Kitabı oku: «Handbuch des Strafrechts», sayfa 50

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I. Übersicht und Forschungsstand

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Zu den großen Themen des strafrechtswissenschaftlichen Diskurses des 19. Jahrhunderts zählte die Einhegung und Verrechtlichung des sog. Polizeistrafrechts, das als Vorläufer des heutigen Ordnungswidrigkeitenrechts gelten kann. Strafverhängungen durch die Exekutive, auf Grundlage verstreuter, unbestimmter Rechtsgrundlagen, losgelöst von jeglicher richterlicher Kontrolle und unter Anwendung eines summarischen Verfahrens – ein solches Prozedere musste auf entschiedene Ablehnung seitens liberaler Kriminalisten stoßen. Drohten doch durch die Fortexistenz und Aufwertung polizeilicher Strafbefugnisse die für das Strafrecht mühsam erkämpften rechtsstaatlichen Geländegewinne verloren zu gehen.[296] Die neuere Rechtsgeschichte hat das Polizeistrafrecht des 19. Jahrhunderts lange Zeit ignoriert.[297] Der Umfang polizeilicher Strafgewalt, das polizeistrafrechtliche Verfahren, erst recht dessen praktische Anwendung, bilden empfindliche Forschungsdesiderate. Die geübte wissenschaftliche Zurückhaltung steht in einem scharfen Kontrast zur Bedeutung dieses Rechtsgebiets. Wie Kesper-Biermann in ihrer Pionierstudie zu Recht feststellte, berührten „Rechtsnormen und Strafverfolgung in diesem Bereich (…) das Leben der Mehrheit der Bevölkerung wesentlich häufiger und nachdrücklicher als die Bestimmungen in den Criminalrechtskodifikationen“[298].

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Polizeiliche Strafgewalt ist kein auf das 19. Jahrhundert beschränktes Phänomen. Bereits in der frühen Neuzeit verfügten Obrigkeiten zur Aufrechterhaltung „guter Ordnung und Policey“ über Strafbefugnisse, deren Reichweite in einem unübersichtlichen Konglomerat von Einzelverordnungen normiert war. Der Rechts- und Policeywissenschaft des späten 18. Jahrhunderts waren weder die Systematisierung noch die theoretische Abgrenzung zum eigentlichen Kriminalrecht gelungen. Erst das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten (1794) brachte einen Fortschritt. Zwar vermochte die Vermengung strafrechtlicher und polizeilicher Normen in systematischer Hinsicht nicht zu befriedigen, doch schuf die Inkorporation des Polizeistrafrechts bislang unerreichte Rechtsklarheit. Während das Strafrecht im Vormärz von der beschriebenen „Kodifikationswelle“ erfasst worden war, verabschiedeten lediglich Württemberg (1839), Hannover (1847) und Hessen (1847) eigenständige Polizeistrafgesetzbücher. Bis zur Reichsgründung kamen Anhalt (1855), Braunschweig (1855), Bayern (1861) und Baden (1863) hinzu.[299] Wo hingegen die Kodifikation des Polizeistrafrechts misslang, bestimmten weiterhin Einzelverordnungen den Umfang des Rechtsgebiets und hüllten seine genaue Reichweite in „mystisches Dunkel“[300].

II. Polizeistrafrecht – ein vergessener „Trabant des Strafrechts“

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Das Polizeistrafrecht erwies sich im 19. Jahrhundert gleichsam als „Trabant des Strafrechts“[301]. Es pönalisierte geringfügige Rechtsverletzungen, Moralwidrigkeiten, straftatbestandsnahe Handlungen und Gefährdungshandlungen aus unterschiedlichsten Lebensbereichen. Die polizeiliche Strafgewalt konnte durchaus robust ausfallen. Sie umfasste Freiheitsstrafen, Geldbußen und Verweise, teils auch körperliche Züchtigungen oder demütigende Sanktionen wie Abbitten und Widerrufe.[302] Das Höchstmaß polizeilicher Strafgewalt variierte innerhalb des Deutschen Bunds beträchtlich. Das Maximum polizeilich verhängter Freiheitsstrafen lag zwischen 14 Tagen (Preußen, ALR) und drei Monaten Gefängnis bzw. einem Jahr Werkhaus (Hannover).[303] Ein Überblick über die vielfältigen Inhalte des Polizeistrafrechts verdeutlicht, dass es sich bei den einschlägigen Gesetzen um wichtige rechtshistorische Quellen handelt, ohne deren Berücksichtigung jede Aussage über die Reichweite staatlichen Strafens im 19. Jahrhunderts lückenhaft bliebe.

