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Kitabı oku: «Justizmord », sayfa 7

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»Der Zeuge Potin ist ein scharfer Beobachter«, erklärte Dubois.

»Wieso?« fragte Frau Turel.

»Weil meiner festen Überzeugung nach der Angeklagte, als er den Mord beging, tatsächlich einen Vollbart getragen hat.«

»Woraus schließen Sie das?«

»Weil es auffällig ist, daß jemand, der wie Voisin unter der Anklage des Mordes steht, vom Tage seiner Verhaftung an keine andere Sorge kannte, als sich seine Bartstoppeln entfernen zu lassen.«

»Die Männer sind bekanntlich eitel«, sagte Frau Turel.

»Diese sogenannte Eitelkeit ging so weit«, fuhr Dubois fort, »daß er auf einen Besuch des Friseurs mehr Wert legte, als auf den des Verteidigers.«

»Das ist mir noch nicht vorgekommen«, beteuerte der Präsident – , worauf sich Frau Turel erhob und erklärte:

»Wenn der Herr Staatsanwalt das natürliche Reinlichkeitsgefühl des Angeklagten derartig auslegt, und der Herr Vorsitzende ihm darin folgt, so beantrage ich Vertagung. – Diesen Worten folgte allgemeiner Widerspruch. Dessenungeachtet fuhr Frau Turel fort: »Der Angeklagte wird sich inzwischen einen Vollbart wachsen lassen, und falls der Zeuge Potin ihn auch dann noch mit derselben Bestimmtheit wiedererkennt als den Mann, den er am Mordtage im Gespräch mit Frau Marot gesehen hat, so wird der Staatsanwalt ja nicht umhin können, die Anklage auch auf Frau Marot auszudehnen.«

Zur allgemeinen Überraschung erklärte jetzt Dorothée:

»Ich habe ja noch gar nicht bestritten, mit dem Angeklagten gesprochen zu haben.«

»Sie haben doch erklärt,« erwiderte Dubois, »nicht einmal zu wissen, ob Sie den Angeklagten überhaupt kennen.«

»Ebensowenig weiß ich, ob ich mit ihm gesprochen habe. Bei den vielen Menschen, die mein Mann mir im Laufe einer Woche vorgestellt hat, ist das ganz unmöglich.«

»Wenn wir Sie aus guten Gründen auch nicht vereidigt haben«, sagte der Präsident, »so müssen Sie doch die reine Wahrheit sagen.«

»Ich sage weder, daß ich ihn kenne, noch daß ich ihn nicht kenne«, erwiderte Dorothée.

Der Staatsanwalt widersprach dem Antrag der Verteidigung auf Vertagung und erklärte:

»Das vorhandene Beweismaterial reicht zur Verurteilung des Angeklagten vollkommen aus. Ich bin daher bereit, auf die den Angeklagten belastenden Bekundungen des Zeugen Potin zu verzichten.«

Das Gericht lehnte den Antrag der Verteidigung ab und entließ den Zeugen Potin. – Der verbeugte sich vor dem Präsidenten, wandte sich dann an das Publikum und sagte mit erhobener Stimme:

»Wenn die Herren von der Presse vielleicht den Wunsch haben sollten, eine Photographie von mir zu bringen, bitte!« – Im selben Augenblick warf er ein paar Dutzend Reklamekarten mit seinem Bild unter das Publikum.

Der Präsident nef wütend:

»Sie befinden sich hier an Gerichtsstelle und nicht in einem Reklamebüro.«

Potin wandte sich um und sagte:

»Excusez, Monsieur – , aber Geschäft ist Geschäft!« dann eilte er, um einer Ordnungsstrafe zu entgehen, zur Tür und verließ den Saal.

6

Frau Dorothée hatte von dem Tage an, an dem sie wußte, daß ihr Gatte Andrée lebte, trotz des Widerspruchs Harveys ihre Trauerkleidung abgelegt. Aber nicht nur äußerlich war sie eine andere geworden. Sie hatte ihren Humor und ihren leichten Sinn, den sie für immer verloren glaubte, zurückgewonnen. Gewiß hatte sie der Verlust Andrées schwer bedrückt. Aber mehr noch litt sie unter der Furcht vor dem Staatsanwalt, der – wie sie es nannte – mit Passion Jagd auf sie machte.

Nun, wo sie wußte, daß Andrée lebte, nun, wo sie durch Harvey in die Mysterien dieses mehr als sonderbaren Falles eingeweiht war, fürchtete sie nichts mehr. Ihre Traurigkeit und Furcht, plötzlich ihrer Ursache enthoben, wandelten sich in Heiterkeit und eine kaum zähmbare Lust, sich an dem Manne zu rächen, der sie fast bis zum Selbstmord getrieben hatte. Es bedurfte der Überredungskunst und des Einsatzes der Autorität Harveys, um Dorothée zu bestimmen, daß sie bei der Stange blieb. Die Gefahr aber, daß ihr Temperament mit ihr durchging, bestand fort.

