Kitabı oku: «Network», sayfa 3

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Ein Schuss krachte. Noch Jahre später konnte Babic den entsetzten Gesichtsausdruck Di Marcos abrufen, wie er mit aufgerissenen Augen und offenem Mund auf seinen mit Blut bespritzten Körper hinunterstarrte.

*

Wie in Trance wischte sich Di Marco das Blut vom Gesicht. Babic wandte sich dem toten Geiselnehmer zu. Die Kugel war schräg in die Brust eingetreten, die Wucht des Schusses hatte ihn einen Meter nach hinten, über einen Stapel Long-Life-Geneto-Präparate zur oralen Einnahme, gestoßen. Wie eine achtlos weggeworfene Puppe verdreht, lag er bäuchlings in einer Blutlache am Boden. Der linke Arm fehlte, ein Loch klaffte im Rücken, umsäumt von den Resten seiner blutverschmierten Jacke.

Di Marco tobte. »Ihr Arschlöcher«, schrie er, während er sich mehrmals im Kreis drehte, die Haare raufte und schließlich in Richtung des Stadtpolizisten, aus dessen Dienstrevolver der Schuss gefallen war, rannte. »Haak, du Schwein, ich hatte ihn, ich hatte ihn«, brüllte er. Die über den Boden verstreuten Präparate brachten ihn zum Stolpern, er rappelte sich auf, rannte weiter, direkt auf Haak zu. Hensen packte ihn an den Schultern und riss ihn, gerade, als er zum ersten Schlag ausholen wollte, zurück.

Di Marco versuchte, sich loszureißen. »Komm, lass gut sein«, beruhigte sie ihn. Di Marco atmete tief durch und nickte dann.

Hensen lief zu ihrer Freundin Mia. »Bist du verletzt? Lass dich anschauen. Wie geht es dir?«

Als Mia abwinkte, nahm Hensen sie in die Arme. »Mann, Mann, ich habe mir fast in die Hose gemacht!«

»Was sind das für Idioten? Es gab doch überhaupt keinen Grund zu schießen!«

»Mia, die kriegen ihr Fett weg. Hauptsache, du und Di Marco seid in Ordnung.«

Der Schwarzhaarige war also Di Marco. Das erklärte seinen abgebrühten Auftritt vorhin. Babic schaute zu ihm rüber. Er zog gerade seine Jeans wieder an.

Di Marco war ein Capital-Cop genau wie Hensen: die inoffizielle Bezeichnung für Kriminalbeamte der SBBK. Die meisten Mitarbeiter dieser Einheit waren Quereinsteiger – wie Di Marco, von dem sie bislang eigentlich nur wusste, dass er ein fähiger Polizist und Studienabbrecher mit eigenwilliger Biografie war. So hatte es ihr Hensen erzählt. Auch Richie Hensen konnte man nicht gerade als eine typische europäische Durchschnittspolizistin bezeichnen. Sie hatte sogar eine Approbation als Ärztin, warum auch immer sie ein derart brotloses Fach studiert haben mochte, bevor sie zur Polizei wechselte. Mia Babic hätte sich einen anderen Anlass gewünscht, die Arbeitsweise ihrer neuen Kollegen kennenzulernen. Sie ging zu einer Wartebank direkt neben dem Ausgang, setzte sich und begann, das Kommen und Gehen der herbeigerufenen Einsatzkräfte und die rege Betriebsamkeit ihrer Freundin zu beobachten. Richie war offenbar völlig unberührt von der vorangegangenen Situation. Wie eh und je wirbelte sie umher, rief Anweisungen, stellte Fragen, dirigierte.

Babic fühlte, wie ihre angespannten Muskeln langsam lockerer wurden. Das Hyperrealitätsgefühl von vorher war immer noch da, wenn auch nicht mehr so stark. Eine typische Stressfolge, so erklärte sie es sich. Sie atmete tief durch und blickte auf die herbeigerufenen Rettungs-Servanten, die sich bemühten, die Einzelteile des Jungen zusammenzusuchen. Bei dem Geiselnehmer hatten sie auf Wiederbelebungsmaßnahmen verzichtet.

Hensen stand plötzlich wieder vor ihr und gab ihr ein frisches T-Shirt, woher auch immer sie das auf die Schnelle organisiert hatte. »Das kannst du nachher anziehen, du bist voller Blut.«

Nur wenige Meter entfernt saßen Haak und Strickle auf einer Palette Bierdosen und warteten darauf, von der Dienstaufsicht zu dem Vorfall vernommen zu werden. »Komm Haak, mach mal ’ne Dose Bier auf«, witzelte Strickle. Haak schaute mit gespielter Hab-Acht-Miene nach links und rechts und riss an der Öffnungslasche eines kleinen Bierkartons. Beide lachten und schienen von der Tatsache, dass gerade zwei Menschen gestorben waren, nur wenig erschüttert.