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Partikularstrafgesetzbücher überwiesen geringfügige Fälle des Diebstahls, der Unterschlagung, der Sachbeschädigung oder des Betrugs an die polizeiliche Gerichtsbarkeit.[304] Gleiches galt mitunter für „Mundraub“, die Entwendung von Lebensmitteln zum unmittelbaren Verzehr.[305] Daneben besaß das Polizeistrafrecht eine Auffangfunktion für tatbestandsnahe oder (scheinbar) „entkriminalisierte“ Handlungen. Polizeistrafgesetzbücher erfassten „fahrlässige Hehlerei“[306] oder normierten „Gaukeleitatbestände“, um strafrechtlich schwer fassbares Ausnutzen abergläubischer Vorstellungen zu belangen.[307] Auch fanden sich aus dem Kriminalrecht ausgesonderte Tatbestände gegen Moralwidrigkeiten im Polizeistrafrecht wieder. So hielten Württemberg und Hannover zunächst an der polizeilichen Ahndung des außerehelichen Geschlechtsverkehrs fest. Nach 1848 entfiel dieser Tatbestand, doch blieb die polizeiliche Strafbarkeit des Konkubinats verbreitet.[308] Die Diskussion über die Strafwürdigkeit des untauglichen Versuchs bzw. der unbewussten Fahrlässigkeit veranschaulicht die Funktion des Polizeistrafrechts als Sammelbecken für „halbe Entkriminalisierungen“[309]. So plädierten namhafte Autoren dafür, die genannten Rechtsfiguren aus dem Kriminalrecht auszusondern und der polizeilichen Gerichtsbarkeit zuzuschlagen.[310] Umgekehrt enthielten Polizeistrafgesetzbücher Tatbestände wie die unterlassene Hilfeleistung, die erst im 20. Jahrhundert Aufnahme in das Kriminalrecht fanden.[311] Einen prominenten Platz innerhalb eines jeden Polizeistrafgesetzbuchs nahm die Ahndung gemeingefährlicher Verhaltensweisen ein, wobei feuer-, gesundheits- und straßenverkehrspolizeiliche Regelungen im Vordergrund standen.[312] Polizeiverordnungen und Polizeistrafgesetzbücher reagierten schneller auf soziale und wirtschaftliche Veränderungen als das Kriminalrecht. So finden sich in ihnen strafbewehrte Vorschriften zum Umgang mit Dampfkraft, mit Eisenbahnen, zur Auswanderung oder zur Arbeitsniederlegung.[313] Weite Verbreitung fand außerdem die Ahndung von „Gesinde-“ bzw. „Dienstbotenvergehen“, worunter das – in allen anderen Lebensbereichen lediglich zivilrechtlich relevante – vertragswidrige Nichterscheinen zur Arbeit, das unerlaubte nächtliche Verlassen des Hauses, der „hartnäckige Ungehorsam“ und die gröbliche Verletzung der Ehrerbietungspflicht fielen.[314]