Als durch die Aussagen des Coiffeurs Staatsanwalt und Verteidigung Miene machten, erneut auf sie zurückzugreifen, da war sie nahe daran, den Prozeß auffliegen zu lassen und zu rufen:

»Ja! Ich kenne den Angeklagten! Ich liebe ihn. Ich habe ihn immer geliebt. Und nun macht mit mir, was Ihr wollt!«

In diesem kritischen Augenblick sagte der Präsident:

»Es ist noch eine Zeugin von der Verteidigung geladen, Frau Juliette Voisin, die Mutter des Angeklagten.«

Diese Gegenüberstellung reizte Dorothée. Sie wollte sie miterleben. Infolgedessen verhielt sie sich ruhig und schwieg.

Der Staatsanwalt fragte:

»Was soll die Zeugin bekunden?«

Frau Turel erwiderte:

»Daß der Angeklagte von Jugend an ein außerordentlich guter, fleißiger und verträglicher Mensch gewesen ist, der bis zum Tage der Mordtat in aufopfernder Weise für seine Mutter gesorgt hat.«

»Derartiges bekunden alle Mütter zumal, wenn es, wie hier, um den Kopf ihres Sohnes geht«, widersprach der Staatsanwalt.

»Eine Mutter kennt ihren Sohn jedenfalls besser als der Staatsanwalt den Angeklagten.«

»Vielleicht auch nicht. Denn ich bezweifle, daß ihr die Vorstrafen ihres Sohnes bekannt sind.«

»Sie werden der unglücklichen Frau doch nicht das Sündenregister ihres Sohnes vorhalten?«

»Ich werde tun, was ich für richtig halte.«

In diesem Augenblick erhob sich Marot und sagte:

»Ich möchte bitten, von der Vernehmung dieser Zeugin Abstand zu nehmen.«

»Aha!« entfuhr es dem Staatsanwalt.

»Ihre Mutter wird Sie nicht fallen lassen, auch wenn sie von Ihren Vorstrafen hört«, redete Frau Turel dem Angeklagten zu.

»Ich möchte verhüten, daß der Staatsanwalt das Bild zerstört, das sie von« – er zögerte – »ihrem Sohne hat.«

»Da sehen Sie, meine Herren Geschworenen, was für ein guter Mensch der Angeklagte ist«, sagte Frau Turel – während Dubois meinte:

»Das kann man auch anders auslegen.«

»Sie hören, Voisin, was der Staatsanwalt sagt«, drang Frau Turel in den Angeklagten. »Ich rate Ihnen, verzichten Sie nicht auf die Vernehmung Ihrer Mutter.«

»Ich wünsche, daß man ihr die Tortur erspart.«

»Und das soll ein Mörder sein«, rief Frau Turel theatralisch.

»Also . . .?« fragte der Vorsitzende ungeduldig.

Frau Turel erklärte:

»Ich muß auf der Vernehmung bestehen.«

»Wenn der Angeklagte doch nicht will.«

»Der Angeklagte hat während der ganzen Verhandlung allen Anträgen widersprochen, die darauf hinausgingen, ihn zu entlasten.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Daß ich allmählich den Eindruck gewinne, daß der Angeklagte aus irgendeinem Grunde seine Verurteilung geradezu herbeizuführen sucht.«

»Aus welchem Grunde sollte er das tun?« fragte der Präsident erstaunt – und Dubois erklärte spöttisch:

,.Ich habe schon gehört, daß Menschen sich für eine Hinrichtung interessieren – aber nicht für die eigene.«

Der Vorsitzende hatte sich mit den Beisitzern verständigt und verkündete:

»Das Gericht beschließt, die Zeugin zu vernehmen.«

»Das kann ja nett werden«, dachte Dorothée – und sah, wie sich im selben Augenblick, in dem der Gerichtsdiener die Tür öffnete, um die Zeugin Voisin aufzurufen, Harvey in den Saal schob und gleich darauf neben Frau Turel vor dem Angeklagten stand.

»Da ist ja dieser Amerikaner schon wieder!« rief der Staatsanwalt – und als der Vorsitzende eben den Mund aufmachte und ihn hinausweisen wollte, rief Harvey:

»Verzeihung, Herr Präsident, ich hatte meine Zeitungen vergessen!«

Im selben Augenblick hielt Dorothée einen Stoß amerikanischer Blätter in der Hand und ging damit dem Amerikaner entgegen.