Als die letzten echten Cowboys der Polizei pflegte Haak sich und Strickle seinem Schützenverein gegenüber zu bezeichnen. Die anderen seien ja nichts als Psychotunten, mit ihrer Selbsterfahrung, ihrem Verständnis für die Täter und diesem ganzen Mist. Sie beide hatten da eine Theorie, weshalb es mit Europa abwärts ging: Es gab einfach zu viele Weicheier.

»Schau mal, Strickle, da kommt ein besonders weiches Ei«, grinste Haak, als Di Marco auf ihn zutrat.

»Haak, ich habe dich noch nie leiden können, aber jetzt hast du den Bogen überspannt. Ich mach dich fertig.« Di Marco war noch immer blass, und er bemühte sich sichtlich, die Beherrschung nicht zu verlieren.

»Probier’s doch, du Idiot.« Haak war aufgestanden, das Kinn vorgeschoben, den Brustkorb herausgedrückt und die Arme in Bodybuildermanier leicht abgewinkelt, bereit zuzuschlagen.

Di Marco blieb gefasst und sah Haak direkt in die Augen. »Ich würde dir liebend gerne mal mitten ins Gesicht hauen, aber dann müsste ich mir danach die Hände waschen. Ich werde den Leuten von der Dienstaufsicht mitteilen, wie unnötig dein Einsatz war«, sagte er ruhig und wandte sich ab.

Haak verlor die Beherrschung und riss Di Marco an der Schulter herum. »Du Schwein, ich werde der Dienstaufsicht was erzählen, und zwar von deiner Unprofessionalität. Mit deiner Aktion hast du sowohl dich als auch die Kleine gefährdet. Der Typ war ein gefährlicher Irrer, und da sah gar nichts nach Aufgeben aus«, geiferte Haak, sein Mund nur fünf Zentimeter von Di Marcos Gesicht entfernt. Der riss sich los, schüttelte angewidert den Kopf und wischte sich mit der Hand demonstrativ übers Gesicht.

»Haak, hast du ’ne Dusche in deinem Mund? Und putz dir mal wieder die Zähne«, sagte er verächtlich, sich abwendend.

Haak wollte sich eben auf Di Marco stürzen, als Hensen sich zwischen die beiden schob. »Di Marco, Schluss jetzt, das bringt nichts«, versuchte sie, ihren Kollegen zu beruhigen, während sie Haak mit der linken Hand am Revers festhielt. »Und du, hau ab!«, bellte sie ihn an.

»Was mischst du dich überhaupt ein?« Plötzlich stand Strickle vor Hensen. Er überragte sie um eineinhalb Köpfe.

»Strickle, Strickle, kümmere dich um deinen Kumpel und bleib locker«, zischte Hensen. Strickle trat etwas zurück und stieß unverständliche Verwünschungen aus, ließ Hensen und Di Marco aber ziehen.

Babic, die den Vorfall aus der Entfernung beobachtet hatte, konnte es kaum fassen. »Was ist los mit euch? Ihr seid doch Kollegen?«, fragte sie Hensen, als diese zur Wartebank kam, auf der sie ihre Jacken abgelegt hatten. »Alte Geschichte, erzähl ich dir ein anderes Mal ausführlich«, sagte Hensen abwesend und rieb sich die Nase. Ein dezentes Räuspern in ihrem Rücken ließ sie herumwirbeln. Die Dienstaufsicht der Inneren Sicherheit war eingetroffen. Zwei Frauen in klassischen grauen Kostümen, eine etwa 30 Jahre alte, auffallend hübsche Brünette mit vermutlich indischem Hintergrund, die andere, vielleicht 40 Jahre alt, mit kurzgeschnittenem tiefschwarzem, vermutlich gefärbtem Haar. Sie gingen direkt zu Hensen und Babic.

»Geht es Ihnen gut?«, fragte die Größere.

»Na ja …«

»Wir haben uns entschieden, Sie morgen in der SBBK-Zentrale zu vernehmen. Ich denke, es wird Ihnen guttun, sich etwas auszuruhen.«

Beide lächelten freundlich und verständnisvoll. Babic lächelte zurück, doch Hensen zog sie weg von den beiden. »Das war eine Aufforderung zu gehen«, sagte sie betont langsam und mit bissigem Unterton.

