Kitabı oku: «Network», sayfa 2

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Fast-Buy

30.11.2046

David Fuller konnte sich nicht daran erinnern, wie lange er bereits durch die Stadt irrte. Sein Zeitgefühl war weg, seine Bewegungen waren ziellos. Bevor er den Mehringdamm überquerte, scannte er mit gehetztem Blick seine Umgebung ab. Er war sich sicher, dass man ihn verfolgte. Er hatte keine Ahnung, wer seine Verfolger waren oder wie sie aussahen, dennoch spürte er dieses Kribbeln im Nacken, als ob ihn jemand beobachtete. Er hatte Angst. Kältewellen durchfluteten seinen Körper und ließen ihn erschauern. Die Passanten, deren Augenkontakt er suchte, schauten eilig weg, als ob er etwas Ekelerregendes an sich hätte.

Er ging schneller. Das vertraute Logo eines Fast-Buy stach ihm ins Auge. Er hatte Hunger, seit bestimmt 20 Stunden hatte er nichts mehr gegessen. Er öffnete die Tür und ging hinein, an den Security-Servanten vorbei, möglichst unauffällig, deren prüfende Blicke ignorierend.

Der Fast-Buy war einer dieser vollautomatischen Supermärkte, die dem Kunden minutenschnelles Einkaufen garantierten. Man musste nur am Eingang einchecken, die gewünschten Artikel an einem der zehn Terminals eingeben, die in eine hüfthohe Aluminiumkonsole integriert waren, dann zum gegenüberliegenden Fließband gehen, das direkt an eine Röhrenverbindung zur Artikellagerung angebunden war und ohne Wartezeit mit Bankchip an einer der Kassen bezahlen. Wenn alles funktionierte.

Er begab sich zum einzigen Terminal, das in Betrieb war. Die holografischen Darstellungen der Virtual-Work-Special-Price-Menüs, wie die staatlich subventionierten Tagesgerichte für die Networker genannt wurden, ließen ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Für einen kurzen Augenblick wurde ihm schwindlig. Er hielt sich mit einer Hand an der Aluminiumkonsole fest. Im Geist summierte er die Ausgaben der letzten drei Tage und überschlug, wie viel Geld noch auf seinem Bankchip war.

Er kam zu dem Ergebnis, dass es für ein Kartoffelmenü mit Sojageschnetzeltem und ein Joghurtkaltgetränk reichen müsste. Kurz fragte er sich, was wohl passierte, wenn er das Guthaben auf seiner Chipkarte doch ganz aufgebraucht hatte. Sein Hunger war aber so stark, dass er diesen Gedanken gleich wieder verdrängte. Er gab sein Wunschmenü ein und ging zur Zahlstation, wurde zu Kasse eins geleitet und sah, wie die von ihm bestellten Artikel auf das Fließband fielen. Er steckte seine Karte in den Pay-Schlitz und wartete.

Ein lautes Summen ließ ihn zusammenzucken. Irritiert schaute er sich um, bis er endlich merkte, dass der Alarm an seiner Kasse losgegangen war. Sein Atem beschleunigte sich. Eine neutrale Stimme teilte ihm mit, dass seine Karte gesperrt sei. Fassungslos sank er zu Boden und stützte den Kopf auf seine Hände.

Vor ein paar Tagen war die Welt noch in Ordnung gewesen, er hatte eine Wohnung gehabt, nichts Besonderes, aber wenigstens war sie seine, er hatte ein Hobby und er ging pflichtbewusst seinem virtuellen Job nach, er war sogar ein richtiger Könner. Und dann eine so schöne Frau als Patientin – die ein Netzmörder war, ihn einfach abknallte und jetzt …

Leise begann er zu weinen. Wenn er wenigstens gewusst hätte, wie es weitergehen sollte.

*

Mia Babic war eine Stunde zu früh. Sie schlenderte den Mehringdamm entlang und versuchte, wieder ein Gefühl für Berlin zu bekommen. Drei Jahre war sie nicht mehr hier gewesen, und es hatte sich einiges verändert.

An jeder freien Häuserwand prangten digitale Werbebilder. Die meisten kamen vom größten europäischen Konzern, der European Assurance (EA). Wenn man den Anzeigen glaubte, dann brauchte die im Netz arbeitende Bevölkerung nichts dringender als Rentenversicherungsverträge, neue VR-Elektroden mit verbesserter audiovisueller Auflösung digitaler Sinnesreizungen (»für den Networker extra special-priced«, so der Slogan) oder EA-Aktienfonds, »die Fonds mit der besten Rendite seit Menschengedenken«.

