Kitabı oku: «Sonntagsgeschirr», sayfa 4
Das Dorf
«Kommst du mit auf einen Spaziergang ins Dorf?», fragte Angelina Vater. Niemand, der nicht an diesem Ort aufgewachsen war und ihn von früher her kannte, hätte diese Ansammlung von Häusern inmitten von Fabrikhallen und Einkaufszentren Dorf genannt. Doch für Angelina war es das Dorf geblieben.
Es war nun über eine Woche vergangen, seit sie Vater das letzte Mal besucht hatte. Am Morgen hatte sie ihn angerufen und gefragt, ob er zu Hause sei. «Ja, ja. Komm vorbei», hatte er gesagt.
Nun war Nachmittag. Sie beide sassen in Vaters Wohnung am Tisch, je ein Glas Wasser vor sich, und wussten nicht, worüber sie reden sollten. Da verspürte Angelina den Wunsch, nach draussen zu gehen. Es war lange her, seit sie im Dorf gewesen war.
Hallen, hell erleuchtete Bürogebäude und Parkplätze säumten ihren Weg. Mövenweg, las Angelina auf dem Schild. Ob es hier früher Möwen gegeben hatte? Sie konnte sich nicht daran erinnern. Dies war ihr Schulweg gewesen. Beim Scheidweg hatte sie sich mit Klassenkameraden getroffen, und gemeinsam waren sie den Mövenweg entlanggegangen. Es war ein Kiesweg gewesen, der ins Dorf geführt hatte, ohne dass eine einzige Strasse überquert werden musste. An den freien Nachmittagen hatten sie im nahen Walkebach kleine, selbst gebastelte Flosse schwimmen lassen. Vom Bach und den Blumenwiesen von damals war nichts mehr geblieben. Sie dachte an Margeriten, Wiesenknöteriche und rot leuchtenden Mohn, an hoch gewachsene Gräser mit Rispen.
Der Schulweg hatte über die Bahngleise geführt. Es hatte eine Barriere gegeben, die ein guter Grund fürs Zuspätkommen gewesen war. Dann wurde die Bahnschranke durch einen hohen Zaun ersetzt, die Bahnlinie für die Fussgänger untertunnelt und so das Dorf in zwei Teile geteilt.
Als Angelina nun mit Vater durch die Unterführung ging und sie kurz darauf am Dorfbrunnen standen, bretterten die Züge vorüber, ohne auch nur das Tempo zu drosseln. An die Einweihung des Brunnens mit einem grossen Fest konnte sie sich dunkel erinnern. Früher hatte es einen Gemüsehändler, einen Dorfladen mit Käsetheke, eine Bäckerei und eine Metzgerei gegeben. Alles, was ein Dorf ausmachte. Und natürlich eine Kirche, nein zwei Kirchen, eine katholische und eine evangelische. Wie der Dorfbrunnen waren sie geblieben. Die katholische Kirche war schneeweiss, mit einem Dach, das sich in einem schwungvollen Bogen gegen den Himmel erhob. Ihr Schutzpatron, Bruder Klaus, hatte ihnen als Kinder eine Wallfahrt nach Sachseln und nach Flüeli in den Ranft beschert. Die Knaben, auch Meinhard, hatten ministrieren dürfen. Angelina nicht, weil sie ein Mädchen war. Es hatte sie wütend gemacht, etwas nicht tun zu dürfen, was Meinhard tat. Nur Sternsingen, das durfte sie auch. Weil sie so schön singen konnte und weil der Pfarrer sie mochte. Daran dachte Angelina nun, als sie mit Vater die breite Treppe zum Platz vor der Kirche hochstieg. Vater umfasste das Geländer und blieb kurz stehen, bevor er die nächsten Stufen nahm. Auch Angelina hielt inne. Sie überlegte. Nein, es tat nicht mehr weh, dass sie nicht hatte ministrieren dürfen. Hatte Gott diese Regeln erstellt oder waren sie von den Menschen erfunden worden? War Gott überhaupt eine Erfindung der Menschen? Vielleicht um das Gefühl zu haben, Leiden ergebe irgendeinen Sinn?
Jeden Sonntag war sie mit Mutter und Vater zur Kirche gegangen. Die Frauen und Mädchen hatten auf der linken Seite gesessen, die Männer und Knaben auf der rechten. Sie hatte Missionarin werden wollen, um den armen Kindern zu helfen und Gott zu dienen. Welch’ kindliche Vorstellung von Helfen, dachte sie nun. In die Fremde war sie gegangen, aber nicht um zu missionieren. Dem Dorf und der Enge war sie entflohen.