»Die sind doch nett, oder?«, entgegnete Babic erstaunt.

»Unterschätz die beiden nicht. Die haben Haare auf den Zähnen. Beides erstklassige Ermittler in einem absolut unbeliebten Geschäft und entsprechend hart drauf.«

»Jaja«, murmelte Babic skeptisch.

»Jetzt geh aber erst mal auf die Toilette, wasch dich und zieh das frische T-Shirt an.«

Babic widersprach nicht. Als sie zurückkam, gingen sie zum Ausgang des Supermarkts, wo sie auf Di Marco stießen, der schon auf sie wartete. Er hatte eine Mordswut, nicht nur auf Haak, sondern auch auf Hensen.

»Hey, warum hast du vorhin gesagt, ich soll mich beruhigen? Bin ich jetzt der Asoziale, oder was?«

Hensen ging langsam auf ihn zu, fasste ihn an der Schulter und sagte: »Ruhig, Di Marco, ich wollte dich nicht beleidigen. Aber mit Haak zu reden, das hat keinen Zweck. Sorry.«

»Warum hast du die beiden überhaupt gerufen?«, grummelte Di Marco.

»Was meinst du damit?«, erwiderte Hensen überrascht. »Ich hab die beiden nicht gerufen. Ich habe über Funk Burger informiert, sonst nichts. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er die beiden eingeschaltet hat.«

Babic schaute vom einen zum anderen. Sie fühlte sich etwas fehl am Platz, was Hensen nicht entging.

»Übrigens, Di Marco, das ist deine neue Kollegin Mia Babic.«

Di Marcos Gesicht hellte sich auf. Er reichte Babic die Hand.

»Freut mich. Darf ich Mia sagen?« Er schaute sie fragend an.

»Klar … Hey, Di Marco, danke für deinen Einsatz!« Sie lächelte verlegen. Di Marco fiel jetzt erst auf, wie hübsch sie war.

Der Fall

1.12.2046

Kriminaloberrat Detlef R. Burger machte Bürogymnastik, während er nachdachte. In Polizeikreisen galt der operative Leiter der SBBK trotz seines mit 45 Jahren noch relativ jungen Alters bereits als lebende Legende, nachdem er, noch vor seinem Wechsel zur SBBK, beim Morddezernat der Stadtpolizei die höchste Aufklärungsquote der letzten 50 Jahre erzielt hatte.

Wie Di Marco war auch er ein Studienabbrecher. Burger hatte bis zu seinem 18. Geburtstag sowohl die amerikanische als auch die deutsche Staatsbürgerschaft besessen. Er hatte in den USA studiert, wo er die ersten Initiativen für eine globalpolitische Wachstumsbeschränkung internationaler Unternehmenskonsortien mitinitiiert hatte, was natürlich einem Kampf gegen Windmühlen gleichgekommen war. Von der politischen Machtlosigkeit und dem Desinteresse der Bevölkerung ernüchtert, war er dauerhaft nach Deutschland gezogen und hatte seinen Aktionsraum verlagert. Die Polizei, die damals aufgrund diverser Menschenrechtsverstöße gegen Einwanderer für Schlagzeilen sorgte, schien ein fruchtbares Feld für seine neuen Ziele. Seine Vergangenheit als politischer Aktivist hatte ihm karrieremäßig eher Respekt eingebracht als geschadet.

Tatsächlich war es ihm gelungen, modifizierte Verhörroutinen, eine verbesserte Unterbringung nach der Verhaftung sowie die Anschaffung einer für 20 Sprachen anwendbaren Übersetzungssoftware durchzusetzen. Es hatte jedoch nicht lange gedauert, bis er auf die Position eines Hauptkommissars im Morddezernat weggelobt worden war. Die Beamten des Morddezernats waren froh über einen fähigen, liberalen Vorgesetzten, die ehemaligen Vorgesetzten der Stadtpolizei über einen lästigen Unruhestifter weniger.

Als auf politischer Ebene der Plan gefasst wurde, eine neue Spezialeinheit zur Verbrechensbekämpfung einzurichten, die auch virtuelle Kriminalität ins Visier nehmen sollte, fiel sehr bald die Entscheidung, ihm den Aufbau dieser Einheit zu übertragen, nicht nur wegen seiner Erfolge bei der Mordkommission, sondern vor allem, weil er sich in seiner Zeit als politischer Aktivist den Ruf eines äußerst beweglichen Hackers erworben hatte.

