Kitabı oku: «"Alles schaukelt, der ganze Bunker schaukelt"», sayfa 5

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(Gerd B., Jg. 1933)

Wegen der vielen Angriffe wurden mein Bruder und ich sehr oft verschickt. Wir waren in Pommern, Schlesien und Schneidemühl, was mir ganz schlimm in Erinnerung ist. Die Familie behandelte mich schlecht, ich wurde immer ängstlicher und sehnte mich nach meiner Mutti. Zuletzt waren wir in Dellach im Drautal, das war das Schönste, was wir je erleben durften. Mutti war dabei, und die Leute, bei denen wir untergebracht waren, gaben uns Liebe und Freundschaft. In der Umgebung blühten große Lupinenfelder und an den Häusern standen Sträucher mit großen weißen Blütenbällchen. Wir nannten sie Schneeballsträucher.

(Ingrid Heinze, Jg. 1938)

Meine Geschwister und ich wurden wegen der vielen Bombenangriffe in der Stadt oft aufs Land verschickt. Die Kinderlandverschickung war ja auch eine latente Entfremdung von den Eltern. Das war auch so gewollt. Und diese latente Entfremdung hat mein Bruder später nicht mehr überwunden. Der Älteste ist gar nicht mehr nach Hause gekommen. Der hat dann studiert.

(Gerd B., Jg. 1933)

Hintergrundinfos: Bombenkrieg

Im Zweiten Weltkrieg fielen 1,6 Millionen Tonnen Bomben auf Deutschland. Dabei verloren fast eine halbe Million Menschen ihr Leben. Etwa eine Million wurden verletzt, darunter 116 000 Kinder. Ein Fünftel aller Wohnungen wurden zerstört und 7 Millionen Menschen wurden obdachlos. 10 Millionen Menschen wurden evakuiert. In den Städten mit über 100 000 Einwohnern wurden durchschnittlich die Hälfte aller Häuser zerstört. Britische und amerikanische Bomber flogen über 700 000 Einsätze gegen Deutschland.

Das NS-Regime setzte als erste Partei im Krieg Terrorangriffe aus der Luft gezielt gegen die Zivilbevölkerung ein. Am 25. und 26. September 1939 erfolgte mit dem Angriff auf Warschau das erste Flächenbombardement auf eine Großstadt. Am 15. Mai 1940 war Rotterdam das Ziel vernichtender deutscher Luftangriffe. Danach folgte die Luftschlacht um England. Am 5. September 1940 befahl Hitler, Tag- und Nachtangriffe gegen die großen Städte zu fliegen. Bis zum Mai 1941 war London beinahe täglich Ziel von deutschen Luftangriffen. Am 14. November 1940 zerstörte die deutsche Luftwaffe die Industriestadt Coventry – nur ein Viertel der Gebäude blieb unbeschädigt. In der Sowjetunion wurden von den deutschen Luftstreitkräften 1700 Städte zerbombt.

Ab Februar 1942 startete die englische Regierung eine Bombenoffensive, die vor allem Moral und Kampfeswillen der deutschen Zivilbevölkerung erschüttern (»moral bombing«) und so die Wende des Krieges bringen sollte. Die britischen Luftstreitkräfte bombardierten in nächtlichen Angriffen gezielt mit Spreng- und Brandbomben die Wohngebiete deutscher Städte. Ab 1943 wurde der Luftraum von den Alliierten kontrolliert, die deutsche Luftwaffe war unterlegen. So konnten die Amerikaner zusätzlich Tagesangriffe fliegen – was vorher zu gefährlich gewesen war –, bei denen sie sich auf die Zerstörung der deutschen Rüstungsindustrie und später die Flugzeugindustrie konzentrierten. Das machte eine Bombardierung rund um die Uhr möglich.

Kinderlandverschickung

Mehr als zwei Millionen Kinder wurden während des Zweiten Weltkriegs für Monate oder Jahre in vermeintlich sichere Gebiete ohne Luftangriffe verschickt. Die sogenannte Nationalsozialistische Volkswohlfahrt kümmerte sich um die Unterbringung von Müttern mit ihren Kindern bis sechs Jahre in ländlichen Gebieten. Schulpflichtige Kinder bis zehn Jahre konnten allein in Pflegefamilien einquartiert werden. Rund 1,2 Millionen Kinder kamen so bei Familie oder Verwandten unter. Kinder ab zehn Jahre wurden klassenweise mit der Hitlerjugend verschickt und meist in Kinderlandverschickungs-Lagern untergebracht. Es gab zwischen 6000 und 9000 solcher Lager mit etwa 850 000 Kindern von zehn bis vierzehn Jahre. Neben dem Schulunterricht sollte den Kindern Ordnung und Disziplin sowie Befehl und Gehorsam beigebracht werden. Spind-, Stuben-, Gesundheitsappelle und eine straffe Lagerordnung gehörten zum Tagesablauf. Die Indoktrination mit NS-Gedankengut war allgegenwärtig. Vormilitärischer Drill und Wehrertüchtigung standen bei den Jungen zusätzlich auf dem Programm.