Die Metalltür war schwer und fiel hinter ihnen mit einem dumpfen Klock zu. Im Innern der Kirche war es düster und kühl. Die Betondecke wirkte wuchtig und schwer. Einer Welle gleich, senkte sie sich zuerst, um sich dann emporzuschwingen. Und je weiter Angelina nach vorne ging, umso leichter und erhabener wirkte die Decke. Kleine Fenster liessen von oben Licht ein und warfen einen hellen Schein auf den Altar aus beigem Marmor mit dunklen Sprenkeln. Vor der Marienfigur mit Jesuskind flackerten schmale, weisse Kerzen.
«Lass uns eine Kerze anzünden für Mutter», flüsterte Angelina Vater zu. Obwohl sie alleine waren, wagte sie es nicht, laut zu sprechen. Sie nahm eine Kerze, drücke sie Vater in die Hand und zündete ein Streichholz an. Vaters Hand zitterte leicht. Eine weitere Kerze zündete Angelina selbst an und schob sie in den weichen Sand der Schale neben diejenige für Mutter.
Angelina setzte sich neben Vater auf die Kirchenbank. Die farbigen Fenster dämpften die Helligkeit von draussen. Vater sass halb in sich gesunken, den Kopf vornübergebeugt. Ob er eingenickt war? Angelina lehnte zurück. Sie spürte das harte Holz am Rücken, legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die hohe, geschwungene Decke. Sie dachte an Migg, ihren Hamster. Er war kurz nach ihrem neunten Geburtstag gestorben. Sie war so unsäglich traurig gewesen und hatte Trost gesucht. Ihr grösster Wunsch war damals gewesen, dass es Migg gut gehe und sie ihn eines Tages im Himmel wiedersehen würde. Um sicher zu gehen, hatte sie sich nach der Beichte an den Pfarrer gewandt. «Tiere kommen nicht in den Himmel», hatte er sie belehrt, «denn nur Menschen haben eine Seele.»
Damals hatte er in ihr erste Zweifel gesät an diesem Gott, der die Tiere seelenlos erschuf. Nein, wenn Gott so war, dann wollte sie nicht an ihn glauben. Angelina schüttelte den Kopf und seufzte. Sie blickte nach vorne zu den Kerzen. Mit zusammengekniffenen Augen sahen die Flammen wie ein wogender heller Teppich aus.
«Sollen wir zurückgehen?», fragte Vater. Ihr Seufzen hatte ihn aus dem Schlummer gerissen. Er richtete seinen Oberkörper auf, stützte sich mit der einen Hand auf der vorderen Banklehne ab und ging langsamen Schrittes durch den Mittelgang. Angelina nahm erst in diesem Augenblick die nahezu lebensgrosse, geschnitzte Figur von Bruder Klaus im hinteren Teil wahr. Er hatte in ihrem Rücken gestanden, dieser Einsiedler mit Bart und markanten Gesichtszügen.
Vor der grossen, zweiflügeligen Tür tauchte Vater die Fingerspitzen ins Weihwasser, drehte sich um, deutete eine Kniebeuge an und bekreuzigte sich. Währenddessen suchte Angelina nach einer Münze im Portemonnaie und warf diese in den Opferstock. Dann suchten ihre Augen nochmals ihre zwei flackernden Kerzen, bevor sie die Kirche verliess. Draussen schmerzte das grelle Licht der Nachmittagssonne. Schweigend gingen sie die breite Treppe vom Kirchplatz zur Strasse hinunter.
Auf dem Rückweg fragte Angelina: «Gehen wir den Bildweier entlang? Ist doch schöner als an der Strasse.»
Wie sagte Vater immer für unnütze Wege? Wenn sie einen Umweg gemacht hatten? Das Kreuz um die Kirche tragen. Das passte zum heutigen Tag.