Jetzt gerade war Burger extrem nervös, ein Zustand, der eigentlich nicht typisch für ihn war. Er hielt noch immer sein Visiophone in der Hand, obwohl er das Gespräch mit dem deutschen Regionaldirektor der Europäischen Bundespolizei bereits beendet hatte. Was war das für ein Tag heute! Jetzt kam auch noch die gestrige Geiselnahme zu Mallmanns Ermordung hinzu.

Gleich würden die Berliner Stadtpolizeidirektorin und die Regierende Bürgermeisterin erscheinen. Die Bürgermeisterin! Normalerweise ließ sie die Leute im Rathaus antanzen. Ihr Besuch hier unterstrich die Brisanz des Falls.

Burger deckte den Besprechungstisch, eine seiner vielen Eigenarten, die seine Mitarbeiter so an ihm schätzten. Er ließ solche Aufgaben nicht durch Untergebene oder Servanten erledigen, sondern kochte – wenn er Zeit dazu hatte – Tee und Kaffee selbst, meist Laos Wild Phoingsali und Kona Blend, besorgte dazu vegane Früchtemakronen oder Kokos-Reis-Plätzchen und brachte beides den Mitarbeitern zuweilen sogar an den Schreibtisch.

Die Tür wurde aufgerissen.

Die Bürgermeisterin, bekannt für eine Neigung zu Arroganz und Jähzorn, die es selten versäumte, ihren über 20 Generationen zurückreichenden Stammbaum zu erwähnen, hielt sich nicht mit Anklopfen auf. In ihrem Gefolge: die Polizeidirektorin und ein Zwei-Meter-Hüne in blauem Nadelstreifenanzug, offensichtlich ihr Bodyguard.

»Burger, ist dieser Raum abhörsicher?«, polterte die Bürgermeisterin, noch während Burger seine Gäste einlud, am Besprechungstisch Platz zu nehmen, und Tee und Kaffee einschenkte. Die Polizeidirektorin verdrehte die Augen. Keine Antwort abwartend, legte die Bürgermeisterin los. »Ist Ihnen allen klar, was die Ermordung Mallmanns bedeutet?« Sie blickte fragend in die Runde. Keiner reagierte, nicht einmal ihr Bodyguard.

»Ist Ihnen das klar?«, wiederholte die Bürgermeisterin. Ihr Kopf rötete sich angesichts der ihr entgegenschlagenden Ignoranz. Die Polizeidirektorin nickte stellvertretend für alle.

»Arthur Mallmann ist heute sicher nicht mehr der, der er mal war, aber er ist noch immer ein Spitzenmann«, fuhr die Bürgermeisterin in Anspielung auf den Rückzug des Politikers aus seinen Regierungsämtern und seinen Einzug in die Regionalpolitik fort. »Wir haben morgen Staatsbesuch aus allen Bundesstaaten Europas, sogar die Außenministerin der USA wird erwartet.«

Die Bürgermeisterin wischte sich mit einem seidenen Taschentuch, auf dem ihr goldenes Monogramm aufblitzte, den Schweiß von der Stirn. »Das braucht Sie zwar nicht zu kümmern, aber wir müssen das hier geradebiegen. Wir müssen zeigen, dass wir alles im Griff haben.«

Ein weiterer Blick in die Runde, doch noch immer kam keine Reaktion. Die Bürgermeisterin versuchte es mit einer anderen Strategie. Sie setzte ein Lächeln auf, das sie für wohlwollend hielt, und gab damit den Blick auf ihre weißen, mit modernster Technik hergestellten, perfekt geformten Zahnkronen frei. Sie zeigte gerne ihre Zähne. Zähne waren heute ein Statussymbol, noch distinktiver als früher der große Mercedes. An ihnen sah man, wer reich oder gebildet war oder wer auf sich achtete – und wer nicht. Sie ekelte sich jedes Mal, wenn sie in den Dokumentationen auf CNN die Networker lächeln sah, ihre Münder entweder von billig gemachten Goldkronen der vietnamesischen Bader oder von braunschwarzer Fäulnis entstellt.

»Weshalb sind wir hier, Frau Polizeidirektorin?«, fragte sie in Oberlehrermanier.

»Wir werden wohl eine Sondereinsatztruppe bilden müssen«, beeilte sich die Polizeidirektorin zu antworten, die zwar Sympathien für Burgers Renitenz hegte, es selbst aber immer nur ansatzweise schaffte, Widerstand zu zeigen.

»Exakt.« Die Bürgermeisterin schenkte sich Kaffee nach und schob zwei Früchtemakronen auf einmal in den Mund. »Wer sind Ihre besten Leute?«, fragte sie Burger kauend.