Babic massierte ihre Nasenwurzel. Sie hatte leichte Kopfschmerzen, was nicht nur vom langen Flug, sondern bestimmt auch vom ersten Eindruck herrührte, den ihr Berlin nach der langen Abwesenheit bot.

Sie war enttäuscht. In den USA hatte sie noch gedacht, die Berichte der New York Times über das Erscheinungsbild der europäischen Großstädte entstammten amerikanisch-ignoranten Fantasien. Doch dem war nicht so. Das Zentrum der Innenstadt, einer der lebhaftesten Touristenmagneten Europas, glitzerte und flackerte. Die Gehwege sahen aus wie geleckt, das Farbenmeer der Reklamelichter suggerierte einen Wohlstand, den es nicht gab, zumindest nicht für alle.

Hier in Kreuzberg sah die Welt schon ganz anders aus. Die Hälfte der Läden waren Secondhandshops, von denen bestimmt drei Viertel Tauschgeschäfte erlaubten. Die restlichen Schaufenster sahen aus wie Marktstände hinter Glas, an denen es so ziemlich alles zu kaufen oder zu tauschen gab, was man für den Alltag brauchte.

Babic blieb vor einem unbeleuchteten Schaufenster stehen und betrachtete geistesabwesend ihr Spiegelbild. Sie sah müde aus. Ihre widerspenstigen blonden Locken nervten sie auch dieses Mal ebenso wie die beiden Grübchen auf ihren Wangen. Daran änderte auch nichts, dass andere immer wieder betonten, wie hübsch sie doch sei. Oberhalb der linken Augenbraue hatte sie eine kleine Narbe, eine Erinnerung an den Faustschlag eines betrunkenen Investmentbankers, den sie davon abgehalten hatte, seine Freundin zu verprügeln.

Gedankenverloren strich sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Oft schon hatte sie gehört, dass an ihr auf den ersten Blick vor allem etwas undefinierbar Exotisches auffiel, das in reizvollem Kontrast zu ihrer Haarfarbe und ihrer mitteleuropäischen Gesichtsform stand. Wahrscheinlich waren es der relativ dunkle Teint und die dunkelbraunen Augen.

Sie ging weiter und seufzte leise.

Jetzt war sie also wieder zu Hause. Morgen würde ein neuer Lebensabschnitt für sie beginnen. Sie atmete tief durch. Der Druck im Magen ging trotzdem nicht weg. Sie wusste nicht, ob sie den Stress schon wieder aushalten würde.

Der Gesichtsausdruck ihres Vaters kam ihr in den Sinn, als sie ihm vor Jahren eröffnet hatte, dass sie ihren Kindheitswunsch verwirklichen und zur Polizei gehen werde. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht, als sie daran dachte, wie er auf sie eingeredet hatte: sie habe doch Psychologie studiert und mit Auszeichnung promoviert und sei erst 25 Jahre alt. Es war ihm nicht gelungen, sie von ihrem Plan abzubringen.

Die Polizei hatte damals zur Anhebung des Bildungsstandards eine ganze Reihe von Fördermaßnahmen für Quereinsteiger eingeführt, die Jobs und gute Aufstiegschancen versprachen. Sie war gerade ein Jahr im Morddezernat gewesen, als ihr ein Platz in einem Eliteausbildungsprogramm in den USA angeboten wurde. Sie zögerte keine Minute, bevor sie zusagte. Das animierende Gefühl nervöser Erregung, das sie durchströmte, als sie zum ersten Mal den Seminarraum der FBI-Sondereinheit in San Francisco betrat, war Babic heute noch gegenwärtig.

In diesem Umfeld sog sie alles, was ihr geboten wurde, begierig auf; die kriminologische Grundlagenausbildung, das Profiler-Spezialtraining, die Masterkurse in Neurophysiologie, ja, sogar die eher langweiligen IT-Programmier-Schulungen. Als sie als Mitglied der Behavioral-Analysis-Unit zum New York Police Department wechselte, hatte sie ein Zeugnis mit der zweithöchsten Abschlusstest-Punktzahl der letzten 15 Jahre in der Tasche.