Vom Weiher war wegen der Hecke nichts zu sehen. Erst als sie zu zwei Tischen mit Bänken und Abfallkübeln kamen, blickten sie aufs Wasser. Ein Metallzaun umgab den See. Es hatte eine Informationstafel, auf der stand: Vögel am Bildweier. Farbige Bilder zeigten Bekassine, Eisvogel, Gänsesäger und weitere Vögel. In kleinerer Schrift stand ein längerer Text. Das Schutzgebiet Bildweier und seine abwechslungsreiche Umgebung … Angelina las nicht weiter. Früher hatte es keinen Zaun gegeben, sondern einen kleinen Bootssteg aus dunklem Holz, und als Kinder hatten sie trockenes Brot mitgebracht und die Enten und Fische gefüttert. Eines Nachmittags hatte Meinhard den Vorschlag gemacht, das Sumpfgebiet, das den Weiher umgab, zu erkunden. Schnell war er inmitten des hohen Schilfs verschwunden gewesen. Angelina hatte versucht, ihm zu folgen. Am Rand war der Boden nur feucht gewesen. Bald jedoch hatte das moorbraune Wasser ihre nackten Füsse überspült und kurz darauf bis zu den Knien gereicht. Sie war von einer Schilfinsel zur nächsten gehüpft, doch auch diese boten irgendwann keinen Halt mehr. Sie hatte sich verloren inmitten dieses Dickichts aus hohen Schilfrohren.
Vater setzte sich auf die Bank. Er wirkte müde. Hier musste früher der Bootssteg gewesen sein. Angelina ging zum Zaun und blickte aufs Wasser. Es hatte eine grünliche Farbe. Braungrün, Moosgrün, Olivgrau?
Vom Bootssteg war nur noch ein rostiges Gerüst übrig.
«Weisst du, dass ich hier fast ertrunken bin?»
Vater hob den Kopf und schaute Angelina fragend an.
«Dort, weiter vorne bei den Weiden. Und dann ist plötzlich Meinhard neben mir gewesen. Ich war schon bis über die Knie eingesunken.»
«Ja, der Meinhard.»
«Warum rufst du ihn nicht einmal an?»
«Der hat ja auch keine Zeit.»
Enten, Blässhühner und zwei Schwäne schwammen herbei. Von hier sah Angelina auf der anderen Seite des Weihers die hohen Betonwände des Fussballstadions mit der Shopping Arena und links davon einen Teil der roten Fassade des Westcenters. Dort war die Allee gewesen. Sie hatte sie gemocht, diese knorrigen Bäume. Heutzutage gab es Umfahrungsstrassen, Autobahneinfahrten und Überholspuren. Das Rauschen des Verkehrs drang unablässig zu ihnen.
«Vater, warst du schon einmal in der Arena?»
«In der Arena? Wozu?»
«Um einzukaufen.»
«Da unten gibt’s alles, was ich brauche.» Er machte eine Handbewegung in Richtung Wiese und Bäume.
Früher hatte es um die Ecke einen kleinen Konsum gegeben. Hatte dieser sich halten können? Ein kleiner Laden inmitten der Shoppinglandschaft?
Wie der Weiher, dachte Angelina, Schutzgebiet, eingezäunt und umringt von Strassen. Stand auf der Infomationstafel nicht etwas von abwechslungsreicher Umgebung? Sie schüttelte den Kopf und setzte sich neben Vater auf die Bank.
Bodensee
Mit einem grellen Läuten riss der Wecker Angelina aus dem Schlaf. Er hatte zwei Glocken, war rund und stand auf vier geschwungenen Füssen. Das Gehäuse war leuchtend rot. Angelina hatte an reife Erdbeeren gedacht, als sie den Wecker am Vorabend aufgezogen hatte. Sie hatte den kleinen Hebel an der Rückseite ganz bis an den Anschlag gedreht. Und nun hörte das überlaute Klingeln nicht auf, irgendein Mechanismus, der gegen die Glocken schlug. Angelina tastete nach einem Knopf, um das Rasseln zu stoppen. Sie fand keinen. Schliesslich endete es mit einem abgewürgten Drrriiing. Angelina schaute auf das goldene Ziffernblatt mit den römischen Zahlen und zwei bauchigen Zeigern. Es war sieben Uhr morgens.
Seit sie vor fast zwei Wochen Genève verlassen hatte, hatte sie keinen Wecker mehr gestellt. Morgen für Morgen liess sie sich treiben, lag im Halbschlaf und träumte wirres Zeug: von Zügen, die entgleisten, von Wasser, in dem sie zu ertrinken drohte und in der Nacht zuvor von einem Kind, das in ihren Armen starb. Wie sie es herumtrug, ohne zu begreifen, dass es schon tot war.
Hatte der Wecker sie vorher nicht auch aus einem Traum gerissen? Sie überlegte. Ein Polizist hatte sie verfolgt. Hatte sich der Verfolger plötzlich in Maurice verwandelt? Sie mochte nicht an Maurice denken.