»Bei allem Respekt, ich bin mir nicht sicher, ob ich meinen besten Leuten diesen Fall übertragen kann«, erwiderte Burger ruhig.

Die Bürgermeisterin presste die Lippen zusammen. Ihre Gesichtsfarbe wechselte von Rosa über Rot zu Dunkelrot mit bläulichen Flecken – alle Augen waren gebannt auf sie gerichtet, Burger bemerkte, dass ihr Hals tatsächlich im Umfang zunahm – und in einer wahrhaft vulkanischen Eruption brach sich ihr Zorn in einem donnernden »Waaas?« einen Weg heraus.

Zumindest teilweise entladen, nahm die Bürgermeisterin zwei tiefe Atemzüge, während derer ihre Gesichtsfarbe wieder zu Rot zurückwechselte. Um Fassung und Autorität ringend, aber noch immer lautstark, bellte sie: »Ich höre wohl nicht recht. Das ist ein Top-Priority-Fall, dem alles andere unterzuordnen ist!«

Burger, der den Ausbruch mit fasziniertem Interesse verfolgt hatte, war ein wenig enttäuscht ob der schnellen Beruhigung. Er schob der Bürgermeisterin den zweiten Teller Makronen zu und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Bei allem Respekt, Ihnen fehlt eine wichtige Information«, sagte er.

Burger stellte fast jedem zweiten Satz die Phrase »bei allem Respekt« voran. Das war eine Marotte von ihm, die er trotz mehrfacher Bemühungen nicht ablegen konnte. »Meine beiden besten Leute sind gestern in eine Geiselnahme geraten.«

»Haben Sie überlebt, sind sie verletzt oder was?«

Die Bürgermeisterin war noch immer aggressiv.

»Nein, es geht ihnen soweit ganz gut«, entgegnete Burger, »aber …«

»Dann können die beiden auch den Fall übernehmen«, unterbrach ihn die Bürgermeisterin, erhob sich und gab ihrem Bodyguard das Zeichen zum Aufbruch. Am Ausgang drehte sie sich noch einmal um und schnappte: »Ich erwarte Ihren Bericht über die Ermittlungsstrategie morgen früh um 8 Uhr.« Knallend fiel die Tür hinter ihr ins Schloss.

»Doofe Kuh«, murmelte Burger.

»Ganz meine Meinung, aber sagen Sie es nicht weiter«, pflichtete ihm die Polizeidirektorin bei. »Was machen wir jetzt?«, fragte sie Burger, der sich in seinem Stuhl ausstreckte. »Sind die beiden in der Lage, den Fall zu übernehmen?«

»Bei allem Respekt, zunächst einmal kann es mir egal sein, was die Bürgermeisterin will. Wir sind immerhin eine Bundespolizeieinheit, und was wir machen, geht sie einen Scheiß an!«

Die Direktorin ließ sich 20 Sekunden Zeit, bevor sie eine Antwort gab. Ruhig stand sie auf, nahm die Teekanne und schenkte sich und Burger nach. Bei der Übernahme des Polizeidirektorenpostens war sie weder die Wunschkandidatin der Regierung noch der Opposition gewesen. Wie so oft in solchen Fällen hatte man sich auf sie geeinigt, weil die streitenden Parteien bei einer derart wichtigen Stelle auf keinen Fall die Kandidaten der Gegenseite akzeptieren wollten, aber ohne die Unterstützung der Gegenseite kein Kandidat durchzubringen war. In den anderthalb Jahren ihrer Tätigkeit hatte sie allerdings nicht nur alle politischen Erwartungen übertroffen, sondern sich aufgrund ihrer differenzierten Fachkenntnis und ihres vermittelnden Wesens auch enorme Anerkennung in Polizeikreisen erworben.

»Die Bürgermeisterin hat grünes Licht vom europäischen Innenministerium«, sagte sie ruhig und mit einer beschwichtigenden Geste. »Ich habe bereits einen Anruf erhalten. Ihnen bleibt gar nichts anderes übrig, als zu tun, was die Bürgermeisterin will. Also, was ist mit den beiden? Können wir auf sie zählen?«

Burger setzte sich. »Wenn die Wahrheitsfindung es erfordert, natürlich. Prinzipiell können wir sie einsetzen. Di Marco und Hensen sind Elitepolizisten, verfügen über eine überdurchschnittliche Stressresistenz und einen extrem hohen IQ. Aber sie arbeiten zurzeit an den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit, vor allem seit ich ihnen die Virtual-Capital-Crime-Bekämpfung übertragen habe.«

Auch wenn das sogenannte Virtual Capital Crime nicht in die Zuständigkeit der Stadtpolizei fiel, war der Polizeidirektorin sehr wohl bekannt, dass es sich hierbei um ein gesellschaftlich weit bedeutenderes Problem handelte, als viele Politiker annahmen. Schon nach dem einjährigen Probelauf des World-Wide-Cyber-Reality-Nets und der Freistellung der lokalen Telefonnutzung hatten sich die Virtual Capital Crimes gehäuft, angefangen bei virtuellem Raub über den Eingriff in Netzidentitäten durch Hacken, virtuellen Mord bis hin zur Eliminierung von ganzen VR-Distrikten durch systematisch eingesetzte Computerviren.