Flucht und Vertreibung
»Wir buddelten, so gut wir konnten, legten ihn rein und schütteten das Grab zu.«
Jürgen Fischer

(Geboren 1937 in Berlin, Werbekaufmann, Podologe)

Im Februar 45 kamen die Russen. Mutter hatte sie kommen sehen. Wir flüchteten in den Wald. Es lag Schnee. Wir hatten Angst vor dem Russen. 14 Tage lang taperten wir im Schnee herum. Nachts lehnten mein Bruder und ich uns in Decken gewickelt an die Knie unserer Mutter. Sie selbst lehnte an einem Baum, meinen jüngsten Bruder hielt sie zugedeckt in den Armen. Er war erst zwei Jahre alt. Richtig schlafen konnten wir nicht. Es war sehr kalt. Nach zwei Wochen im Wald kamen wir wieder dort raus, wo wir losgelaufen waren. Wir müssen im Kreis gelaufen sein. Ich weiß nicht, wie wir das alles geschafft haben … Wir irrten weiter umher, immer weiter. Wenn wir Russen hörten, versteckten wir uns wieder im Wald. Einmal sahen wir, wie Russen einen Mann und eine Frau, wohl ein Ehepaar, auf einem Acker erschossen haben. Die beiden kullerten in den Graben runter. Ich erinnere mich auch an einen Schäferhund. Die Russen waren betrunken und schossen ihm ins Hinterteil. Der Hund rannte noch so weit er konnte, dann war er hinüber. Sie machten sich einen Spaß daraus.

Irgendwann landeten wir in Selchow. Dort hatten sich schon die Russen einquartiert. Wir konnten ihnen nicht mehr ausweichen, fanden aber endlich ein leeres Haus, wo wir mit mehreren anderen Flüchtlingen übernachten konnten. Die Bewohner des Hauses waren selbst geflüchtet.

Im Haus gegenüber wohnten die Russen. Dort übernahm Mutter die Hauswirtschaft für den Kommandanten.

Nachts waren die Russen unterwegs und nahmen sich die Frauen vor. Sie kamen auch in unser Haus und suchten sich Frauen raus. Wir lagen auf dem Boden, der mit Decken und Kleidung ausgelegt war, es gab keine richtigen Betten. »Frau komm! Frau komm!«, riefen sie immer. Dann sagte ich schon bald zu meiner Mutter: »Geh doch mit, dann bringste wieder Brot mit!«

Ich wusste ja nicht, worum es geht.

Mein jüngster Bruder schlief in einer kleinen Kinderkrippe. Er war noch nicht ganz trocken, und wenn er morgens in die Hose gemacht hatte, sagte er zu meiner Mutter: »Niss hauen, niss hauen!« (Er lacht.) Irgendwann stand er morgens nicht mehr auf, lag auch tagsüber in der Krippe. Wahrscheinlich hatte er in der Kälte eine Lungenentzündung bekommen. Er hatte nicht die Abwehrkräfte, um tagelang durch den Schnee und das Eis getragen zu werden. Meine Mutter wollte mit ihm in den Nachbarort, wo ein Arzt sein sollte, aber der Kommandant genehmigte das nicht. Am 28. März war er tot. Ich wollte es gar nicht glauben. Ich schubste ihn immer in seiner Kiste an … Im Juni wäre er drei Jahre geworden. (Er seufzt.) Wir verscharrten ihn an der Kirche. Meine Mutter buddelte, ich buddelte. Da war sonst keiner – starke Männer gab es nicht, die waren im Krieg. Im Dorf lebten nur noch Ältere oder Frauen und Kinder. Wir buddelten, so gut wir konnten, legten ihn rein und schütteten das Grab zu. Jeden Tag gingen wir zu seinem Grab …