Angelina blickte zu Rod Stewart über dem Pult. Sein rötliches Haar war zu einer wilden Mähne gestylt und seine Augen glänzten freundlich, fast schon verführerisch. Sie stand auf und suchte bei den Kassetten auf dem Pult, fand eine von ihm, schob sie in den Recorder und drückte auf Play. «I am sailing, I am sailing, … stormy waters, to be near you …» Augenblicklich kamen ihr die Tränen. «Can you hear me, can you hear me, through the dark night, far away.» Lauthals sang sie mit, schrie geradezu. «I am dying, forever crying, to be with you …»
Als sie sich umdrehte, stand Leni im Türrahmen, verschlafen und in einem kurzen Nachthemd. «Wolltest du heute nicht segeln gehen?»
Angelina drückte auf die Stop-Taste und Rod Stewart verstummte. «Entschuldige, ich wollte dich nicht wecken.»
«Das hat der Wecker bereits getan. Ich hatte vergessen, dass dieses Ding so abartig laut ist. Haben wir dieses Lied nicht auch in der Sek bei der Abschlussfeier gesungen?»
«Doch ich glaube schon.» Angelina blickte zum Wecker. «Es ist schon zwanzig nach, ich muss mich beeilen, um neun Uhr treffe ich mich mit Meinhard in Romanshorn.»
Leni ging zu ihrem Zimmer, drehte sich noch einmal um: «Schönen Tag.»
«Entschuldige nochmals für die Ruhestörung.»
«Ich werde mich revanchieren, gute Nacht.» Und damit schloss Leni die Zimmertür hinter sich.
Im Zug, dem Voralpenexpress, war es bereits heiss. Ein Teil der Fenster stand offen und ein starker Luftzug wehte durch den Wagen. Wieder ein strahlend blauer Himmel, nur in der Ferne, über den Bergen Österreichs hatte es kleine, weisse Wolken. Ob es überhaupt genügend Wind hatte? Warum hatte sie sich auf diesen Segeltörn mit Meinhard eingelassen? Sie konnte gar nicht schwimmen, jedenfalls nicht wirklich, nicht in einem tiefen See und nicht, wenn sie kein Land mehr sah. Aber der Bodensee war doch kein Meer, da sah man immer Land. Ausserdem gab es auf diesen Booten bestimmt Schwimmwesten. Und wenn Meinhard ins Wasser fiele? Aber Meinhard war ein super Schwimmer im Gegensatz zu ihr, jedenfalls früher. Schwimmen verlernte man nicht.
Angelina dachte, es wäre ihr egal, am Ufer zu bleiben, ins Strandbad zu gehen und nur ein Stück hinauszuschwimmen. Im Zug hatte es viele Ausflügler. Velofahrer mit gepolsterten Hosen, ihre Helme in der Hand, und Familien mit Badetaschen. Die Kinder, aufgeregt und voller Vorfreude, schwatzten laut durcheinander. Besser doch nicht ins Strandbad. Sie ertrug keine Kinder, nicht in ihrem Zustand.
Der Zug füllte sich, je näher er dem See kam. Eine Frau mit einem Kleinkind auf dem Arm setzte sich gegenüber und lächelte ihr freundlich zu. Angelina wandte den Blick ab und schaute angestrengt durchs Fenster, fixierte die vorbeiziehende Landschaft. Wiesen, Obstbäume, ein Wald, dort am Waldrand ein Fuchs, er blickte auf. Er hatte neugierige, schwarze Augen. Dann erreichten sie die ersten Häuser von Romanshorn. Endlich.
Als der Zug hielt, starrte Angelina weiter durchs Fenster. Sie wartete bis die Frau mit dem Kind verschwunden war, bevor sie aufstand. Unauffällig strich sie sich mit dem Handrücken über ihr rechtes Auge. Dann über das linke. Heuschnupfen, würde sie sagen, wenn jemand fragte. Aber es fragte nie jemand.
Als Angelina an den Bootshafen kam, erblickte sie die unterschiedlichsten Schiffe, von der Jolle bis zur Motorjacht. Ein paar Plätze waren bereits leer. Soeben verliess eine Jacht den Hafen. Welche wohl Meinhard gehörte? Da sah sie ihn weit vorne auf dem Deck eines Segelschiffs. Er schwenkte die Arme über dem Kopf und rief: «Angelina.»
Er schien gut gelaunt, trug kurze weisse Hosen, ein hellblaues Poloshirt und weisse Turnschuhe. «Fast hätte ich verschlafen», sagte er, als Angelina sich seinem Schiff näherte. Der Holzsteg schwankte leicht. Sie unterdrückte den Gedanken, dass ihr bereits schlecht sei. Das war bestimmt nur ihre Nervosität.