III. Zeitgenössische Stellungnahmen

1. Grundsatzkritik und Durchsetzung des richterlichen Strafmonopols

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Das Institut des Polizeistrafrechts stieß seit den 1840er Jahren auf grundsätzliche Kritik. Für Mittermaier etwa trug die Ausübung der Polizeistrafjustiz das „Gepräge der Willkür“ an sich.[315] Seine Einwände waren ebenso zahlreich wie schwerwiegend: Behörden verhängten Strafen ohne gesetzliche Grundlage, die Bestrafung mancher Taten widerspreche dem Rechtsempfinden, zudem seien die einschlägigen Normen gänzlich unbestimmt.[316] Dennoch ließ sich die liberale Maxime „nulla poena sine judicio“, die strikte Trennung von Justiz und Verwaltung, vor der Revolution von 1848 nicht durchsetzen. Die einzige Ausnahme bildete das Großherzogtum Hessen, das bereits 1832 die Polizeigerichtsbarkeit beseitigte und Strafgerichten die Aburteilung von Polizeiübertretungen übertrug.[317] Erst die Paulskirchenverfassung gab mit ihrem Verbot jeglicher polizeilicher Strafgewalt den entscheidenden Anstoß zur Durchsetzung des richterlichen Strafmonopols (§ 182 Abs. 2 FRV). Vorbildfunktion für die weitere Entwicklung kam einer während der Revolutionszeit erlassenen preußischen Verordnung zu, wonach „die Verwaltung dieser Polizeigerichtsbarkeit (…) in erster Instanz von einzelnen Richtern geführt werden (sollte), welche commissarisch zu diesem Geschäft zu ernennen (waren)“[318]. Die bis zur Reichsgründung erlassenen Polizeistrafgesetzbücher folgten, mit Ausnahme Anhalts, dem preußischen Modell und bereiteten der polizeilichen Strafgerichtsbarkeit somit ein Ende.[319]

2. Polizeiunrecht vs. Kriminalunrecht

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Zum Scheitern verurteilt blieben die zahlreichen Versuche, eine schlüssige theoretische Abgrenzung zwischen polizei- und strafrechtlichem Unrecht zu begründen.[320] Keine Zukunft besaß der radikale Ansatz der österreichischen „Josephina“ (1787), wonach strafrechtliches Unrecht zwingend „bösen Vorsatz“ voraussetze.[321] Feuerbachs wechselnde Begründungsansätze verdeutlichen die Abgrenzungsschwierigkeiten. Auf Grundlage seiner Rechtsverletzungslehre unterschied er zunächst zwischen absolut-notwendigen und bedingt-notwendigen Rechten des Staats. Polizeivergehen schützten die bedingt-notwendigen Rechte, Polizeistrafgewalt habe allein die Erreichung der „Hilfszwecke des Staats“ bzw. der „entfernteren Mittel des Staatszwecks“ zum Gegenstand.[322] Wenige Jahre später schien Feuerbach auf den Strafzweck zu rekurrieren, indem er Polizeiahndungen mit „Züchtigungen“ im Sinne der Warnung und Besserung verband.[323] Die Legaldefinition des Bayerischen Strafgesetzbuchs begriff Polizeiübertretungen wiederum als „Handlungen und Unterlassungen, welche zwar an und für sich selbst Rechte des Staats oder eines Unterthans nicht verletzen, jedoch wegen der Gefahr für die rechtliche Ordnung und Sicherheit unter Strafe verboten oder geboten sind“ (Art. 2 Abs. 4 BayStGB). Jedoch zählten gem. Art. 2 BayStGB auch solche „geringen Rechtsverletzungen“ zu den Polizeiübertretungen, die Polizeibehörden zur Untersuchung zugewiesen waren. Mit Preisgabe seiner Rechtsverletzungslehre verlor der Begriff des Polizeistrafrechts bei Feuerbach jegliche Kontur. So plädierte er schließlich aus pragmatischen Gründen einerseits für die Herabstufung von Rechtsverletzungen zu Polizeiunrecht (z.B. kleinere Eigentumsdelikte), andererseits – mit Rücksicht auf die „öffentliche Meinung“ – für die Hochstufung bzw. „Gleichstellung“ von Polizeiübertretungen mit Verbrechen (z.B. Sittlichkeitsdelikte).[324] Das Kriterium der Rechtsverletzung hatte sich für die Abgrenzung zwischen Kriminalrecht und Polizeistrafrecht als untauglich erwiesen. Von der Theorie im Stich gelassen, verfolgten die Gesetzgebungen einen eklektischen Ansatz. Ohne erkennbares übergeordnetes Prinzip vereinten sie eine bunte Vielfalt von Gefährdungshandlungen, Moralwidrigkeiten und Rechtsverletzungen in Polizeistrafgesetzbüchern und bestätigten damit deren zeitgenössische Charakterisierung als „Duodezstrafgesetzbücher“[325].