Meine Mutter musste dann tagsüber Kühe hüten, eine riesige Herde. Wenn die Russen auch am Tage kamen und Mutter greifen wollten – »Frau komm!« –, versteckte sie sich zwischen den Kühen. An einem dieser Tage sollte sie die Kuhherde mit anderen Frauen nach Osten treiben. Abends kam sie nicht wieder und am nächsten Morgen auch nicht. Tagelang warteten mein Bruder und ich auf unsere Mutter. Wir wussten nicht, ob sie jemals wiederkommen würde. Wir verbrachten die Tage damit, etwas Essbares zu finden. Ich weiß gar nicht, wie wir da durchgekommen sind. Nach einer Woche, wir hatten schon gar nicht mehr damit gerechnet, kamen Lastwagen, auf denen die Frauen standen, die die Kühe weggetrieben hatten. Gott sei Dank! Das war eine riesige Freude – auch bei den anderen Kindern. In der Nähe unserer Mutter hatten wir uns immer sicher gefühlt. Wenn sie da war, waren wir sicher. So ein Gefühl hatten wir jetzt.

Wir Kinder suchten immer nach etwas Essbarem. Manchmal brachten wir der Mutter freudestrahlend Rüben oder Kraut, von dem wir dachten, dass wir es essen könnten. Oft sagte Mutter dann: »Nee, das geht nicht.« Wir suchten immer Essen. Man spielt ja nur, wenn man satt ist … Am 27. April 1945, meinem Geburtstag, schenkte mir Mutter sogar ein Stückchen Brot aus grobem Mehl mit ein bisschen Butter drauf. Ich weiß gar nicht, wo sie das herhatte. Das war mein Geburtstagsgeschenk.

Dann kam der 30. April, und die Russen tanzten umher: »Wir haben Berlin eingenommen!«

Der Umgang mit ihnen hatte sich inzwischen normalisiert – in Anführungszeichen. Zu uns Kindern waren sie nett, streichelten uns manchmal über den Kopf. Ich weiß noch, wie Mutter sagte: »Das schafft ihr nie, Berlin einzunehmen.« (Er lacht.) Ich dachte: ›Na, wenn die das sagen und sich so freuen, dann muss es ja wahrscheinlich so sein.‹ Wir merkten auch, dass das Militär nicht mehr kämpferisch unterwegs war. Die Soldaten stiegen aus ihren Militärfahrzeugen aus, rauchten und waren irgendwie gelöster. Wir hatten wirklich das Gefühl, es ist vorbei – zwar nicht zu unseren Gunsten, aber vorbei.

Deswegen wollten wir zurück nach Hause. Wir liefen in das Dorf, wohin wir evakuiert worden waren, aber der Bauer war weg und das Haus ausgeräumt. Zwei Häuser weiter fanden wir einen Schlafplatz bei Frau Bachschmitt aus Berlin, die dorthin mit ihren zwei Mädchen evakuiert worden war. Auch bei ihr hatten sich die Russen eingenistet und den Bauern hinterm Haus erschossen. Nun waren die Russen höchst erfreut, dass meine Mutter mit uns kam. Wir Kinder sollten im ersten Stock schlafen, und unten feierten die Russen und vergnügten sich mit den Frauen. Auch Mutter musste sich mit ihnen abgegeben. An einem der Abende spielte ein polnischer Fremdarbeiter zur Unterhaltung für die Russen auf einer Gitarre. Sie kamen betrunken rauf und sagten zu uns Kindern: »Sagt mal: Heil Hitler!«

Der Pole rief aufgeregt: »Nich sagen, nich sagen!« Meine Mutter, ach, die zitterte. Wir haben nichts gesagt. Sonst würden wir wahrscheinlich heute nicht hier sitzen! (Er lacht.)

Nach ein paar Tagen zogen wir mit der Familie Bachschmitt los, wollten über die Oder nach Berlin. Wieder zu Fuß. Im Wald kamen uns deutsche Soldaten entgegen. Sie hatten keine richtigen Schuhe mehr, trugen nur noch die Fußlappen und fragten verzweifelt: »Sind die Russen schon hier?«

»Ja«, sagte meine Mutter und gab ihnen noch Essensreste mit. Frau Bachschmitt warnte sie: »Gehen Sie nicht zu nah ran, die Russen schießen.«

Wir liefen weiter, mussten einen Fluss überqueren. Unsere Mütter stiegen in das kalte Wasser und reichten uns Kinder und das Gepäck rüber. Wie die Frauen das durchgestanden haben, weiß ich überhaupt nicht. Die Brücken über die Oder waren alle zerstört. Wir liefen am Ufer entlang Richtung Norden. Das wenige Gepäck und meinen Bruder zogen wir in einem Leiterwagen hinter uns her. Einmal versuchte ich, einen Ziegenbock vor den Wagen zu spannen, den ich auf einem Feld entdeckt hatte, aber meine Mutter war dagegen. Ich wollte meiner Mutter helfen. Ich war 45 acht Jahre alt.