«Gibst du mir bitte die Sachen rüber.» Meinhard zeigte auf eine Kühlbox und einen Korb mit Getränkeflaschen, die auf dem Steg standen. «Ich dachte, wir sollten nicht hungern.»
Das Segelboot war grösser, als Angelina gedacht hatte. Vielleicht neun Meter lang und drei breit. «Können wir denn dieses Ding zu zweit segeln?», fragte sie.
Meinhard lächelte: «Kein Problem. Du hast hoffentlich deine Badehosen eingepackt.»
Sie nickte stumm.
«Komm», rief Meinhard und verschwand in der Kajüte.
Leicht schaukelte die Jacht auf und ab. Mit Unterstützung des Motors waren sie hinaus auf den See gefahren. Es hatte kaum Wind und Meinhard schlug vor, zur Abkühlung ein Bad zu nehmen. Er warf einen leuchtend roten Gummiballon, der an einer langen Leine befestigt war, ins Wasser.
In der Kajüte zog Angelina zögerlich ihr Badekleid an und legte ihre Kleider auf das Polster der Sitzbank. Als sie wieder an Deck kam, war Meinhard nirgends zu sehen. Sie entdeckte ihn im Wasser. Eine Hand an der Leine mit dem Gummiballon lag er auf dem Rücken und liess sich gemütlich treiben.
Sollte sie sich nun auch ins Wasser wagen mitten auf dem See? Langsam, Tritt für Tritt stieg sie die Leiter hinab. Zuerst berührte das Wasser nur ihre Füsse, dann ihren Bauch. Durch die Kälte spannten sich die Muskeln. Ruhig weiter atmen, redete sich Angelina zu. Ihre Finger klammerten sich fester um die Sprosse.
Sekunden später tauchte Meinhard hinter ihr auf: «Mach endlich.»
«Wer steuert jetzt das Schiff?»
«Keine Angst, das schwimmt von selbst.»
«Aber wenn es abtreibt?»
«Bei dieser Flaute steht es so gut wie still. Und siehst du dort den Fender?» Er zeigte zum leuchtenden Gummiballon, der sich leicht auf dem Wasser bewegte. «Du kannst dich an der Leine festhalten.»
Endlich liess sich Angelina nach hinten gleiten und spürte die Kühle des Wassers am Rücken. Mit rudernden Bewegungen hielt sie sich senkrecht. Bei den Füssen war das Wasser noch kälter. Die gleissende Sonne spiegelte auf dem See und Angelina kniff die Augen zusammen. Wo war Meinhard?
Angelina klatschte mit der Handfläche aufs Wasser und spritzte ihn an. Er drehte sich, als ob er im Wasser rollen würde, dann spritzte er zurück. Angelina schlug kräftiger. Meinhard auch. Sie waren in einem Schwall aus spritzender Gischt. Prustend schnappte Angelina nach Luft. Meinhard schwamm lachend zu ihr. «So, übermütig, kleine Schwester?»
Immer noch hustend suchten Angelinas Augen die Jacht. Für einen Augenblick hatte sie vergessen, dass sie mitten auf dem See waren. Vorhin war das Boot doch direkt neben ihr gewesen. Wenn sie abgetrieben waren?
Wenige Meter entfernt schaukelte es vor sich hin, und direkt neben ihr war der rote Fender. Angelina nahm die Leine und hielt sich daran fest. Dann schwamm sie mit ein paar Zügen zum Schiff. Als ihre Hand nach der Leiter griff, ihre Füsse die unterste Sprosse ertasteten und sie sich hochzog, war sie erleichtert, wieder Boden unter den Füssen zu haben, wenn auch wackligen. Sehnsüchtig blickte sie Richtung Appenzellerland und Alpstein mit dem Säntis. In den Bergen hatte sie festen Stand. Sie legte sich auf die aufgewärmten Planken, schloss die Augen und spürte die Sonne auf ihrer Haut. Tropfen fielen in ihr Gesicht. Meinhard stand mit triefendem Haar neben ihr. «Hast du Hunger?»
Er breitete Tomaten, Oliven, Salami, Käse, Brot und Aprikosen aus. Angelina schob eine Cherrytomate in den Mund, spürte die Flüssigkeit und das weiche Fruchtfleisch. Sie mochte diesen Geschmack von leichter Süsse. «Vater und du», sagte sie, «was war da?»
Meinhard blickte zum Mast hoch. «Lass es uns noch einmal versuchen mit Segeln. Endlich ist Wind aufgekommen.»