2. Abschnitt: Strafrechtsgeschichte › § 7 Deutsche Strafrechtsgeschichte seit dem Bayerischen Strafgesetzbuch von 1813 bis 1871 › I. Wissenschaftshistorischer Rück- und Ausblick: Strafrechtswissenschaft im 19. Jahrhundert

I. Wissenschaftshistorischer Rück- und Ausblick: Strafrechtswissenschaft im 19. Jahrhundert

I. Übersicht

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Eine epochenübergreifende Wissenschaftsgeschichte des Strafrechts fehlt. Strafrechtshistorische Arbeiten bevorzugen einen personenbezogenen Zugang, der in zahlreichen „Juristenbiographien“ seinen Ausdruck findet.[326] Das abschließende Kapitel widmet sich wenig bearbeiteten disziplinhistorischen Fragestellungen. Skizziert werden die Neufundierung der Strafrechtswissenschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts, der grundlegende Wandel strafrechtlicher Publikationsformen (Lehrbücher, Kommentare, Periodika) sowie die Bedeutung des Strafrechts innerhalb des universitären Rechtsstudiums und der Juristenausbildung.

II. Das Entstehen einer neuen Strafrechtswissenschaft

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Um die Wende zum 19. Jahrhundert veränderte sich die Wissenschaftsdisziplin „Strafrecht“ grundlegend.[327] Rückblickend stellte der Hallenser Kriminalist Eduard Henke fest, dass „in dem letzten Decennium des verflossenen achtzehnten Jahrhunderts (…) eine Criminalwissenschaft geboren (wurde)“[328]. Von den Aufklärern wusste sich die neue Juristengeneration entschieden abzugrenzen: „Seichtes und vages Räsonieren“[329], „kränkelnde Empfindsamkeit“ eines „weibischen Zeitalters“[330], so und ähnlich lauteten die Urteile über die Reformautoren des 18. Jahrhunderts. Äußeres Anzeichen für das Entstehen einer neuen Strafrechtswissenschaft war das Erscheinen deutsch verfasster Lehrbücher, die sich nicht mit der bloßen Kompilation tradierter gemeinrechtlicher Lehren begnügten. Den Anfang machte das „Lehrbuch des teutschen Criminalrechts“ (1793) von Stelzer, es folgten das „System des allgemeinen Peinlichen Rechts“ (1795) von Stübel, die „Grundsätze der Criminalwissenschaft“ (1798) von Grolman sowie das „Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts“ (1801) von Feuerbach.[331] Die ersten strafrechtlichen Fachzeitschriften wurden gegründet, 1797 die „Bibliothek für peinliche Rechtswissenschaft und Gesetzeskunde“, ein Jahr später das „Archiv des Criminalrechts“.[332] Vorrangiges Ziel der neuen Kriminalistengeneration war es, „die Wissenschaft des Criminalrechts auf die ersten Gründe zurückzuführen“[333] und die „höchsten Prinzipien des Peinlichen Rechts“ aufzuspüren, aus denen sich, wie Feuerbach glaubte, „keiner Ausnahme unterworfene Grundsätze“ ableiten ließen.[334] Unabhängig von der Kontroverse über den genauen Inhalt der beschworenen obersten Prinzipien waren sich die Kontrahenten über den Gegenstand strafrechtswissenschaftlicher Forschung einig. Nicht das überkommene Recht galt als würdiger Gegenstand wissenschaftlicher Bemühungen, sondern die Arbeit an seiner Überwindung. Statt des diskreditierten gemeinen Strafrechts bildete die „Philosophie der Criminalgesetzgebung“ den „Lieblingsgegenstand des Nachdenkens“[335]. Die neuen Rechtssätze fanden sich in überpositiven Prinzipien, so dass die Rechtsphilosophie zu Beginn des 19. Jahrhunderts zur strafrechtlichen „Leitwissenschaft“ aufstieg.[336] Die Befassung mit dem geltenden (gemeinen) Kriminalrecht mochte ein notwendiges Geschäft sein, doch fiel es in das Ressort einer niederrangigen Disziplin, der bloßen „Gesetzeskunde“.