Kurz gesagt: Virtuelle Kriminalität brachte Gefahr und Chaos ins virtuelle Leben der Netznutzer. Die Polizeidirektorin war damals selbst Mitglied der Kommission gewesen, die über Strategien einer Regulierung nachgedacht hatte. Der SBBK war dieser Bereich übertragen worden, weil man Spezialisten brauchte, die sowohl außerhalb als auch im Netz operieren konnten und am besten nichts zu verlieren hatten. Hensen und Di Marco gehörten zu dieser Sorte.

»Was heißt das nun?« Die Direktorin bevorzugte klare Antworten.

Burger reagierte nicht, sondern schien nachzudenken.

Merklich ungeduldig begann die Polizeidirektorin, die Teetasse in der Hand, mit dem rechten Fuß zu wippen. Sie schätzte Burgers Abwägen von Problemen im Allgemeinen durchaus, aber jetzt mussten Nägel mit Köpfen gemacht werden. »Das heißt, Sie können es nicht verantworten, die beiden einzusetzen?«, hakte sie nach.

Burger stieß einen leichten Seufzer aus. Wenn er Hensen und Di Marco einsetzte, dann konnte er auch gleich Babic mit dazunehmen, die ja ohnehin mit den beiden zusammenarbeiten sollte. Allerdings hatte er sich wirklich Sorgen um Babic und Di Marco gemacht, als er von Hensen über die Geiselnahme informiert wurde. Vor allem um Babic. Dabei hatte er nicht einmal so sehr befürchtet, dass sie physisch Schaden nehmen könnte. Sie hatte in ihrer Ausbildung beim FBI in San Francisco gelernt, Angreifer notfalls mit der bloßen Hand zu töten, auch wenn sie sich weigerte, diese Fähigkeiten einzusetzen. Er war sich aber nicht sicher, inwieweit sie psychisch schon in der Lage war, eine solche Situation unbeschadet zu überstehen. Und er brauchte sie unbedingt.

Er erhob sich wieder. »In Ordnung, ich werde die beiden einsetzen und ihnen mehrere Leute zur Unterstützung beiordnen. Ich möchte aber auch, dass Mia Babic, eine neue Mitarbeiterin, in die Sondereinheit integriert wird.«

»Babic? Eine Beamtin der SBBK?«

»Ja. Sie war übrigens diejenige, die gestern als Geisel genommen wurde«, erklärte Burger und schüttelte den Kopf.

Die Direktorin machte ein erstauntes Gesicht.

»Sie kommt vom FBI und soll als Analytikerin arbeiten, und zwar nicht nur im normalen Betrieb, sondern auch im Netz.«

Die Direktorin nickte. Sie versuchte, auch in Detailbereichen der Entwicklung ihres Babys, der SBBK, auf dem Laufenden zu bleiben. Im Bulletin, das sie gestern gelesen hatte, war eingehend erläutert worden, dass die SBBK unbedingt Analytiker und Profiler für die Aufdeckung von Verbrechen im Netz brauchte. Gerade hier stand die SBBK vor dem Problem, dass Netznutzer virtuelle Identitäten verwendeten, die meistens erheblich von den physischen und psychologischen Merkmalen ihrer realen Identitäten abwichen. Außerdem konnten diese Identitäten in bestimmten Fällen nicht zu den Ursprungsorten zurückverfolgt werden, was die Aufdeckung virtueller Kriminalität zusätzlich erschwerte.

Auf die Idee, einen Net-Profiler einzuschalten, war Burger gekommen, nachdem er mehrere Vorträge eines MIT-Professors für Cyberpsychologie über »Differenzen im Verhalten von Nutzern archetypischer virtueller Identitäten« und »Korrespondenzen von In- und Out-Net-Identities« beim letzten Kongress Die Wissenschaft der Kriminalistik gehört hatte.