»Was wird?« flüsterte sie ihm zu und er erwiderte:

»Ich habe der Turel einen Zettel in die Hand gedrückt.«

Er hatte kaum ausgesprochen, da stand Frau Turel schon auf und sagte:

»Der Angeklagte bittet, für die Dauer dieser Vernehmung aus dem Saal geführt zu werden.«

Der Vorsitzende – und wohl die meisten im Saal – empfanden diesen Wunsch als Beweis, daß der Angeklagte doch noch Scham und einen Rest von Gewissen besaß – gleichzeitig aber nahmen sie es als stummes und unfreiwilliges Geständnis seiner Schuld. Denn nur im Fall eines schlechten Gewissens konnte diese Begegnung für ihn eine Qual sein. Hatte er mit diesem Morde aber nichts zu tun, so mußte es sein Wunsch, ja ein Bedürfnis für ihn sein, die Mutter zu sehen, ihr an den Hals zu fliegen und ihr seine Unschuld zu beteuern. – Daß er sie nicht sehen wollte, war ein Triumph für den Staatsanwalt.

Während der Angeklagte durch die eine Tür hinausgeführt wurde, trat durch die gegenüberliegende Tür Frau Juliette Voisin, ein altes Mütterchen, der Typ kleinbürgerlichen, südfranzösischen Provinzlertums.

Gericht und Publikum schienen für sie nicht da zu sein. Sie ging mit ausgebreiteten Armen auf die Anklagebank zu und rief schluchzend:

»Henri! Mein Junge!«

Auch wer Sensation oder Kolportage erwartet hatte, hielt den Atem an, als die alte Voisin vor der leeren Anklagebank stand und auf die Erklärung des Vorsitzenden hin, daß ihr Sohn sie nicht sehen wolle, langsam die Arme sinken ließ und erwiderte:

»Mein Sohn . . . will mich . . . nicht . . .? – das glaube ich nicht!«

»Er fürchtet wohl,« sagte Frau Turel, »daß der trügerischen äußeren Anzeichen wegen auch Sie ihn für schuldig halten könnten.«

»Das glaubt er nicht!« erwiderte die Alte überzeugt.

»Wenn Sie ihm das sagen würden! Es wäre ein großer Trost für ihn.«

»Rufen Sie ihn!« bat Frau Voisin aber schon stand der Staatsanwalt auf und widersprach:

»Ich protestiere! – Die Verteidigung hat die Zeugin auf sehr geschickte Weise mit wenigen Worten derart zugunsten des Angeklagten beeinflußt, daß ihre Aussagen völlig wertlos sind.«

»Ja, haben Sie erwartet, ich werde gegen meinen Sohn aussagen?« fragte Frau Voisin.

»Es wäre ja möglich, daß Sie die Wahrheit sagen.«

»Die werden Sie sagen,« erklärte der Präsident – »auch wenn ich Ihre Vereidigung zunächst aussetze.«

»Natürlich werde ich die Wahrheit sagen.«

»Sie können als Mutter die Avissage verweigern.«

»Ich will aussagen.«

»Wann haben Sie zum letzten Male von Ihrem Sohne gehört?«

»Aus Marseille.«

»Wann war das?«

»Am 13. April.«

»Das war ein Tag vor dem Morde?«

»Das weiß ich nicht.«

»Was schrieb Ihr Sohn Ihnen?«

Sie kramte aus der Tasche einen Brief heraus, den sie seinem Aussehen nach schon ein dutzendmal gelesen hatte und sagte schluchzend:

»Es war sein letzter.«

»Obgleich seine Verhaftung erst ein paar Wochen später erfolgte«, stellte der Staatsanwalt fest – und der Vorsitzende fragte:

»Pflegte Ihr Sohn Ihnen regelmäßig zu schreiben?«

»Zweimal die Woche – das war das mindeste.«

»Waren Sie nicht beunruhigt, als Sie solange nichts von ihm hörten?«

»In großer Sorge war ich.«

»Aber als Sie von seiner Verhaftung erfuhren, da wußten Sie – oder vermuteten wenigstens, weshalb er so lange nichts von sich hatte hören lassen.«

»Ich war zunächst einmal froh, zu wissen, daß er lebt.«

»Und daß man ihm einen Mord vorwarf das berührte Sie weniger?«

»Natürlich – hat mich das berührt. – Aber ich dachte, bei Gericht, da muß es sich herausstellen.«

»Was, meinen Sie, müsse sich bei Gericht herausstellen?«

»Daß mein Sohn ein Mensch ist, der . . . nun, vielleicht ein bißchen leicht Geld ausgibt – auch Schulden macht . . . aber ein schlechter Mensch ist er nicht – und ein Mörder schon gar nicht.«

»Wenn ich Ihnen nun erzähle, daß Ihr Sohn wegen Körperverletzung vorbestraft ist?«

»Er wird einen Streit gehabt haben.«

»Sehr richtig!« rief Frau Turel »er hat in der Notwehr gehandelt.«

»Hat man denn die Pflicht, sich totschlagen zu lassen?« fragte die Alte.