Babic setzte sich auf eine kleine Bank an einer E-Bahn-Haltestelle, ließ ihren Blick über den Mehringdamm schweifen und dachte an ihre neue Stelle. Morgen fing ihre Arbeit als Mitglied einer unlängst eingerichteten, kleinen Spezialeinheit der Bundespolizei für die Bekämpfung von staatlich relevanten Kapitalverbrechen, kurz SBBK, an. Sie war gespannt, was sie erwartete. Das Spektrum der Verbrechen reichte von Morden an öffentlichen Personen über schwerwiegende Serienstraftaten und organisierte Kriminalität bis zur Störung der virtuellen Realität. Irgendwie hatte sie den Verdacht, dass man ihr den Job hier als eine Art Rehabilitationsprogramm gegeben hatte. Und dass nicht nur ihr alter Chef, sondern auch ihre beste Freundin Richie Hensen dabei eine entscheidende Rolle gespielt hatte.

Sie schüttelte den Kopf. Sie würde mit Richie Hensen zusammenarbeiten, die sie schon seit ihrer Kindheit kannte. Unglaublich. Keinen Cent hätte sie früher darauf verwettet, dass Richie einmal bei der Polizei landen würde. Sie hoffte nur, dass sie nicht wieder zusammenbrach. Und dass niemand bemerkte, dass sie immer noch diese fürchterlichen Panikattacken hatte. Sie hatte nicht mal Richie davon erzählt.

Bis zu ihrem Treffen blieb ihr noch eine Dreiviertelstunde. Sie entschied sich für einen kurzen Einkauf im Supermarkt gegenüber dem vereinbarten Treffpunkt. Als sie den Fast-Buy betrat, sah sie, dass sich eine ungefähr 15 Meter lange Schlange an der einzigen funktionierenden Kasse gebildet hatte.

Ein etwa 40-jähriger, gedrungener und leicht abgegriffen gekleideter Mann mit schütterem grauem Haar und auffallenden Tränensäcken stand am Kopf der Schlange und fegte wutentbrannt Konserven vom Fließband. Die anderen Kunden standen mit ängstlich-neugierigen Gesichtern und einem gewissen Sicherheitsabstand um ihn herum. Ein ungefähr 17-jähriger, teuer gekleideter Jugendlicher sprach gerade in den an seinem Kragen befestigten Telefonbutton, holte tief Luft, streckte die Brust raus und ging ein paar Schritte auf den Mann zu.

Hoffentlich spielt der jetzt nicht den Helden, schoss es ihr durch den Kopf. Sie spannte ihre Muskeln an, hielt sich aber noch zurück. Im Grunde ging es sie ja gar nichts an, aber der Mann war verzweifelt und der Junge ein Angeber. Eine ungute Kombination, das wusste sie aus Erfahrung. Sie bewegte sich ein paar Schritte vorwärts, bis sie nur noch etwa sechs Meter von der Menschenansammlung entfernt war.

»He, Alter!«

David Fuller ließ die Cola-Dose aus recyclebarem Shuyao fallen, die er gerade gegen die Zahlstation schleudern wollte. Er blickte den Jungen, der sich direkt vor ihm aufgebaut hatte, irritiert an. Der Junge stand breitbeinig da, ein siegesgewohntes Lächeln auf dem Gesicht, im für dieses Alter typischen naiven Glauben an absolute Unverletzbarkeit.

Fuller zuckte mit den Schultern, strich eine Haarsträhne zurück und hämmerte mit der Faust gegen die Zahlstation. Das Lächeln im Gesicht des Jungen erstarb. Er schaute sich kurz um, ganz besonders schien ihn die Reaktion einer hübschen jungen Frau Anfang 20 zu interessieren, deren angstvoller Blick ihn offenbar anstachelte.

Er trat an den Mann heran, der ihm den Rücken zugewandt hatte, und gab ihm mit der flachen Hand einen Schubs. Erstaunlich schnell wirbelte dieser herum. Erschrocken trat der Junge einen Schritt zurück.

Der Mann hatte etwas Bananenförmiges in der Hand. Babics Puls beschleunigte sich. Ein G-Booster. Das Gerät, das die Security-Servanten bei gewaltsamen Konflikt-Eskalationen benutzten. Um Gottes willen! Wie war er da rangekommen? Und ganz offensichtlich kannte er sich mit dem Gerät nicht aus: Das Teil war auf volle Stärke eingestellt – damit konnte man sogar in eine Betonwand ein Loch schießen.

Fuller richtete den Booster auf den Jungen. Der wusste allem Anschein nach nichts von der Wirkung des Apparats. Er hatte sich wieder gefangen.

»Was willst du denn?«, motzte er ihn an. »Leute, die sich ihren Lebensunterhalt verdienen wollen, möchten ebenfalls einkaufen, also schwirr ab.«

Fuller zuckte zusammen.

»Was?«, fragte er mit leerem Blick.