Er stand auf und machte sich am Grosssegel zu schaffen. Dann kurbelte er an der Winsch und der schwere Stoff des Segels wurde am Seil hochgezogen. Ein Windstoss straffte das Tuch. Meinhard stellte sich hinters Steuerrad und löste die Arretierung. «Jetzt noch die Genua.»
Bald wölbte sich auch das zweite Segel im Wind. Angelina staunte über die Kraft, welche die beiden Segel blähte und das Schiff durchs Wasser schob. So wie Meinhard da stand, wirkte er stolz. «War Vater schon einmal auf der Jacht?», fragte Angelina.
«Meinst du, er käme auf ein Segelschiff?»
«Hast du ihn denn eingeladen?»
Meinhard machte eine wegwerfende Handbewegung. «Hast du ihn zu dir nach Genf eingeladen?»
Angelina dachte an die Zeit, als Mutter noch gelebt hatte. Einmal waren sie und Vater nach Genève gekommen für ein paar Stunden. Über Nacht hatten sie nicht bleiben wollen.
Der Wind nahm zu. Sie segelten Richtung Deutschland. Dort hinten musste Friedrichshafen sein. Wo wohl die Landesgrenze lag, hier mitten auf dem See?
«Besuchst du ihn ab und zu?», fragte Angelina.
«Wen?»
«Na ja, Vater.»
«Was heisst ab und zu?»
«Wann warst du das letzte Mal bei ihm?»
Meinhard drehte am Steuerrad, die Segel verloren an Spannung und flatterten hin und her. «Mist!»
Die Tücher spannten sich erneut, und das Schiff nahm wieder Fahrt auf.
«Nun sag schon.»
«Dort hinten ist alles schwarz. Aber ich glaube, es zieht vorüber.»
«Du lenkst ab.»
«Und du nervst.»
Meinhards wütender Tonfall schreckte Angelina auf. Sie blinzelte in die Sonne. Der Himmel hatte ein wolkenloses, helles Blau, aber als sie sich umdrehte, sah sie eine schwarze Wand über dem Alpstein. Unbemerkt hatten sich die bauschig weissen Wolken weiter und weiter aufgetürmt, waren grau geworden, dann tiefschwarz.
«Vielleicht müssen wir abwettern und warten bis das Gewitter vorüber ist.» Meinhards Stimme hatte eine ungewohnte Ernsthaftigkeit. «Zieh dir Kleider an und eine Regenjacke. Es hat Jacken im Schrank in der Kajüte.»
Als Angelina zurück an Deck kam, stand Meinhard in Kleidern und Regenschutz konzentriert hinter dem Steuerrad. Er klappte den Deckel der Sitzbank hoch und nahm Schwimmwesten heraus. Blitzschnell zog Meinhard seine leuchtend orange Weste über, während Angelina ihre ratlos in den Händen drehte.
«Dort mit dem rechten Arm, ja genau, und da links», rief Meinhard ungeduldig. «Und nun die Schnallen.»
Der Wind zerrte an den Segeln und riss diese mit lautem Flattern hin und her.
«Wir müssen das Grosssegel herunternehmen und am Baum befestigen, dann die Genua reffen. Komm, hilf mir.» Meinhard startete den Motor, drehte das Schiff in den Wind und schob Angelina hinters Steuerrad. Der Baum schlug über ihren Köpfen laut knallend von einer Seite zur anderen.
«Siehst du dort oben am Masttop den Pfeil? Das ist ein Windanzeiger. Du musst so steuern, dass der hintere Teil in der Mitte der beiden Winkel ist.»
Ein helles Zucken zerschnitt die schwarze Wand des Himmels und ein gewaltiges Krachen ertönte. Angelina begriff, dass dieses gelb-orange Blinken die Lichter der Sturmwarnung waren, doch das Gewitter war bereits über ihnen. Heftige Böen fuhren in unregelmässigen Abständen in die Genua, während erste dicke Regentropfen fielen. Angelinas Hände klammerten sich am Steuer fest. Starker Regen setzte ein und hämmerte gegen die Planken. Nervös blickte sie nach oben zum Pfeil. Er schwankte ein wenig hin und her.
Wenn wir kentern und es mich über Bord spült, dachte Angelina, gehe ich unter. Sie sah, dass eine Schnalle der Schwimmweste noch offen war. Kurz liess sie das Steuer los. Sofort begann es, von selbst zu drehen. Das Schiff legte sich zur Seite und begann, Fahrt aufzunehmen. Angelina erschrak und packte das Steuer mit beiden Händen. Mit lautem Getose schlug die Genua hin und her.