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Nachdem Feuerbachs Bayerisches Strafgesetzbuch an den Anforderungen der Praxis gescheitert war, begann eine strafrechtswissenschaftliche Neuausrichtung. Das „Spuken der Systemsucht“, der „Glaube an ein allein seligmachendes Strafprinzip“ und das „Haschen nach einem gewissen Strafprinzipe“ sollten der Vergangenheit angehören. Der Schlüsseltext für die Abkehr von der zuvor dominierenden philosophischen Ausrichtung des Strafrechts ist Mittermaiers Abhandlung über die „Grundfehler der Behandlung des Strafrechts“ (1819), aus der die zitierten Wendungen stammen.[337] Mittermaier brach endgültig mit seinem ehemaligen Mentor Feuerbach.[338] In einem Rundumschlag prangerte er die „fürchterliche Konsequenz“ an, die aus dem Glauben entstand, „daß nur nach einer Straftrechtstheorie die Strafgesetze sich modeln müßten“[339]. Seine Ausführungen trafen den Zeitgeist. Seit den 1820er Jahren verbreitete sich mit Blick auf die vormals herrschende philosophische Strafrechtswissenschaft ein Gefühl der „Uebersättigung, Erschlaffung und Abspannung“.[340] Während einzelne Autoren für eine Hinwendung zu den römischen Quellen des Strafrechts votierten, plädierte Mittermaier für die umfassende Einbeziehung der Erfahrungswissenschaften. „Empirie statt Philosophie“ – mit dieser Formel lässt sich sein Eintreten für eine Frühform der Lisztschen „Gesamten Strafrechtswissenschaft“ beschreiben. So maß er den bislang vernachlässigten, teils jungen Disziplinen der Psychologie, Gerichtsmedizin, Strafrechtsvergleichung, Kriminalpolitik und Gefängniskunde weitaus größere Bedeutung bei als der vormaligen Leitwissenschaft, der Philosophie.

III. Strafrechtswissenschaftliche Literatur

1. Phantomwissenschaften: Das Lehrbuch des gemeinen deutschen Strafrechts

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Nach den vormärzlichen Kodifikationen und den Gesetzgebungen der 1850/60er Jahre verfügten die bedeutenderen Teilstaaten des Deutschen Bundes ausnahmslos über eigene Strafgesetzbücher. Lediglich in wenigen reformresistenten Klein- und Splitterstaaten blieb das überkommene gemeine Strafrecht in Geltung. Ungeachtet der fortschreitenden Marginalisierung ihres Gegenstands erschienen Lehrbücher zum gemeinen Strafrecht weiterhin in dichter Folge.[341] Gereiht nach ihrer Erstauflage waren dies die Abhandlungen von Feuerbach, Salchow, Roßhirt, Martin, Wächter, Bauer, Heffter, Klenze, Abegg, Marezoll, Luden, Köstlin und Geib.[342] Den Endpunkt bildete – abgesehen von dem eigenwilligen Spätling Temmes[343] – Berners „Lehrbuch des Deutschen Strafrechtes“ von 1857.[344] Während die grundrissartigen Werke von Bauer, Wächter und Klenze der gemeinrechtlichen Tradition verhaftet blieben, gaben Roßhirt, Abegg, Luden und Heffter dem römischen Strafrecht breiten Raum. Geltendes partikulares Strafrecht fand zunächst kaum Berücksichtigung, Meinungskontroversen wurden – mit Ausnahme der Werke von Luden und Köstlin – eher beiläufig erwähnt. Einen Bruch mit der Lehrbuchtradition wagte allein der Bonner Privatdozent Haeberlin. Ohne Berücksichtigung des gemeinen Strafrechts unternahm er den Versuch, allgemeine Grundsätze allein aus der Analyse neuerer Partikularstrafgesetzbücher abzuleiten; eine Methode, mit der er ein Außenseiter seiner Zunft blieb.[345]