»Du hast mich doch verstanden, oder?« Der Junge verzog verächtlich die Mundwinkel. »Leute wie du sollten froh sein, dass sie versorgt werden, und ein bisschen mehr auf ihr Geld achtgeben.« Nach Anerkennung heischend sah er sich um.

Fuller erstarrte. Sein Gesicht wurde puterrot. Er atmete zweimal tief durch, machte einen Satz nach vorne, riss den jungen Mann an den Haaren zu sich und packte ihn mit einem Doppelnelson-Griff. Der Gesichtsausdruck des Jungen war nun deutlich weniger selbstsicher. Seine Augen traten aus den Höhlen, und sein Gesicht nahm langsam eine rotbläuliche Farbe an.

Babic hatte sich den beiden langsam genähert. Sie stand Fuller nun am nächsten. Die anderen Kunden hatten sich entsetzt ein paar Schritte entfernt, keiner aber hatte den Supermarkt verlassen. Aus sicherem Abstand gafften sie, die Neugier hatte die Angst aus ihren Gesichtern verdrängt.

Babic atmete tief in den Bauch, hob ihre linke Hand, um den Mann auf sich aufmerksam zu machen, und sprach ihn mit ruhiger, fester Stimme an. »Lassen Sie den Jungen bitte gehen.«

Fuller sah auf. Sein Gesicht war voller Angst und Sorge. Den Jungen ließ er allerdings nicht los.

Babic startete einen neuen Versuch. Sie streckte beide Hände aus.

»Der Junge ist doch nicht der, den Sie wollen.«

Fuller lockerte seinen Griff, die Gesichtsfarbe des Jungen wechselte wieder von Blau in Richtung Rot.

»Bitte!«, sagte Babic sanft.

Fuller ließ den Jungen los, der nach Luft schnappend auf die Knie sank.

Babic stellte sich zwischen den Mann und den Jungen, dem sie mit einer Hand aufhalf und mit einem Nicken bedeutete, zur Seite zu gehen.

Statt sich zu entfernen, schubste dieser Babic jedoch zur Seite und stürzte sich mit einem albernen karateähnlichen Sprung auf Fuller, der reflexartig reagierte. Der Schuss riss ihn regelrecht auseinander.

Babic klatschte etwas Nasses, Schweres ins Gesicht. Mit dem Ärmel wischte sie sich die Augen frei. Dass ihr weißes Langarmshirt voller Blut war, ignorierte sie.

Die Zeit schien stillzustehen. Fuller starrte auf den verstümmelten Körper des Jungen.

Ein gequältes »Nein!« entrang sich seiner Kehle.

Babic war vor Wut über das Verhalten des Jungen noch wie paralysiert. So konnte sie auch nicht reagieren, als Fuller auf sie losging und sie in den Schwitzkasten nahm, ihr Ohr an seine Brust gequetscht. Sie konnte sein Herz rasen hören.

Etwas wurde gegen ihre Schläfe gepresst. Vermutlich der G-Booster.

Der Typ hätte ein stärkeres Deo nehmen sollen, war der erste Gedanke, der ihr durch den Kopf schoss.

Verdammt, schon wieder so eine scheiß Situation, der zweite Gedanke. Na klar, als hätte sie es herbeigerufen, stieg eine Welle saurer Übelkeit von ihrem Magen auf. Ruhig rückwärts von 20 auf null zählen, vergegenwärtigte sie sich eine simple Notfalltechnik, die sie im Trainingslager in San Francisco in simulierten Extremsituationen 100e Male geübt hatten. Es funktionierte auch dieses Mal überraschend gut. In Extremsituationen war sie eigentlich immer relativ cool geblieben, sogar als es ihr sonst ziemlich schlecht ging. Na ja, als ausgebildete Psychologin wusste sie nur zu gut, dass ihre Panikattacken eine irrationale Dynamik hatten und vor allem in Situationen kamen, in denen eigentlich keine Gefahr drohte.

Sie fokussierte ihre Wahrnehmung.

Der Mann atmete schnell, vollkommen außer Fassung. Sie wollte etwas Beruhigendes sagen, doch der Würgegriff des Typs war so stark, dass sie nur ein Krächzen herausbrachte. Das Etikett am Bund seiner Trainingsjacke sprang sie an. Anti-Sweat-Faser. Ihre Wahrnehmung war hyperreal. Die unterschiedlichen Blautöne von Jacke und Hose fielen ihr auf, beide Retro-Jeans, stonewashed. Die ersten Sternchen tauchten in ihrem Sichtfeld auf. Kein so gutes Zeichen. Zu wenig Sauerstoff im Gehirn.