»Diese Frage richten Sie am besten an Ihren Sohn«, entgegnete Dubois.

»Wo ist er? Ich werde ihn fragen und wenn er es getan hat – wird er mir die Wahrheit sagen.«

Der Vorsitzende befahl dem Gerichtsdiener, den Angeklagten hereinzuführen.

Frau Voisin sah unruhig zur Tür und fragte:

»Bevor ich ihn sehe – wollen Sie mir da nicht sagen, woraufhin Sie meinen Sohn verdächtigen?«

»Ihr Sohn ist Weinreisender der Firma Boucher & Co, in Bordeaux.«

»Seit sieben Jahren.«

»Er hat Anfang März in Toulon und später in Marseille versucht, sich von Wucherern größere Summen Geldes zu verschaffen.«

»Der arme Junge!«

» . . . die er seiner Firma in Bordeaux unterschlagen hat.«

»Verspielt wird er sie haben.«

»Das ist dasselbe.«

»Der Junge hat nun mal die Leidenschaft.«

»Der letzte Versuch bei einem Wucherer in Marseille erfolgte am dreizehnten April. Auch er schlug fehl.«

»War die Summe denn groß?«

»Dreißigtausend Franken.«

»Mein Gott!« rief die Alte und führte die Hände vor das Gesicht.

»Nach diesem vergeblichen Versuch ist Ihr Sohn in sein Hotel nicht mehr zurückgekehrt, ließ vielmehr seine Sachen im Stich . . .«

»Was mag er ausgestanden haben?«

». . . und hat« – der Präsident erhob seine Stimme – »am fünfzehnten früh, also am Tage nach dem Morde, eine Postanweisung in Maschinenschrift über neuntausendvierhundert Franken . . .«

Frau Voisin begriff. Sie wankte in den Knien, hielt sich am Richtertisch fest und rief:

»Nein! nein!«

». . . auf dem Postamt in Marseille an seine Firma in Bordeaux aufgegeben.«

»Gott sei meinem Jungen gnädig.«

»Von dem Augenblick an war er verschwunden.«

»Bis ihn die Findigkeit der Polizei zur Strecke brachte«, ergänzte Dubois.

»Wenn der Schein auch gegen Ihren Sohn ist,« sagte Frau Turel – »so klar, wie das Gericht es hinstellt, sind die Zusammenhänge nicht.«

Die alte Voisin, die unter den Worten des Präsidenten wie unter Keulenschlägen zusammengebrochen war, richtete sich auf, wandte sich an Frau Turel und flehte sie an:

»Sie werden ihn retten?«

»Irgendein Geheimnis steckt hinter dem Ganzen, dem wir noch nicht auf den Grund gekommen sind«, erwiderte Frau Turel – und der Vorsitzende fragte erstaunt:

»Ein Geheimnis? Der Fall ist Ihnen scheinbar zu einfach, daß Sie glauben, ihn komplizieren zu müssen.«

»Ich werde das Gefühl nicht los,« erwiderte Frau Turel mit erhobener Stimme und hielt den Zettel, den der Amerikaner ihr zugesteckt hatte, in der Hand – »daß der Angeklagte aus irgendeinem Grunde die Schuld für einen andern auf sich nimmt.«

»Wie kommen Sie denn auf den Gedanken?« fragte der Vorsitzende erstaunt.

Im selben Augenblick trat der Angeklagte, von zwei Wärtern eskortiert, wieder in den Saal.

Das Publikum hatte sich vor Erregung erhoben.

Die alte Voisin ging ihm mit ausgebreiteten Armen entgegen. Plötzlich blieb sie stehen, ließ die Arme sinken und sagte:

»Das. . . ist. . . ja . . . nicht. . . mein . . . Sohn!«

»Wer soll es denn sein?« fragte der Vorsitzende – und Frau Voisin, die noch immer vor dem Angeklagten stand und ihn entgeistert ansah, wiederholte – halblaut vor sich hin:

»Wer . . . soll. . . es. . . denn . . . sein? – Sie haben recht.«

»Sie wollen vermutlich zum Ausdruck bringen, daß Sie sich von Ihrem Sohne lossagen?«

Die Alte hörte gar nicht, was er sagte. Sie dachte nach. Ihr Blick ging von dem Angeklagten zu Frau Turel. Sie überlegte. Dann wiederholte sie – betont und langsam – die Worte Frau Turels:

»Vielleicht, daß er aus irgendeinem Grunde die Schuld eines anderen auf sich nimmt.«

»Der Ansicht bin ich«, bestätigte Frau Turel.