Wir schlossen uns einem Treck von Flüchtlingen an. Manche hatten Wagen, andere nicht. Jeder schleppte irgendwas. Geredet wurde kaum – die Stimmung war gedrückt. Plötzlich hören wir weiter vorne im Treck furchtbares Gebrüll.

Als wir näher kommen, sehe ich am Wegesrand zwei Männer, ich weiß nicht, ob es Russen sind oder Polen. Sie greifen sich die jungen Frauen aus dem Treck und sperren sie hinter einem Zaun auf einer Weide ein. Die Kinder erschlagen sie mit einem Spaten und schmeißen sie in den Graben. Wir kommen immer näher. Vor uns wird wieder eine Frau aus dem Treck gezogen und hinter den Zaun gesperrt. Ihre Kinder, vielleicht drei, vier Jahre alt, etwas jünger als wir, erschlagen die Männer mit Spaten und schmeißen sie in den Graben. Den Kinderwagen werfen sie hinterher. Die Frauen hinter dem Zaun weinen verzweifelt. Wir sind die Nächsten, die an den Männern vorbeimüssen. Ich denke: »Mein Gott, jetzt sind wir dran.«

Ich bin erstarrt. Ich sehe, wie plötzlich ein Russe, der ein bisschen weiter weg steht, auf uns zukommt. Er schiebt den Mann beiseite, der meine Mutter wegnehmen will. Wir können weitergehen. Ich weiß nicht, warum. Wir laufen einfach weiter, drehen uns auch nicht mehr um, wir laufen einfach weiter, weiter, weiter. Erstarrt – im Schock. Wir hätten ja auch brüllen können.

Solche Grausamkeiten … Aber das hatten die Deutschen ja damals genauso in Russland gemacht. Die Russen haben dann quasi das Gleiche gemacht. Überall, wo Krieg ist, ist Brutalität. Man hört es ja heute noch. Wir können froh sein, dass wir so lange keinen Krieg hatten. Ich hoffe, dass es auch nicht mehr passiert. Aber weiß man’s?

Wie taten mir die Frauen und Kinder, die mit uns auf dem Treck waren, leid. Besonders, wenn die Kinder weinten, hätte ich ihnen am liebsten immer irgendwie helfen wollen.

Später habe ich mit Mutter nochmal über die Zeit geredet. Aber nicht so intensiv. Nicht so, wie jetzt hier mit Ihnen. Zwischendurch erzählte sie mal Bruchstücke, die ich nicht zusammensetzen konnte. Und ich wollte dann auch nicht. Es war weg – die Erlebnisse waren vermutlich ins Unterbewusstsein verschoben.

Als ich Ihren Flyer fand, habe ich mich gewundert: Da möchte jemand wissen, was ich erlebt habe? … Ich habe mir diese Notizen hier gemacht, damit auch etwas dabei herauskommt. Ich habe auch recht lebhaft geträumt in den letzten Tagen, bevor Sie heute gekommen sind. Bin oft aufgewacht, hab nicht viel geschlafen. Zumindest möchte ich der heutigen Generation sagen: Es war nicht immer so gut, wie ihr es jetzt habt.

Wo war ich stehengeblieben? Der Treck führte uns in die falsche Richtung, also kehrten wir wieder um. Nachts schliefen wir draußen oder in verlassenen Häusern. Tote Pferde lagen am Wegesrand, irgendwer hatte schon das Fleisch rausgeschnitten. Zurück an der Oder, fanden wir noch eine intakte Eisenbahnbrücke. Wir warteten auf einen offenen Güterzug, stiegen auf – keine Wände rechts und links, wir starben fast vor Angst – und stiegen auf der anderen Seite wieder runter. Zu Fuß liefen wir weiter bis nach Berlin. Meine Mutter, mein Bruder und ich hatten offene Füße. Die ganze Oberseite war offen – eingewickelt in Stoff. Im Winter waren uns die Füße eingefroren, seitdem hatten sie sich nicht erholen können. Erstaunlich, dass die später wieder geheilt sind. Wie wir überhaupt noch laufen konnten, weiß ich nicht mehr. Irgendwie haben wir es geschafft. Anfang Juli kamen wir in Berlin an. Es war sehr warm damals, das weiß ich noch. Bei meiner Großmutter kamen wir in einem Zimmer unter.