»Ich will meine Identität zurück!«

Die Stimme des Mannes überschlug sich.

Babic spürte ein Kribbeln in ihren Armen. Lang durfte der Würgegriff nicht mehr andauern. Sie riss sich zusammen und kalkulierte. Sie war sich sicher, dass sie ihn außer Gefecht setzen könnte, aber zu welchem Preis? Am Ende einen weiteren Toten? Außerdem kam ihr der Mann nicht wie ein Krimineller vor, eher panisch, vollkommen außer sich.

»Ich will jemanden von der EPD sprechen, oder ich bringe die Frau um!«

Babic zuckte zusammen. Das Geschrei des Mannes schmerzte in ihrem Trommelfell.

Eine ältere Frau, nur etwa eineinhalb Meter entfernt, mit einer Tüte frischer Möhren in der rechten Hand, fing an, leise zu wimmern.

Babic sah aus dem Augenwinkel, dass nun endlich ein Security-Servant des Supermarkts auftauchte. Er richtete ein halbautomatisches Betäubungsgerät auf den Geiselnehmer.

»Versuch doch zu schießen, dann ist die Frau tot«, brüllte dieser in Richtung Servant. Dabei bewegte er sich wie ein gefangenes Tier im Käfig ruckartig hin und her und trat von einem Fuß auf den anderen. Babic, noch immer im Schwitzkasten, fühlte sich, als würde ihr der Kopf von den Schultern gerissen. Sie versuchte, sich synchron mit dem Mann zu bewegen. Ihre Gedanken rasten.

*

Domuan Di Marco schlenderte gedankenverloren den Mehringdamm entlang. Er dachte nach. Über Elvis Presley. Und über sein Date gestern auf Superficial, dem derzeit angesagtesten virtuellen Themen-Dating-Network. Sie hatte fast wie die originale Priscilla Presley ausgesehen.

Mannomann, die hat nicht lockergelassen mit ihren Verschwörungstheorien. Elvis sei Kronzeuge gegen die Memphis-Mafia gewesen, das FBI hätte es verschwiegen, ein Typ namens Clayton Strat hätte beim FBI ein Foto von Elvis aus dem Jahr 1982 gefunden, also fünf Jahre nach Elvis Tod. Klar, was auch sonst. Diesen Unsinn habe ich schon 100e Male gehört. Und dann hätte Elvis noch weitere 40 Jahre als katholischer Priester in Chapel Hill, North Carolina, weitergelebt. Und sei dann erst 2022 im Alter von 87 Jahren gestorben. Die Frau konnte sogar noch eine originale Predigt rezitieren. Gott, sie hat nicht mal damit aufgehört, als wir endlich zur Sache kamen.

Di Marco schüttelte den Kopf. Nach einer halben Stunde hatte er krampfhaft zu überlegen begonnen, wie er aus dieser Nummer wieder rauskäme. Jeez, er war ja selbst Elvis-Fan, aber … Er wollte sie auf keinen Fall beleidigen, deshalb hatte er sich das alles ohne Kommentar angehört.

Wahnsinn. Als sie damit anfing, dass ihr Vater selbst mal Elvis … Wenn ich nicht den Alarm am Visiophone ausgelöst hätte, würde sie wahrscheinlich jetzt noch davon erzählen. Und heute der ganze VS-Message-Terror über das Visiophone. Lauter »soooo süße« Videos. Katzen. Mit Herzchen drunter und Fetzen aus Songtexten. Jetzt wollte sie mich sogar analog treffen. Ein echtes Date. Vielleicht mal nach Memphis touren, hat sie gesagt. Himmel! Die App heißt doch nicht umsonst Superficial. Für virtuelle One-Night-Stands. Mann, warum konnte ich ihr bloß nicht sagen, dass ich dieses wirre Zeug nicht mehr hören kann. Hoffentlich hat sie mir geglaubt, dass ich übermorgen am Traualtar stehe und sie leider niemals mehr treffen darf. Shit, was anderes ist mir einfach nicht eingefallen.

Di Marco verdrängte die Erinnerung. Er wollte sich mit Richie Hensen treffen, um die neue Kollegin, Mia Babic, abzuholen. Er war schon sehr gespannt. Zwar hatte er noch kein Bild von ihr gesehen, aber was die Kollegen über sie erzählten, machte ihn neugierig.