»Es könnte also auch ein anderer,« sagte die alte Voisin leise vor sich hin, »die Schuld für meinen Sohn auf sich nehmen.«

Ein Leuchten ging über ihr Gesicht. Sie begriff plötzlich – atmete befreit auf.

»Ist es denn nun Ihr Sohn?« fragte Dubois.

»Aber ja!« erwiderte sie fest, ging auf den Angeklagten zu, ergriff seine Hand und küßte sie leidenschaftlich.

Einen Augenblick lang herrschte Totenstille im Saal. Ohne zu ahnen, was im Innern der alten Voisin vorging, empfand jeder, daß er in dieser Stunde das Schicksal einer Mutter miterlebte.

Diese Stimmung nutzte der Präsident, beugte sich weit vor, sah den Angeklagten beinahe väterlich an und fragte:

»Wollen Sie nun nicht ein Geständnis ablegen?«

»Lassen Sie ihn!« widersprach Frau Voisin leidenschaftlich, nahm eine Kette, die sie um den Hals trug, ab und drückte sie dem Angeklagten in die Hand. Dann wandte sie sich an die Richter, sagte mit lauter Stimme: »Er ist ein Held!« und ging erhobenen Hauptes aus dem Saal.

7

Es war spät am Abend, als endlich die Beweisaufnahme geschlossen wurde. Vorher hatte noch der medizinische Sachverständige sein Gutachten abgegeben. – Er erklärte, den Erkrankungen in der Familie des Angeklagten mit großer Gewissenhaftigkeit nachgegangen zu sein und festgestellt zu haben, daß eine Großkusine mütterlicherseits an schwerer Neurasthenie gelitten habe und ein Großvetter väterlicherseits Alkoholiker gewesen sei. Außerdem habe sich eine Schwester seiner Mutter wiederholt dadurch strafbar gemacht, daß sie in dem Bestreben, ihre stark entwickelten Sexualtrieb durch Morphium zu verdrängen, Rezepte gefälscht habe.

»Was hat das mit dem Morde zu tun?« fragte Dubois.

»Es besteht,« erwiderte der Sachverständige, »ein Kausalzusammenhang zwischen dem Morde und den angeführten krankhaften Trieben in der Familie des Angeklagten. Aus ihm läßt sich die Wahrscheinlichkeit des Mordes, mit anderen Worten, der krankhafte Zwang errechnen, unter dem der Täter bei Begehung der Tat stand und der in diesem Falle bis hart an die Grenze des Paragraphen einundfünfzig geht, ohne sie jedoch ganz zu erreichen.«

»Wenn ich Sie recht verstehe, so verneinen Sie, daß der Paragraph einundfünfzig auf den Angeklagten Anwendung findet?« fragte der Vorsitzende, und der Sachverständige erwiderte:

»Sie haben mich ausgezeichnet verstanden.«

Dorothée, die die Ausführungen des medizinischen Sachverständigen grotesk fand und sich wunderte, daß Gericht und Publikum sie ernst nahmen, dachte, daß, was sie bisher stets als Qual und Belastung empfunden habe, nämlich eine große Verwandschaft, auch sein Gutes habe. Denn selbst, wenn man kritisch war, unter einem Dutzend Geschwistern, Onkeln, Tanten, Vettern und Kusinen war mindestens einer, den man selbst bei wohlwollender Einstellung nicht als normal bezeichnen konnte. Sie zählte im Augenblick allein in ihrer Familie vier – und in der ihres Mannes waren es bestimmt noch mehr. Wie herrlich, daß man die – , und zwar gerade die unsympathischsten – im Augenblick der Gefahr für sich ins Treffen führen konnte. Also, berichtigte sich Dorothée, ist die Familie doch zu etwas gut.

Schließlich kam der Sachverständige auf den Angeklagten selbst zu sprechen. Er hatte ihn, während er in Untersuchungshaft saß, wiederholt besucht und konnte an ihm alle typischen Krankheitserscheinungen eines Weinreisenden feststellen: Flatterhaftigkeit, Mangel an Konzentration, Nervosität, Unaufrichtigkeit, kolerische Zustände, abwechselnd mit melancholischen und völliger Resignation. – Wie man das bei den meisten Weinreisenden finde, so habe sein Organismus stark unter dem übermäßigen Genuß alkoholischer Getränke gelitten. Aber auch psychisch sei er ein Opfer seines Berufs geworden. Denn es zeuge nicht grade von geistiger Stärke, daß ihm der Angeklagte auf seine Frage, ob er sich schuldig fühle, erwidert habe, er wolle der Entscheidung des Gerichts nicht vorgreifen.

