas und auf die Galápagos-Inseln gemacht, bis sie auf der Reise nach Patagonien Maurice kennengelernt hatte. Mit ihm war sie in die Schweiz zurückgekehrt. Sie hatte bei ihm in seiner kleinen Zweizimmerwohnung in Fribourg gewohnt und nochmals die Schulbank gedrückt. Sie hatte die Matura nachgeholt, da sie Übersetzerin werden wollte. Und als sie an die École de traduction et d’interprétation aufgenommen wurde, zogen sie gemeinsam nach Genève. Für Maurice als Informatiker war es ein Leichtes, eine neue Arbeitsstelle zu finden. Aber für Angelina waren die ersten Monate in Genève hart. Es war so anders als Fribourg. Nicht nur die Ausbildung forderte sie. Immer wieder hatte sie das Gefühl, herablassend behandelt zu werden, auch von Deutschschweizern, die bereits lange Zeit in Genève lebten. Glaubten sie, mit ihrer Hochnäsigkeit die kleinbürgerliche Schweiz hinter sich gelassen und den Sprung in eine mondäne Welt geschafft zu haben?
Schneller als ihr lieb war, kam der Zug in Romanshorn an. Gerne hätte sie die Landschaft weiter an sich vorüberziehen lassen wie ein farbiges Band mit aufgedruckten Buchstaben. Kaum hatte sie die Worte entziffert, kamen bereits die nächsten Gedankenfetzen, stetig und unaufgeregt.
Neben dem Bahnhof in Romanshorn lag der Hafen. Vom Zug aus konnte sie sehen, wie soeben die Fähre aus Friedrichshafen einlief. Angelina stieg aus, ging durch die Unterführung und hinüber zum Quai.
Wie nur konnte sie Meinhard erklären, was geschehen war? Seit Mutters Beerdigung hatten sie sich nicht mehr gesehen. Sie lebte in Genève, Meinhard in Romanshorn. Entfernter voneinander konnte man in diesem Land nicht leben. Würde er sie verstehen?
Langsam legte das Schiff bei der Landungsbrücke an und die ersten Passagiere gingen an Land. Sie könnte übersetzen nach Deutschland, oder das Ausflugsschiff nach Konstanz und weiter den Rhein entlang nehmen bis nach Schaffhausen. Immer weiter. Weg von hier und dieser Begegnung.
War dies nicht ihr Beruf? Übersetzen? Das, womit sie Geld verdiente. Übersetzen, von einer Sprache in eine andere, von einem Ufer ans andere, von einem Land ins nächste. Traduire, traverser une frontière linguistique, traverser le lac …
Zögernd ging sie zurück. In der Unterführung war es düster. Ein paar Schüler vor ihr schubsten sich hin und her, lachten, versperrten den Weg. Meinhard hatte versprochen, sie am Bahnhof abzuholen. Wartete er bereits? Tritt für Tritt stieg sie die steinerne Treppe zum Bahnhofsplatz hinauf. Auf dem hellgrauen Granit hatte es schwarze Sprenkel und weisse, plattgedrückte Kaugummis.
Angelina erblickte Meinhard, an die Mauer des Postgebäudes gelehnt. Als er sie sah, erhellte ein Lächeln sein Gesicht. Er hatte sich verändert. Bereits als Kind hatte er zu den Grossen gehört, inzwischen war er breiter geworden. Seine hochgewachsene und massige Gestalt wirkte auf Angelina wie die Standfestigkeit in Person. Er umarmte sie lange und fest.
Angelina unterdrückte die Tränen. «Hey, grosser Bruder, wie geht’s?»
«Gut und dir? Hast du mich je in Romanshorn besucht?»
«Einmal. Das müsstest du doch wissen!»
«Lass uns zum See spazieren. Ich war den ganzen Tag im Büro.»
Sie gingen zum Hafen und den Quai entlang. Die Geschäftigkeit auf der Fähre hatte sich inzwischen gelegt. Eine leichte Brise wehte. Es war angenehm frisch, nicht so stickig wie in St. Gallen.