«Verflucht nochmal, in den Wind halten, habe ich gesagt», hörte sie Meinhards Stimme wie von weit weg. Er war immer noch mit dem Befestigen des Grosssegels beschäftigt.
Angelina blickte nach oben zum Mast. Der Regen peitschte auf sie herab. Rinnsale liefen über ihr Gesicht und den Nacken hinunter. Sie zog die Kapuze der Regenjacke über ihr langes Haar. Sie sah Meinhards leuchtende Kleidung, dahinter den tiefschwarzen See. Wellen türmten sich auf und schlugen krachend gegen den Rumpf. Gischt spritzte hoch. Wasser drang in ihre Schuhe. Sie bemerkte, dass Meinhard barfuss war. Er wusste bestimmt, dass nur Gummistiefel diesem Schwall von Wasser standhalten würden. Die Nässe liess Angelina frösteln. Erschrocken stellte sie fest, dass sie vergessen hatte, auf den Windanzeiger zu achten. Ringsherum nur Wasser. Ihr war schwindlig. Das Auf- und Abschlagen des Schiffs wurde unerträglich und das flaue Gefühl in ihrem Magen verstärkte sich. Ihre Hände klammerten sich am Steuer fest, bis die Knöchel weiss hervorstanden.
«Du bist ja ganz bleich.» Meinhard stand neben ihr, griff nach dem Steuerrad und stellte den Motor ab. «Bist du seekrank?», fragte er mit leichtem Grinsen.
«Wir sind in Seenot. Hilft uns niemand?»
«Setz dich hin, ich übernehme das Steuer. Das ist alles halb so wild. Wenn wir an Land sind, geht es dir gleich besser.»
Schwer liess sich Angelina auf den Sitz fallen und schloss die Augen. Sofort nahm die Übelkeit zu. Ihr Magen schien sich zu drehen.
«Wir segeln auf Halbwind. Bald ist das Gewitter vorüber», hörte sie Meinhard sagen. «Dann nehmen wir Kurs Richtung Romanshorn.» Seine Stimme klang leise im tosenden Wind und den laut gegen die Schiffswand schlagenden Wellen. Der Regen hatte nochmals zugenommen. Kurz darauf schlugen Hagelkörner auf sie ein. Das Schiff hob und senkte sich, unaufhörlich. Angelina wünschte sich, dass es stillstehen würde, nur einen Moment. Sie musste durchhalten. Es wäre besser, sich auf den Horizont zu konzentrieren. Mit Schrecken bemerkte Angelina, dass es keinen gab. Alles war eins. Himmel und Erde in einem einzigen, dichten Grau.
Sie glaubte sich im auf- und abschwankenden Schiff wie in einer Nussschale, die führungslos irgendwo hingetrieben wurde. Sie sehnte sich nach festem Land unter den Füssen, Festland. Liess sich bei diesem Sturm noch etwas steuern?
«Wir wechseln die Richtung. Du musst mir helfen», riss Meinhard sie aus ihren Gedanken. Angelina erhob sich schwerfällig und stellte sich neben ihn.
«Du musst an dieser Schot hier ziehen, bis es nicht mehr weitergeht, und dann mit der Winsch kurbeln, sobald ich die Schot auf der anderen Seite gelöst habe.»
«Wenden, jetzt ziehen!», rief Meinhard kurze Zeit später.
Angelina zog an der Schot, kurbelte dann an der Winsch bis Meinhard sagte: «Stopp, es reicht.» Zu Angelinas Erstaunen war das Manöver ohne Schwierigkeiten gelungen.
Sie wusste nicht, wie lange es dauerte, bis das Gewitter weiterzog. Endlos erschien es ihr. Plötzlich wurde es heller und das Wasser ruhiger. Weit vorne sah sie eine Ortschaft. War das Romanshorn? Das Schiff glitt schnell dahin. Sie hatte den Eindruck, sie würden über das Wasser fliegen. Bald lag die Hafeneinfahrt vor ihnen. Meinhard stellte den Motor an und sagte: «Angelina, du musst die Schot von der Winsch lösen.»
Sofort begann das Segel zu flattern. Meinhard rollte die Genua vom Cockpit her auf. Angelina wollte nur eines, endlich festen Boden unter den Füssen spüren. Sie setzte sich und schloss die Augen. Ihr war immer noch übel.
«Wir sind im Hafen!», rief Meinhard. «Hilf mir, die Jacht festzumachen.»