Das Publikum quittierte die Äußerung mit Lachen, das der Vorsitzende rügte.

Endlich erhob sich der Staatsanwalt und hielt sein Plaidoyer. Er führte aus:

»Nachdem der Herr Sachverständige so überzeugend nachgewiesen hat, daß der Angeklagte für seine Tat verantwortlich ist, bleibt mir nur übrig, zu beweisen, daß er die Tat auch wirklich begangen hat. – Selten ist mir dieser Beweis so leicht gemacht worden wie in diesem Falle, wo die Indizien deutlicher sprechen, als es selbst ein Geständnis des Angeklagten täte. Der Herr Vorsitzende wird hier eine kleine Abschweifung gestatten. Ich kann es mir bei dieser Gelegenheit nämlich nicht versagen, meiner besonderen Genugtuung Ausdruck zu geben, daß sich unter den interessiertesten Zuhörern dieses Prozesses der bekannte amerikanische Zeitungsverleger Lincoln Harvey befand. Mit einer Leidenschaft ohnegleichen bekämpft er seit einem Jahrzehnt in seinen amerikanischen Blättern eine Institution zum Schütze der menschlichen Gesellschaft, die ich ohne Übertreibung als eines der vielen Fundamente eines jeden Rechtsstaates bezeichne: den Indizienbeweis. Ich gehe wohl in der Annahme nicht fehl, daß auch die europäische Reise dieses fanatischen Bekämpfers des Indizienbeweises den Zweck hat, diese Propaganda über die Grenzen Amerikas hinaus auch nach Europa zu tragen. Ich betrachte es daher als einen ganz besonderen Glücksfall, daß Mister Harvey Zeuge dieses Prozesses war, der sämtliche in Zeitungsartikeln und Broschüren gegen den Indizienbeweis zusammengetragenen Argumente entkräftet und geradezu ein Schulbeispiel dafür ist, daß ein lückenloser Indizienbeweis oft überzeugender die Schuld des Angeklagten aufzeigt als der Eid von Tatzeugen, ja, unter Umständen überzeugender selbst als ein Geständnis, das durch Zwang erzeugt, durch Widerruf erschüttert werden kann, während sich handgreifliche Indizien durch keinen Widerruf und keine Dialektik wegdiskutieren lassen. Ich gebe mich daher der Hoffnung hin, daß dieser Prozeß nicht nur den Täter seiner verdienten Strafe zuführen, sondern zugleich einer Bewegung den Wind aus den Segeln nehmen wird, die dank der Persönlichkeit eines Mister Harvey eine Gefahr für die Grundlagen unserer Rechtsprechung bedeutet. – Diesen Indizien gegenüber ist die Verteidigung hilflos und weiß sich, da sie außer Stande ist, sie zu entkräften, nicht anders zu helfen, als daß sie zu der ebenso phantastischen wie weit hergeholten Behauptung greift: Der Angeklagte habe die Tat eines andern übernommen. Das kann man natürlich immer behaupten. Bisher war der große Unbekannte das Reservat und primitivste Hilfsmittel geistig armer Gewohnheitsverbrecher, über das sich selbst der jüngste Kriminalbeamte mit einem Lächeln hinwegsetzte. Wie muß es um eine Verteidigung bestellt sein, die, vor eine unlösbare Aufgabe gestellt, zu diesem Hilfsmittel greift? – Es hieße Sie kränken, meine Herren Geschworenen, wollte ich annehmen, daß Sie sich die durch nichts belegte Behauptung auch nur einen Augenblick lang zu eigen machen. Der Angeklagte war klüger als die Verteidigung. Unter dem Druck des Belastungsmaterials hat er es, statt das Hohe Lied vom großen Unbekannten anzustimmen, vorgezogen, zu schweigen. Kalt und berechnend hat er diese Verteidigungsmethode bis zum Schluß durchgeführt, kalt blieb er auch der Mutter gegenüber. Diese Szene, die selbst mir altem Kriminalisten ans Herz ging ihn hat es nicht berührt, geschweige denn erschüttert. Einem Menschen mit so robustem Gewissen wäre ein Mord auch dann zuzutrauen, wenn er dank glücklicher Zufälle denn nur um Zufälle könnte es sich dann handeln – noch nicht vorbestraft wäre. Aber der Angeklagte hat nicht nur fremde Gelder unterschlagen, er ist auch wegen Körperverletzung vorbestraft.«