1991 sind meine Mutter und ich nach Selchow gefahren und haben das Grab von meinem kleinen Bruder gesucht. Wir fanden nichts. Unser Dolmetscher fragte eine Frau bei der Kirche nach den Gräbern. Sie erklärte uns, dass aus all den Gräbern, die sich während des Kriegsendes gebildet hatten, die Reste rausgenommen und in eine Grube auf einen verfallenen Friedhof gebracht worden waren. Wir liefen zu der Stelle, und dort lagen sogar noch ein paar Knochen auf der Erde. Meine Mutter konnte sich gar nicht halten, sie rief immer nach ihrem Sohn …

»Mutti war meine Heimat.
Eine andere Heimat hatte ich nicht.«
Berthild Erika Tourrenc

(Geboren 1938 in Berlin, Lehrerin)

Vor dem Krieg waren wir oft zu meinen Großeltern aufs Land gefahren. In der Weite des Gartens tollten mein Bruder und ich umher, pflückten Kirschen, Pflaumen, Äpfel, machten kleine Sträuße aus den vielen Flockenblumen, deren Duft überall in der Luft war.

Ab 1943 wurde Berlin heftig bombardiert. Mutter und ich wurden mit der Schule meines Bruders nach Ostpreußen evakuiert – in die Nähe von Angerburg. Wahnsinnig, uns 1943, nach der Schlacht von Stalingrad, so weit nach Osten zu bringen! Mein Bruder war gerade zehn Jahre alt geworden. Ich erinnere mich, wie wir in Angerburg auf dem Bahnsteig standen und die Bauern um uns herumliefen. Sie waren verpflichtet, den Flüchtlingen ein Zimmer abzugeben. Sie betrachteten uns. Plötzlich kam eine Frau auf uns zu und sagte: »Ich nehme Sie mit!« Sie hatte uns ausgesucht, weil sie einen Sohn im Alter meines Bruders hatte, und ihre Tochter war so alt wie ich – fünf Jahre.

Es war eine schöne Zeit … Ich erinnere mich an die Leinenfelder, ein Meer aus blauen Blüten, und die Masurischen Seen, überall Wasser und die Weite der Wälder.

Dann kamen die Russen. Sie waren kurz vor Angerburg. Wir liefen los – meine Mutter, mein Bruder und ich. In meinem kleinen Rucksack trug ich meine Puppe und einen Nachttopf – mehr konnte ich nicht tragen. Ich lief von Angerburg in Ostpreußen bis nach Schlesien. Als Fünfjährige! Wir schliefen draußen unter freiem Himmel und in Scheunen. Tagsüber liefen wir.

Russische Tiefflieger fliegen nur ein paar Meter über uns und schießen. Tote Pferde liegen auf der Straße. Viele tote Menschen liegen im Straßengraben. An den Rändern der Straße liegen tote Kinder. Die Menschen laufen einfach weiter – an den Toten vorbei. Niemand kann sich um die Toten kümmern! Menschen und Tiere werden von den Fliegern erschossen und bleiben liegen. Mutti ruft: »Guckt nicht hin!« Sie will nicht, dass wir hinschauen – wir sollen weiterlaufen. Die russischen Flieger sind immer da. Wir schmeißen uns auf die Erde. Wir hören das Brummen und springen in den Straßengraben oder wir rennen in den Wald, um uns zu verstecken. Mutti hat eine grüne Decke dabei, die legen wir über uns. Unter der Decke fühlen wir uns geschützt. Meine Mutti ist da, also kann uns nichts passieren. Mutti war meine Heimat. Eine andere Heimat hatte ich nicht. Mutti sagte immer: »Wir müssen mit unseren Gebeten Gott vertrauen, dass er uns und Vati am Leben lässt.«

Wir liefen weiter, immer weiter und weiter … Dabei sangen wir oft. Es läuft sich beim Singen besser. Manchmal spielte ich auch beim Laufen, warf Steinchen, sammelte längere und kürzere Stöcke, um den kürzeren mit dem längeren weiterzuschleudern. Viele Nächte schliefen wir draußen. Wir waren so müde vom Laufen! Wenn wir an eine Scheune kamen, legten wir uns ins Stroh. Die Menschen waren großzügig. Wir durften im Stroh übernachten … Wir hatten nichts zu essen. Ich war rappeldürr, aber das machte nichts. Die Hauptsache war, dass wir lebten. Wir ernährten uns von Löwenzahn und Brennnesseln und manchmal sammelten wir Steckrüben auf den Feldern. Wir aßen alles roh. Wie hätten wir etwas kochen können? Wasser zum Trinken fanden wir auf dem Weg. Wir aßen viele Pilze – deswegen kenne ich alle Pilze.