Sein Blick fiel auf das Werbeschild des Fast-Buy, der gegenüber der E-Bike-Leihstation lag, an der er sich mit Richie Hensen treffen wollte. Er schaute auf die Uhr. Es war noch genug Zeit, um eine Flasche Wasser zu kaufen. Kurz lächelte er einer jungen Mutter zu, die gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter an der Haltestelle für Computertaxis saß. Sie erwiderte sein Lächeln. In der Glasscheibe der Eingangstür zum Fast-Buy überprüfte er sein Spiegelbild und griff fast schon automatisch ordnend in seine Tolle.

Er überlegte gerade, ob er den Seiteneingang nehmen sollte, wo eine attraktive ungefähr 40-Jährige stand, die zu ihm herüberlinste, als ihm auffiel, dass etwas nicht stimmte. Die Leute im Laden bewegten sich nicht. Sie schienen auf etwas zu starren. Auch ein Security-Servant stand da wie angewurzelt.

Er spähte durch die Scheibe. Meine Scheiße! Der in Weiß gehaltene Kassenbereich eins war über und über mit Blut bespritzt. Auf dem Laufband lag etwas, das von Weitem aussah wie ein Stück Arm. Langsam bewegte er die rechte Hand, um die Eingangsautomatik zu betätigen.

Der grauhaarige Mann, der eine junge Frau im Schwitzkasten hielt, schien ihn nicht zu bemerken.

Auf Zehenspitzen näherte er sich den Schaulustigen. Du liebe Güte, was für eine Sauerei. Jetzt sah er auch die Ursache. Dass sich niemand übergeben hatte, wunderte ihn. Andererseits, die Leute heute waren von der virtuellen Realität allerlei gewöhnt.

Er griff an seinen Gürtel, um seine Laserwaffe zu ziehen. Mist, er hatte sie schon wieder zu Hause vergessen. Kurz hielt er inne, um nachzudenken. Als er sah, dass der Mann seinen Griff um den Hals der jungen Frau verstärkte, hatte er sich bereits entschieden.

»Vielleicht kann ich Ihnen helfen.« Di Marcos ruhige, dunkle Stimme durchschnitt den Raum. Die Schaulustigen drehten ihre Köpfe. Auch Fuller war kurzzeitig aus der Fassung gebracht.

Di Marco bewegte sich ein paar Meter weiter auf den Mann zu.

Babic spürte, wie der Würgegriff nachließ. Endlich. Sie versuchte, so gut es ging, aufzuschauen. Trotz ihrer Lage scannte sie den Typen in Sekundenschnelle. Etwa 35 Jahre alt, mediterraner Teint, lässige Jeans, ungefähr ein Meter 85 groß, markantes Gesicht und schwarze Elvis-Frisur. Er stand da, als würde ihn die ganze Sache nicht im Mindesten beunruhigen.

Der Geiselnehmer verstärkte wieder seinen Griff um Babics Hals. »Was wollen Sie?«, stieß er verunsichert hervor.

»Sie leben alleine?«

Die dunkle Stimme klang professionell wie die eines Radiosprechers, beruhigend und kompetent.

»Hä?«, Fuller war sichtlich irritiert.

»Keine Sorge, ich kann Ihnen helfen.«

Fuller verkrampfte. »Wer sind Sie?«

Mia Babic versuchte, möglichst flach und ruhig zu atmen. Langsam wurde ihr die Luft knapp. Ihr Sichtfeld war nun schon voller Sternchen. Wenn nicht bald etwas passierte, blieb ihr nichts anderes übrig, als ihre Kampfkünste einzusetzen. Der Griff des Mannes blieb eisern. Sie spürte, wie ihr der kalte Schweiß den Rücken herunterlief. Ihr wurde schwindlig. Die Beine knickten ein.

»Der bringt sie um!«, rief die ältere Frau, die am ganzen Körper zitterte.

Fuller sah Babic erstaunt an, es schien, als ob er sie vergessen hatte, und lockerte seinen Griff. Babic bekam wieder etwas Luft.

»Sie haben Probleme mit Ihrer Netzidentität?« Di Marco war zwei Schritte näher an Fuller herangerückt.

»Hauen Sie ab, Sie wissen doch gar nicht, wer ich bin«, schrie dieser voller Panik und presste den G-Booster wieder an Babics Schläfe.

Babic spannte ihre Muskeln an.

»Doch«, antwortete Di Marco mit sanfter Stimme. »Sie sind Physiotherapeut?«

Fuller blieb im wahrsten Sinne des Wortes die Spucke weg. Trotzdem hielt er Babic weiter im Würgegriff.

»Wurden Sie letzten Monat nicht von Ihrer Tante aus den USA angerufen?«, fuhr Di Marco fort.