»Es handelt sich um eine Überschreitung der Notwehr,« unterbrach ihn Frau Turel, »die fünfzehn Jahre zurückliegt.«

»Gut!« erwiderte Dubois überlegen. »Ich komme der Verteidigung entgegen und lasse das Argument, der Angeklagte sei ein Mann, dem man nach Charakter und Vorstrafe die Tat wohl zutrauen könne, fallen und komme zu dem Motiv der Tat. Die Verhandlung hat ergeben, daß die finanzielle Lage des Angeklagten eine verzweifelte war. Aus der bei ihm beschlagnahmten Korrespondenz geht hervor, daß er als Weinreisender für eine Firma in Bordeaux Beträge in Höhe von etwa dreißigtausend Franken einkassiert, aber nicht abgeliefert hatte. Der wegen Körperverletzung vorbestrafte Angeklagte sah also seiner Bestrafung wegen Unterschlagung entgegen wenn es ihm nicht gelang, sich die veruntreute Summe anderswo zu verschaffen. Alle dahingehenden Versuche scheiterten, wie die Korrespondenz ergibt. Also verfiel er auf den üblichen Ausweg: ein Verbrechen durch ein anderes zu verdecken. Die bequemste Art, sich widerrechtlich Gold, Schmuck und sonstige Wertgegenstände anzueignen, bietet fraglos ein Luxushotel, in dem die große Welt verkehrt. Als Weinreisender kannte der wegen Körperverletzung vorbestrafte Angeklagte das Leben und Treiben in derartigen Hotels genau. Er wußte, daß Damen, die ihren Schmuck zu Haus sorgsam in einem Tresor bewahren, auf Reisen leichtfertig damit umgehen, daß Herren, die zu Haus nur das für den Tag nötige Geld bei sich zu tragen pflegen, auf Reisen große Summen bei sich führen. Also beschloß er, den Gästen eines derartigen Luxushotels einen Besuch abzustatten. Er ist dabei klug zu Werke gegangen. Denn in der Tat trug die damalige Frau Marot, die er bereits in Marseille beobachtet hatte, einen Halsschmuck, der allein zur Deckung der von ihm unterschlagenen Summe ausgereicht hätte. Er mußte damit rechnen, daß man ihn auf frischer Tat ertappte. Für diesen Fall hatte er nicht die Absicht, zu fliehen oder gar, sich verloren zugeben. Er hielt in der Hand vielmehr den fünffach geladenen Revolver, hatte also vor, sein Opfer, sofern es sich ihm in den Weg stellte, niederzuschießen. Er handelte also mit Überlegung und Vorbedacht. Die Lage der Leiche hat ergeben, daß Marot im Schlaf erschossen wurde. Ein Kampf hat auf keinen Fall stattgefunden. Der Angeklagte hat es dazu nicht kommen lassen, sondern hat sein Opfer im Augenblick des Erwachens – vielleicht sogar, ohne daß es erwachte – der eigenen Sicherheit wegen – einfach über den Haufen geschossen. – So weit die Tat als solche und ihre psychologischen Merkmale, auf Grund deren der Angeklagte als der Tat verdächtig erscheint. Aber niemals würde ich auf Grund dieser Indizien seine Verurteilung von Ihnen fordern, wenn ich nicht beweisen könnte, daß der Angeklagte der Täter sein muß, daß kein anderer als er die Tat begangen haben kann. Meine Herren Geschworenen! Der wegen Körperverletzung vorbestrafte Angeklagte ist einen Tag vor dem Morde zum letzten Male gesehen worden.«

»In Marseille, nicht in Nizza«, warf Frau Turel ein.

»Nizza ist in wenigen Stunden von Marseille zu erreichen. Der Angeklagte ist seit der Mordnacht in sein Hotel nicht zurückgekehrt. Er hat vielmehr seine Koffer preisgegeben und sich verborgen gehalten, nachdem er – wie dilettantisch – am Morgen nach dem Morde auf dem Postamt in Nizza an seine Firma in Bordeaux einen erheblichen Teil des für sie einkassierten Betrages mit einer Postanweisung in Maschinenschrift abgesandt hatte. – Hier könnte ich aufhören und Ihrem gesunden Menschenverstand die Beurteilung überlassen, ob der Angeklagte der Mörder ist. Aber damit nicht genug! Man hat bei dem Angeklagten, von dem wir nach den bisherigen Indizien bereits wissen, daß er der Mörder ist, die Brieftasche und die Uhr des Ermordeten gefunden – identifiziert von dessen eigener Gattin. Überführter war während meiner Praxis kein Angeklagter. Und nur, weil es meine Pflicht ist, alle Momente zusammenzutragen, füge ich hinzu: Die Fingerabdrücke und die Fußspuren unterhalb des Fensters im Hotel Excelsior Regina sind identisch mit denen des Angeklagten. Ich würde Sie kränken, meine Herren Geschworenen, wenn ich es Ihnen nicht selbst überließe, aus diesen Tatsachen den allein möglichen Schluß zu ziehen.«