Angelina erhob sich und streckte sich nach der Leine am Metallpfosten, der fest im Wasser stand. Langsam glitt das Schiff an den Liegeplatz und Meinhard befestigte die Leinen an der Jacht. Vom leicht schwankenden Schiff nahm Angelina einen grossen Schritt auf den Steg und übergab Meinhard von dort die beiden anderen Leinen. Er zeigte ihr die rechte Hand mit dem Daumen nach oben und strahlte sie freudig an. Endlich, Angelina atmete auf.
Sie taumelte über den Steg, kletterte die nächstbeste Leiter auf die Mole hoch und setzte sich erschöpft auf die Mauer. Der Wind kräuselte immer noch leicht die Wasseroberfläche. Bald schien die Sonne wieder und ihr wurde heiss. Meinhard war immer noch auf der Jacht beschäftigt. Nicht einmal die Schwimmweste hatte Angelina ausgezogen. Sie öffnete nun die Schnallen der Weste und zog diese samt der Regenjacke aus. Danach löste sie die Schnürsenkel ihrer triefend nassen Turnschuhe und stellte diese neben sich. Als sie die Socken auswrang, tropfte es auf den Boden und es bildete sich ein kleines Rinnsal. Dann machte sie es sich auf der Regenjacke bequem, schloss die Augen und genoss die wärmende Sonne.
Sie musste kurz eingenickt sein. Meinhard sass neben ihr, hielt eine Flasche Mineralwasser in der Hand und trank. Er blickte auf den See. Dieser lag ruhig und die Sonne spiegelte sich auf der Oberfläche. In der Ferne sah Angelina noch dunkle Wolken. Weit weg schienen sie. Als Meinhard merkte, dass sich Angelina bewegte, fragte er: «Willst du auch?», und hielt ihr die Flasche hin.
Angelina stellte fest, dass sich ihr Magen etwas beruhigt hatte, und trank mit grossen Schlucken.
«Und jetzt?», fragte Meinhard.
«Weiss nicht», sagte Angelina.
«Sollen wir bei mir zu Hause noch etwas Kleines essen, bevor du nach St. Gallen fährst?»
«Aber nur etwas Kleines.» Ihr Magen fühlte sich nach wie vor flau an.
Meinhard hatte Salat gemacht und die Reste vom Mittagessen aufgetischt. Angelina sass einfach am Tisch und starrte durch das Panoramafenster auf den See.
«Es ist nicht das, was du denkst», sagte Meinhard, als er sich an den Tisch setzte.
«Du meinst, wir waren nie in Seenot?»
Meinhard lachte. «Nein, nicht wirklich. Ich wollte dir auch keine Angst einjagen. Ich spreche von Vater, wir hatten keinen Streit.»
«Was dann?»
«Es ist wegen Mutter. Sie hatte doch dieses Fotoalbum.»
«Und?»
«Mutter im weissen Kleid bei der Erstkommunion, Mutter zusammen mit Onkel Alois und Onkel Friedrich, mit Oma und Opa.»
«Ja?»
«Es lag doch immer hinten im Kleiderschrank unter den Blusen. Weisst du noch, wie wir es heimlich hervorgeholt und angeschaut haben, und Mutter es gemerkt hat, weil alle Blusen nachher zerknittert waren?»
«Dass du dich so genau erinnerst?»
«Vater hat Mutters Sachen einfach auf den Müll geworfen.»
«Nein.»
«Doch, es ist alles weg.»
«Aber die Wohnung sieht aus wie früher.»
«Die Möbel ja, aber die Fotos sind weg. Das Album und sogar das Hochzeitsfoto sind verschwunden.»
Angelina begriff, dass ihr selbst von ihrem Kind nichts geblieben war, rein gar nichts. Es gab nur die Erinnerung an eine kurze Zeit des Schwangerseins.
«Ich dachte, ich würde sterben, da auf dem See während des Gewitters.»
Meinhard presste die Lippen aufeinander. «War es so heftig?»
«Ich wollte durchhalten und überleben, aber manchmal wäre es mir egal.»
«Was?»
«Zu sterben.»
«Wie meinst du das?»
«So, wie ich es sage.» Eine Träne löste sich im Augenwinkel und rann über ihre Wange. «Mein Kind ist gestorben.»
«Dein Kind?»
«Ich war schwanger und dann ist es gestorben, einfach so. Und nun ist es tot.»
«Oh nein! Angelina», Meinhard legte einen Arm um ihre Schultern. «Ich hätte einen Neffen oder eine Nichte gehabt.»
Tränen rannen unaufhaltsam aus ihren Augen. «Ich wünsche mir so sehr, ich wäre bei ihm.»
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