»Aus England! Woher wissen Sie das?«, rief Fuller entsetzt.

Mit ängstlichem Gesicht hielt er Babic vor sich wie ein Schild.

Babic gab sich alle Mühe, tief und bewusst zu atmen, um wenigstens einigermaßen klar denken zu können. Ihre Angst kam und ging jetzt in Wellen. Der G-Booster beunruhigte sie am meisten. Ein Zucken mit dem Zeigefinger, eine falsche Bewegung des Mannes, und es war aus.

Di Marco bewegte sich einen Schritt auf Fuller zu. »Ich weiß solche Dinge.«

Fuller zuckte zusammen. »Sie sind von der Regierung!«

»Nein, ich bin da, um den Menschen zu helfen. Ich will Ihnen nichts Böses«, versuchte Di Marco, den Geiselnehmer zu beruhigen. »Lassen Sie bitte die Frau los.«

»Und dann?«, rief Fuller. »Sie haben doch eine Waffe!«

Der andere hob beide Hände und erwiderte mit ruhiger Stimme. »Nein, ich habe keine Waffe.«

»Beweisen Sie es! Ziehen Sie sich aus!«

Ohne mit der Wimper zu zucken, kam Di Marco der Aufforderung nach.

*

Richie Hensen hetzte zur E-Bike-Leihstation, wo sie Di Marco abholen wollte, um ihn zu ihrem Treffen mit Mia Babic mitzunehmen. Sie freute sich schon auf Mia. Immerhin hatten sie sich seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen. Das letzte Mal in New York, um Silvester zu feiern.

Als sie sich vorstellte, wie sie künftig neben Mia in einem Büro sitzen würde, hatte sie einen Flashback. Vor ihrem inneren Auge sah sie Mias Vater, wie er sie fremden Gästen in seinem Restaurant als seine Tochter vorgestellt hatte.

Total lustig. Ich glaube, das hat er manchmal wirklich geglaubt.

Richie kam eigentlich aus einer Managerfamilie, wie sie für das 21. Jahrhundert typisch war. Ihre Mutter war permanent in der ganzen Welt unterwegs gewesen, ihr Vater hatte seinen Job aufgegeben, um sie zu begleiten, was beide als einzige Möglichkeit erachteten, ihre Beziehung zu retten. Richie, die bei der Großmutter in Berlin deponiert wurde, verbrachte die meiste Zeit nach der Schule und einen Großteil der Wochenenden bei den Babics, hatte dort sogar ein eigenes Zimmer, wenn sie übernachten musste, was nicht selten der Fall war.

Na ja, vielleicht hat Mias Vater mich auch aus Bequemlichkeit als seine Tochter vorgestellt, weil ich da ständig rumhing. Er wollte sich vielleicht umständliche Erklärungen sparen. Geglaubt hat es sowieso bestimmt niemand. Ich meine, ich sehe weder aus wie er noch als wäre ich Mias Schwester. Größe passt nicht, Hautfarbe nicht, Haare nicht.

Als sie an der Leihstation ankam, fiel ihr Blick auf den Fast-Buy gegenüber. Sie traute ihren Augen nicht: Durch die Fensterscheibe sah sie Di Marco, nackt bis auf die Unterhose, neben einer kleinen Menschenansammlung stehen. Er redete auf einen halb vom Kassenautomaten verdeckten Mann ein. Dieser umarmte eine junge blondgelockte Frau, die mit dem Rücken zum Fenster stand.

Hat der jetzt völlig den Verstand verloren?

Sie betrat den Markt und erfasste die Situation sofort.

Mit dem Zeigefinger betätigte sie den Direktwahlknopf des in die Brusttasche ihrer Jeansjacke integrierten Telefongeräts, um einen Notruf an die Zentrale abzusetzen. Dann zückte sie ihre Walther Electronic und nahm den Geiselnehmer ins Visier.