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Trotz des fortschreitenden praktischen Bedeutungsverlusts galt die Bearbeitung des gemeinen Strafrechts weiterhin als „feinste(r) Beruf der deutschen Juristen“[346]. Das in Partikularstrafgesetzbüchern kodifizierte geltende Recht war kein würdiger Gegenstand wissenschaftlicher Bemühungen, es fand allenfalls in Fußnoten Beachtung. Von Professoren verfasste Lehrbücher zum partikularen Strafrecht erschienen erst nach 1848 und blieben vereinzelt.[347] Um die Befassung mit totem Recht zu legitimieren, beriefen sich die Autoren auf die „lehrreichen Erfahrungen“ des über Jahrhunderte „vom deutschen Geist (…) mit hohem Kraftaufwand“ bearbeiteten gemeinen Rechts[348], seine Notwendigkeit für das Verständnis der Partikularstrafgesetzbücher und die Aufgabe der Wissenschaft, „vor den Gefahren des Isolirens (sic!) durch das Vesthalten (sic!) des Gemeinsamen zu bewahren“[349]. Augenfällig ist, dass die Lehrbücher – im Gegensatz zur Literatur des späten 18. Jahrhunderts – nunmehr darauf verzichteten, das frühneuzeitliche Schrifttum umfassend zu erschließen. So haftet dem Genre etwas Phantomhaftes an: Weder das im Großteil Deutschlands geltende Strafrecht war sein Gegenstand noch die ernsthafte Auseinandersetzung mit dem älteren gelehrten Recht. Die unverdrossene Bearbeitung des gemeinen Strafrechts sicherte der Wissenschaft zwar eine gemeinsame Basis, doch zerriss das beharrliche Festhalten an vergangenem Recht das einstmals enge Band zwischen Theorie und strafrechtlicher Praxis. Wissenschaftsgeschichtlich musste diese gleichermaßen realitätsabgewandte wie verflachte Dogmatik eine Übergangserscheinung bleiben. Erst mit Erscheinen von Berners Kompendium begann eine neue Epoche der Lehrbuchliteratur. Das „an die akademische Jugend“ adressierte Werk besticht im Gegensatz zu seinen spröden Vorgängern durch prägnante Formulierungen, Meinungsfreude und eindeutige Stellungnahmen zu kriminalpolitischen Streitfragen.[350] Rasch und zu Recht übernahm das Buch die Führungsposition, die es erst in den 1880er Jahren an das „moderne“ Lehrbuch v. Liszts abgeben musste.[351]

2. Krise des wissenschaftlichen Kommentars

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Die Literaturgattung des strafrechtswissenschaftlichen Kommentars verlor in den Jahrzehnten vor der Reichsgründung ihre vormalige Bedeutung. Die bis Ende des 18. Jahrhunderts erschienenen Kommentierungen zur Constitutio Criminalis Carolina hatten auf eindrucksvolle Weise ein Genre begründet, das bis heute als charakteristisch für die deutsche Rechtswissenschaft gilt.[352] Mit dem Ende des Heiligen Römischen Reichs und der förmlichen Aufhebung der CCC verloren diese Werke ihren Gegenstand. Zwar fand das zum Bayerischen Strafgesetzbuch erlassene Kommentierungsverbot keine Nachfolger, gleichwohl versprach Gelehrten die Kommentierung partikularen Rechts keinen Reputationsgewinn. Dieser Aufgabe nahmen sich nunmehr Ministerialbeamte, Staatsanwälte oder Richter an, die typischerweise zuvor in den Gesetzgebungsprozess eingebunden waren.[353]

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Für das preußische Recht erwiesen sich die von Kammergerichtsrat Theodor Goltdammer edierten und erläuterten Materialien als wegweisend,[354] für das Reichsstrafgesetzbuch die Kommentare des Staatsanwalts am Preußischen Obertribunal Friedrich Christian Oppenhoff und des Oberreichsanwalts und Senatspräsidenten am Reichsgericht Justus v. Olshausen.[355] Die kampflose Übernahme einer einst blühenden Literaturgattung hatte zur Folge, dass konservative preußische Praktiker, wie v. Liszt rückblickend feststellte, „auf die Rechtsprechung ungleich größeren Einfluß (errangen) als alle ihre Zeitgenossen auf den Lehrstühlen des Strafrechts“[356]. In der Abwendung der Wissenschaft vom geltenden Recht und der „Krise des wissenschaftlichen Kommentars“ liegt zugleich eine Ursache für den vielbeklagten „Präjudizienkultus“ der Rechtsprechung.[357] Erst Ende des 19. Jahrhunderts, beginnend mit Reinhard Franks „Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich“[358], fand die deutsche Strafrechtswissenschaft zur Gattung des Kommentars mit ihrer charakteristischen Verschmelzung von Judikatur und Dogmatik zurück.