«Schön hier am See», sagte Angelina.
«Ja, ich würde ihn gerne mehr nutzen. Vor ein paar Jahren habe ich den Segelschein gemacht. Ich habe eine kleine Jacht mit einem Freund zusammen, habe ich dir das schon erzählt?»
«Eine Jacht? Du segelst?»
Meinhard blickte sie an. «Sehe ich inzwischen so unsportlich aus?»
«Das habe ich nicht gemeint.»
«Wir können am Wochenende auf den See, vorausgesetzt es hat Wind. Und sonst nehmen wir den Motor. Was treibst du so?»
«Ich besuche Leni. Kannst du dich noch an sie erinnern? Wir sind zusammen zur Schule gegangen.»
«Schwach. Warst du schon bei Vater?»
«Letzte Woche.»
«Und?»
«Hat sich nicht schlecht arrangiert, glaube ich.»
«Meinst du?»
«Was glaubst du?»
«Ich habe viel zu tun, die Bauwirtschaft boomt. Da komme ich selten nach St. Gallen. Er meldet sich auch nie.»
«Nein, er meldet sich nie.»
«Aber du bist nicht gekommen wegen Vater oder mir. Was treibt dich zurück?»
Angelina presste die Lippen aufeinander. Schweigend gingen sie nebeneinander her und am Kornhaus vorbei zum Jachthafen. Angelina betrachtete die Motor- und Segelboote, die vertäut waren. «Liegt hier dein Schiff?»
«Nein, drüben im Gemeindehafen. Ich hätte es dir zeigen können. Aber hier ist es friedlicher, weil es weniger Leute hat.»
Auf der Mole, die den Hafen abtrennte, spazierten sie zwischen Büschen hindurch. Als sie das äussere Ende mit einer Fahnenstange und drei Flaggen erreichten, blieb Angelina stehen. Dann holte sie tief Luft: «Meinhard, es ist … mein …» Sie stockte.
«Du brauchst es mir nicht zu erzählen, wenn du nicht willst», antwortete er schnell.
Meinhard trat drei Schritte vor und blieb stehen. Angelina tat es ihm gleich. Sie standen nun auf den Steinquadern, die wie eine grosse Treppe zum See hinabführten. Ein paar Blässhühner schwammen auf sie zu.
«Schau, der Zeppelin.» Meinhard blickte zum Himmel.
«Ein Zeppelin?»
«Ja, von Friedrichshafen aus kann man Rundflüge machen.»
Das Wasser plätscherte leise, als weiter draussen ein Passagierschiff vorüberfuhr. Angelina hörte das Rascheln der Blätter im Wind. Die Brise war hier etwas stärker zu spüren. Hatten sie die Jahre der Kindheit, die unzähligen Abenteuer zusammengeschweisst? Was war von damals geblieben?
Meinhard trat mit der rechten Fussspitze auf einen Kiesel, presste die Zehenspitzen und den Fussballen fest darauf, während er die Ferse hin und her schwenkte. Es war, als wollte er den Kiesel zermalmen. Abrupt blickte er auf. «Du hast dich Monate nicht gemeldet und jetzt stehst du einfach hier. Schön, dass du da bist.»
In Meinhards Wohnung gaben die Panoramafenster einen weiten Blick zum See hin frei. Von der geräumigen Wohnküche führte eine Schiebetür zur Terrasse, und als Meinhard diese nun aufschob, war es, als ob der ganze laue Sommerabend den letzten Winkel der Wohnung ausfüllte. Alles zusammen erschien Angelina wie ein Mittelmeerambiente und es war ihr, sie rieche sogar das Salz des Meerwassers in der Luft.
Auf der Terrasse standen ein Tisch und vier Stühle und weiter hinten ein einsamer Rosmarinstrauch in einem bauchigen, blauen Blumentopf.
«Wie lange hast du diese Wohnung schon?», fragte Angelina, ans Terrassengeländer gelehnt.
«Dies ist mein dritter Sommer.»