Burger hatte sich mit dem Wissenschaftler unterhalten, und beide waren sich einig gewesen, dass die Klassifikation von Verhaltenstypen virtueller Straftäter in deren realem und in deren Netzleben einen wesentlichen Fortschritt in der Bekämpfung virtueller Kriminalität darstelle. Immerhin würde dies gewissermaßen eine Speicherung von Fingerabdrücken individuellen Verhaltens ermöglichen, die wiederum zur Identifikation unbekannter virtueller Krimineller genutzt werden könnten.

»Mia Babic ist die optimale Kandidatin für den Job. Sie hat Erfahrung als Profilerin in den USA und eine solide Agentenausbildung beim FBI durchlaufen. Sie hat außerdem an verschiedenen Forschungsprojekten zum Thema Netzverhalten mitgearbeitet.« Burger drehte sich zum Fenster. »Wenn ich die Drei zusammenarbeiten lasse, dann können sie Mallmanns Fall und das Netzprofiling auf einmal angehen.«

Für die Direktorin waren die Probleme damit gelöst. Sie nahm ihren Mantel und wandte sich Richtung Tür. »Machen Sie es, wie Sie denken. Ich höre von Ihnen«, sagte sie und verließ den Raum.

*

Babic hatte nach der Szene im Supermarkt überraschend gut geschlafen, tief und traumlos. Den Tag über hatte sie eigentlich nichts Besonderes gemacht. Ein bisschen gelesen, in einer über 50 Jahre alten gedruckten Ausgabe des Klassikers 1984 von George Orwell, der so sehr danebenlag mit seiner Zukunftsvision und doch so weitsichtig war mit der Warnung vor einer Totalüberwachung. Und dann war sie gemeinsam mit Hensen drei Stunden mit dem Rennrad durch die Gegend gefahren, raus in Richtung Wannsee. Sie hatten gar nicht viel geredet, einfach nur das Zusammensein genossen, so wie früher, als sie auch nicht viele Worte brauchten, um sich zu verstehen.

Ihr hatte das gutgetan nach dem gestrigen Tag. Die Situation im Supermarkt hatte sie zunächst weniger belastet, als sie gedacht hatte. Sie hatte den Stress erst gespürt, als sie am Wannsee die Räder abstellten und sich am Seeufer auf eine Parkbank setzten. Doch die Ruhe, der leichte Wind und das Rascheln der Blatter hatten eine regelrecht reinigende Wirkung, und sie konnte sich überraschend schnell entspannen.

Man fragte sie oft, warum sie sich eigentlich nicht häufiger in der virtuellen Welt bewegte, die doch nicht nur Arbeit, sondern auch Zerstreuung und Unterhaltung ohne Ende zu bieten habe. Tja, sie konnte es nicht erklären. Leute wie sie und Hensen waren froh, wenn sie sich so viel wie möglich in der analogen Welt bewegen konnten. Vielleicht war es die digitale Übersättigung, vielleicht war es aber auch das Gefühl, dass buchstäblich alles, was man im Netz machte, überwacht wurde. Da beruhigte sie auch das Gesetz der Digitalen Verhaltensfreiheit nicht, das eine ganze Reihe der Strafrechtsnormen in der digitalen Welt aussetzte.

Sie ging lieber raus, ganz analog, Joggen, Spazieren, Skaten. Wie sie und Hensen waren auch eine Menge andere Leute unterwegs, Real-World-Worker, aber auch Virtual Worker, die sich lieber analog zerstreuten, als ihre Freizeit im Netz zu verbringen.

Als sie wieder zurückkam, machte sie sich frisch. Sie stand noch unter der Dusche, als der Rezeptionist des Hotels, in dem sie vorübergehend untergebracht war, anrief. Genau sieben Minuten brauchte sie, um sich abzutrocknen, anzuziehen und etwas zurechtzumachen.

Das BMW-E-Mobil der SBBK stand direkt vor dem Hoteleingang. Das E-Mobil war ein Dreisitzer, zwei Plätze hinten und ein Fahrersitz vorne.

Di Marco grüßte Babic lächelnd vom Rücksitz aus. Viel Platz war nicht mehr neben ihm.

Babic umarmte Hensen, bevor sie sich neben Di Marco zwängte. Hensen kletterte auf den Fahrersitz, schob sich routiniert den Sprechbügel ihres in die Sonnenbrille integrierten Mobile-Speakers vor den Mund und lehnte sich zurück.

Als sie Di Marco im Rückspiegel sah, der trotz allen Platzmangels zufrieden lächelte, drehte sie sich um und verwuschelte ihm die Haare. »Di Marco, deine Tolle ist immer noch wie frisch vom Friseur, vom Feinsten«, frotzelte sie in Anspielung auf seine Elvis-Obsession.