Das Publikum gab, ohne Beifall zu äußern, seiner Zustimmung Ausdruck. Obwohl es immer und überall Sensationen suchend, hinter der Art, in der sich der Angeklagte verteidigte – oder besser: nicht verteidigte, ein Geheimnis suchte und gern einen Zusammenhang mit Frau Dorothée konstruiert hätte, war doch wohl keiner im Saal, der sich der schlüssigen Beweisführung des Staatsanwalts zu entziehen vermochte.

Frau Turel hatte daher einen schweren Stand, als sie begann:

»Meine Herren Geschworenen! Ich beschränke mich darauf, Sie zu warnen, lediglich auf Indizien hin den Kopf des Angeklagten dem Henker auszuliefern. Schon oft waren die Belastungsgründe so überzeugend wie hier . . .!«

»Noch nie!« rief Dubois dazwischen, und Frau Turel fuhr mit erhobener Stimme fort:

»Schon oft – der Staatsanwalt weiß es so gut wie ich – schloß sich die Kette der belastenden Momente so lückenlos, daß jeder logisch denkende Mensch sich sagte: er muß es gewesen sein. Das Urteil wurde gefällt. – Nach Monaten, oft erst nach Jahren, stellte sich dann heraus, meist durch das Geständnis, das der wahre Täter auf dem Totenbette ablegte – daß das Urteil falsch gewesen war. In dem vom Staatsanwalt selbst oder von den Angehörigen veranlaßten Wiederaufnahmeverfahren wurde der damals zum Tode Verurteilte hinterher freigesprochen, die ihm seinerzeit aberkannten Ehrenrechte wurden ihm wieder zuerkannt, nur den abgeschlagenen Kopf konnte man ihm nicht wieder aufsetzen. – Richter und Staatsanwalt, so nachdenklich Fälle dieser Art sie stimmten, gerieten nicht in Gewissensnot, denn nicht sie waren es gewesen, sondern die Herren Geschworenen, die das falsche Votum »schuldig« abgegeben und damit den Staatsanwalt und das Gericht gezwungen hatten, die Todesstrafe zu beantragen und auszusprechen. – Wenn Sie mich fragen, was mich treibt, Sie zu bitten, die Schuldfrage zu verneinen, so erwidere ich Ihnen: mein Gefühl! – Auch ich war anfangs von der Schuld des Angeklagten überzeugt – eben, weil alle äußerlichen Merkmale dafür sprachen. Aber schon die Tatsache, daß der Angeklagte am Morgen nach der Tat auf der Post in Nizza das seinem Opfer geraubte Geld an die geschädigte Firma abgesandt haben soll. . .«

»Abgesandt hat!« rief der Staatsanwalt, und Frau Turel fuhr fort:

». . . machte mich stutzig. Sie müssen daran erkennen, daß so dumm nicht einmal ein Geistesschwacher handeln würde es sei denn, er will die Spur auf sich lenken.«

»Weshalb?« fragte Dubois, und Frau Turel erwiderte:

»Vielleicht, um sie von dem wahren Täter abzulenken. Es besteht somit die Möglichkeit – und sämtliche vom Staatsanwalt, teilweise mit meiner Hilfe zusammengetragenen Belastungsmomente widersprechen dem nicht – daß der Angeklagte nur das Werkzeug Dritter war.

»Jetzt verdächtigen Sie Mister Harvey!« fragte Dubois – und Frau Turel erwiderte:

»Ich mache mir nur Ihre Beweisführung zu eigen. Auf Grund des Tatsachenmaterials könnten Sie als Staatsanwalt mühelos den Beweis führen, daß Mister Harvey der Anstifter, ja der intellektuelle Mörder Marots ist. – Andrée Marot war Marseiller Korrespondent der Harvey-Presse in Amerika. Diese Stelle war nicht besonders hoch dotiert.«

»Sie reichte kaum für meine Toiletten aus!« bestätigte Dorothée.

»Frau Marot verstand es – anfangs vielleicht nur, um ihrem Mann vorwärts zu helfen – , Mister Harvey zu fesseln.«

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30 kasım 2019
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