«Und das ganze Haus hast du geplant?»
«Na klar, ich bin Architekt. Ich tue nichts anderes.»
«Als Häuser am See zu bauen.»
Angelina nahm eine Olive aus der Schale und schob sie in den Mund.
Meinhard hatte den Vorschlag gemacht, auf seiner Terrasse zu grillen. Während er den Grill aus dem Keller geholt, mit einem alten Lappen den Staub entfernt und die Kohle eingefüllt hatte, hatte Angelina den Salat gewaschen und Oliven, Silberzwiebeln und Essiggurken in kleine Schälchen gefüllt.
Nun goss Meinhard Brennflüssigkeit über die Kohlen, hielt ein Streichholz daran und erzeugte eine riesige Stichflamme. Schnell trat er einen Schritt zurück.
Angelina spukte den Stein der Olive in die Wiese. «Für drei Jahre bist du aber dürftig eingerichtet.»
Meinhard hielt den Blasebalg, mit dem er Luft zwischen die Kohlen gepumpt hatte, nun wie einen Tennisschläger, um den Rückschlag auszuführen. «Wie meinst du das?»
«Der Grill im Keller, ein verwaister Rosmarinstrauch.»
«Ich giesse zu wenig, da geht alles andere ein. Jetzt bring das Fleisch.»
«Ich hätte eine Flasche Weissen mitbringen sollen, kühl und spritzig für einen solchen Abend», sagte Angelina, während sie Meinhard den Teller mit den marinierten Steaks reichte.
«Ist für alles gesorgt. Hol die Flasche aus dem Kühlschrank und zwei Gläser.»
Der Duft des gebratenen Fleisches weckte Angelinas Appetit. «Soll ich testen?», fragte sie auf den Weisswein zeigend.
Meinhard nickte, während er das Fleisch geschickt mit der Grillzange wendete.
Angelina nahm einen Schluck vom Wein. «Fruchtig.»
«Schmeckt er dir?»
«Perfekt.»
Sie assen schweigend. Meinhard hatte den Stuhl mit dem Seeblick Angelina überlassen. Letzte Sonnenstrahlen spiegelten sich auf der Wasseroberfläche.
«Zuhause haben wir nie grilliert», sagte Angelina.
«Aber Mutter hat gut gekocht», erwiderte Meinhard.
«Was mochtest du so gerne?» Angelina dachte kurz nach. «Kaiserschmarren und Salzburger Nockerln?»
«Nockerln habe ich seither nie mehr gegessen. Die bekommst du nirgends.»
«Vielleicht irgendwo in Österreich», bemerkte Angelina.
«Dass Mutter diese Spezialitäten so gut kochen konnte? Sie stammte ja nicht aus Österreich.»
«Hat sie extra für Vater gelernt.»
«Meinst du, sie haben sich geliebt?»
Erstaunt blickte Angelina zu Meinhard. Zögerte jedoch mit ihrer Antwort. «Bestimmt», sagte sie dann. «Glaubst du nicht?»
«Mir wird langsam kalt. Sollen wir reingehen?»
Vom Esstisch aus sah Angelina, wie der See seinen Glanz verlor. Der Himmel färbte sich blauorange und schliesslich verschwand das letzte Gelb am Horizont und wich der Dunkelheit. Sie sah die Lichter am anderen Ufer. Dazwischen lag schwarz der See. Und obwohl sie in der warmen Wohnung sassen und die Nacht draussen nicht wirklich kalt war, fröstelte sie. «Es ist schon spät», sagte sie und blickte auf die Armbanduhr. Es war erst Viertel vor zehn Uhr.
Meinhard begleitete sie zum Bahnhof. «Also, Segeln am Sonntag», sagte er und umarmte Angelina zum Abschied fest. «Ich rechne mit dir.»
Im Zug befanden sich letzte Ausflügler auf dem Heimweg. Angelina schloss die Augen. Der Abend war so friedlich gewesen. Nein, es hatte keine zweite Gelegenheit gegeben, um es Meinhard zu sagen.