In knapp zehn Metern Entfernung hielt Fuller Babic so im Würgegriff, dass ihr Kinn nun leicht nach oben zeigte. Sie konnte jetzt den an der Decke des Kassenbereichs montierten alten Spiegel, der vor der Einführung der Security-Servanten wohl zur Prävention von Taschendiebstählen gedient hatte, sehen – und ihre alte Freundin Richie, wie sie den Laden betrat und die Pistole zog. Irgendwie wunderte sie sich gar nicht, dass jetzt plötzlich Richie hier auftauchte. Ihre Anwesenheit wirkte seltsam beruhigend auf sie. Auch wenn dieses Gefühl irrational war und vermutlich vom Sauerstoffmangel kam – sie fühlte sich, als könne jetzt gar nichts mehr passieren. Nur ihre Wahrnehmung war noch immer hyperreal, sie kam sich vor wie in einem dieser neo-realistischen Kim-Chin-Sui-Filme: Alles wirkte unwirklich scharf gezeichnet. Die kleine, sportliche Gestalt ihrer Freundin. Die vertraut hektischen Bewegungen. Die trendigen Klamotten, alles in Schwarz-Silber: rechteckige Sonnenbrille, Thermoboots, eine Schlaghose aus glänzendem ThermoTex, eine Jeansjacke über einem Rollkragenpullover aus Second-Skin-Faser und eine baumwollene Tokito-Wave-Mütze.

Fuller, der sich ein wenig beruhigt hatte, hatte Hensen nicht bemerkt. Di Marco versprach dem Geiselnehmer gerade, sich für seine Sache einzusetzen. Er habe sich auch schon einmal in einer ähnlichen Situation befunden. Er kenne Leute, alles sei machbar, er werde zu seinem Recht kommen und so weiter.

Der Geiselnehmer begann, unkontrolliert zu weinen. Ohne Babic loszulassen.

*

Im selben Augenblick hörten Harry Haak und Tom Strickle, Kriminalhauptmeister der Stadtpolizei, über Funk von einer Geiselnahme in einem Supermarkt. Haak wendete den Einsatzwagen, einen weißen Golf Eco S, wasserstoffbetrieben, und raste mit quietschenden Reifen auf der Notfallspur an den Computertaxis vorbei in Richtung Mehringdamm.

»Bist du verrückt geworden?«, fragte Strickle, der sich krampfhaft am Haltegriff oberhalb der Beifahrertür festklammerte. Haak ignorierte ihn und drückte das Gaspedal voll durch. Direkt vor dem Eingang des Fast-Buy legte er eine Vollbremsung hin. »Idiot, willst du, dass die ganze Welt auf uns aufmerksam wird?«, schnauzte Strickle. Haak winkte wütend ab, drückte dann aber doch die Autotür behutsam ins Schloss. Damit der Geiselnehmer sie nicht sah, betraten sie den Supermarkt durch den Seiteneingang.

Richie Hensen spürte Bewegung hinter ihrem Rücken. Als sie sich umdrehte, gingen die beiden Stadtpolizisten gerade hinter einer Werbetafel für koffeinfreies Kaffeepulver in Schussposition. Haak und Strickle. Normalerweise hätte der Anblick der beiden Ekelgefühle bei ihr ausgelöst. Haak sah eigentlich ganz gut aus: muskulös, wenn auch ein bisschen massig, auffallend blaue Augen. Das Schmierige fiel einem erst auf, wenn man ihn besser kannte. »Riesen-Zucchini«-Strickle, wie Hensen ihn nannte, war groß, hatte einen Erbsenkopf und die Figur eines aus dem Leim gegangenen Hochspringers. Sie schüttelte den Kopf. Heute war sie regelrecht dankbar, die beiden Widerlinge zu sehen.

Di Marco war inzwischen fast bis auf einen Meter an den Geiselnehmer herangekommen. Er hatte am ganzen Körper Gänsehaut, kalte Schweißperlen auf der Stirn. »Sie haben nur eine Chance, wenn ich Ihnen helfe. Politiker reden mit keinem Geiselnehmer.«

Hensen sah, dass Di Marco leicht zitterte, was seiner Stimme allerdings nicht anzuhören war.

»Ich verspreche es Ihnen, ich setze mich für Sie ein, egal, was Ihr Problem ist.«

Der Geiselnehmer nahm endlich den G-Booster von Babics Schläfe.

»Kommen Sie, lassen Sie die Frau los, ich gehe mit Ihnen mit.«

Babic spürte, wie der Mann seinen Arm von ihrer Kehle nahm. Sie wagte es noch immer nicht, sich zu bewegen.

Di Marco stand jetzt direkt vor ihnen. »Ganz ruhig, lassen Sie sie gehen«, sagte er zu Fuller und reichte ihm die Hand. Dieser ließ Babic nun vollends los, die langsam einen Schritt zu Seite trat. Keine Reaktion. Noch ein Schritt. Der Geiselnehmer drehte sich etwas von ihr weg.

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Yaş sınırı:
0+
Litres'teki yayın tarihi:
22 aralık 2023
Hacim:
483 s. 6 illüstrasyon
ISBN:
9783839269640
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