Di Marco grinste.

Wenige Minuten später fuhren sie über den Ku’damm. Dessen Straßenfläche war nach wie vor für E-Mobile mit Sonderzulassungen reserviert; die breiten Flanier- und Eventstreifen auf beiden Seiten wurden wie immer um die frühe Abendzeit von regelrechten Horden verschiedenster Nationalitäten überflutet: Touristen, Kauflustige, die ihr Bürgergeld verbraten wollten, Skater, Hopper, Chill-Boarder und Biker aller Art, und immer wieder ältere Menschen, die, an die Häuser gedrängt, um Essen oder ein bisschen Geld bettelten.

»Hey, Mia, schläfst du?«, riss Hensen ihre Freundin, die stumm aus dem Fenster schaute, aus deren Gedanken.

»Ich habe Hunger.«

»Gehen wir zu dir nach Hause.«

»Wie, nach Hause? Ich wohne noch im Hotel.«

»Ich meine ins Miles, da warst du bestimmt schon lange nicht mehr. Und du bist bestimmt gespannt, wie das heute aussieht.«

»Definitiv«, sagte Mia und verzog das Gesicht.

Das Miles war früher, als es noch John Babic, Mias Vater, gehörte, ein angesagter Berliner Szeneladen gewesen. Mia war gerade 17 und mit dem Abitur fertig gewesen, als John den Laden an eine Eventagentur verkaufte und in die USA übersiedelte. Seine Tochter hatte keine Lust gehabt mitzugehen, was sollte sie auch in den USA. Vorzeigeschülerin, die sie war – sie hatte den scharfen Verstand ihrer Mutter Marisa, einer Neurologin an der Charité, geerbt – lebte sie die unvermeidliche pubertäre Rebellion gegen den von ihr vergötterten, aber »voll abgefahrenen« Papa mit regelmäßig und gewissenhaft erledigten Hausaufgaben, einem klassenbesten Notendurchschnitt und schließlich der Aufnahme eines Hochbegabtenstipendiums für ein Psychologiestudium an der Europäischen Privathochschule Berlin aus.

Als ihre Eltern Deutschland verließen, blieb sie die ersten Jahre in einem Zimmer über dem Miles wohnen, ging aber nicht mehr in die Kneipe, die sowohl ihren Stil als auch ihre Klientel vollkommen gewechselt hatte und nunmehr zum Schickimicki-Treff der intellektuellen Rich-Young-Urban-Elite, den legitimen Nachfolgern der Yuppies, geworden war.

»Mia, sieh’s positiv. Ich lade dich ein.«

»Können wir da auch über den Fall reden, dessentwegen wir uns eigentlich überhaupt treffen wollten?«

»Klar, außerdem gibt’s ’ne tolle Küche, super Bedienungen, und auch Di Marco lassen sie rein, wenn er so schön lächelt.«

Als sie fünf Minuten gefahren waren, meldete sich Di Marco.

»Leute, ich habe Durst«, sagte er und zeigte auf einen Kiosk.

Hensen hielt, und Di Marco sprang aus dem E-Mobil.

»Was wollt ihr?«

»Mineralwasser.«

»Ich auch.«

Di Marco ging auf einen Bettler zu, der an einer Hauswand saß, und gab ihm High-Five. Der Bettler freute sich sichtlich, ihn zu sehen, offensichtlich kannten sich die beiden. Di Marco drückte ihm einen Geldschein in die Hand und ging weiter Richtung Kiosk, vor dem sich eine längere Schlange reihte.

Hensen und Babic hatten ihn beobachtet.

»Di Marco ist ein echt netter Typ«, begann Richie den Small Talk. Sie drehte sich auf ihrem Sitz herum, um Babic anschauen zu können. »Lass dich von seinem lässigen Auftreten nicht täuschen. Er ist eigentlich ein ziemlich ernsthafter Kerl, klug und belesen. Stipendium für Bioinformatik und Philosophie in Stanford, das er kurz vor dem Masterabschluss abgebrochen hat, warum auch immer. Freiwilliges Engagement in verschiedenen sozialen Brennpunkten in den USA und in Berlin, hat Bildungsprogramme für ökonomisch Benachteiligte mit aufgebaut und war lange Zeit politisch aktiv bei Protesten gegen Maßnahmen zur Totalüberwachung von Netzbewegungen.«

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Yaş sınırı:
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Litres'teki yayın tarihi:
22 aralık 2023
Hacim:
483 s. 6 illüstrasyon
ISBN:
9783839269640
Yayıncı:
Telif hakkı:
Автор
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Metin
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