Zwei Monate waren wir unterwegs. Darum kann ich immer noch gut laufen. Ich habe es wirklich gelernt. Später brachte ich es meinen Enkelkindern bei und meinen Kindern sowieso – das Laufen.

Wir kamen in Krauschwitz an. Das liegt in der Oberlausitz. Wieder bekamen wir ein Zimmer bei einem Bauern. Im Herbst 1944 kam ich in die Schule. Wir mussten den Lehrer mit »Heil Hitler« begrüßen. Danach sangen wir das Horst-Wessel-Lied: »Die Fahne hoch! Die Reihen fest geschlossen!« Eines Morgens ging ich fröhlich in die Schule, die Schule gefiel mir. Auf dem Schulhof angekommen, lagen dort schreiende, blutende Soldaten. Die Schule war über Nacht ein Lazarett geworden. Ich drehte mich um und rannte nach Hause. Weinend sagte ich zu Mutti, dass ich nie mehr in meinen Leben zur Schule gehen wolle. Das war kein Problem, denn die Schulen wurden alle geschlossen.

Wir hatten nicht viel zu essen. Es gab nicht mehr viel gegen Ende des Krieges. Wir lebten von dem, was wir im Wald fanden. Wir lebten von den Pilzen, von den Beeren. Es gab viele Preiselbeeren. Die ganze Zeit suchten wir etwas zu essen. Mutti machte aus allem, was wir fanden, etwas zu essen. Wenn der Bauer uns Reste gab – Kartoffelschalen und trockenes Brot – machte Mutti daraus eine Suppe für uns.

Wieder rückten die Russen näher. Mutti kam eines Tages aufgeregt angerannt und sagte: »Die Russen kommen, wir müssen weg! Es gibt einen Zug, der die Maschinen nach Westdeutschland bringt, da können wir uns unter den Maschinen ein Plätzchen ergattern!« Wir rannten los. In meinem Rucksäckchen trug ich wieder meine Puppe Erika und den Nachttopf. Mutti nahm einen Karton und mein Bruder eine Tasche. Wir versteckten uns unter einer Maschine, und dann fuhr der Zug auch schon los. Wieder kamen russische Tiefflieger. Sie wollten die Maschinen zerstören, Maschinen für die Landwirtschaft und zur Produktion von Waffen. Sie sollten nicht in russische Hände fallen, das hatten die Deutschen beschlossen. Es gab nur noch Züge für Juden und für Maschinen. Nicht für Flüchtlinge. Aber das wussten wir damals nicht.

Als die ersten Tiefflieger kamen, konnten wir aus dem fahrenden Zug nicht mehr entfliehen. Es war zu spät. Ich sagte zu Mutti: »Die Flugzeuge können doch gar nicht kommen, die Sirenen heulen doch noch nicht!« In Berlin waren die Flugzeuge immer erst nach dem Sirenengeheul gekommen.

Die Tiefflieger fangen an zu schießen. Mutti legt die grüne Decke über mich, und dann legt sie sich auf mich. Das verstehe ich nicht. Ich bekomme kaum mehr Luft. Mutti will mich vor den Bomben beschützen – wenigstens ich soll überleben. Wir spitzen unsere Ohren – der Zug hält an – wir springen runter, werfen uns auf die Erde und legen die grüne Decke über uns. Überall hören wir Schüsse, und dann ist es plötzlich still. Wir krabbeln unter der Decke hervor und sehen: Die ersten drei Waggons sind zerstört, der Lokomotivführer ist tot. Ein furchtbarer Anblick! Wir wissen nicht, was wir mit den Toten unter den Maschinen machen sollen.

Wir zogen die Toten raus. Vielleicht lebten sie noch. Aber was hätten wir mit Schwerverwundeten gemacht? Wir hatten nichts zum Verbinden. Mutti war keine Ärztin. Wir konnten nichts machen. Wir mussten die Toten liegen lassen – alle waren tot. Meine Mutti, mein Bruder und ich waren am Leben.

Wir liefen weiter. Mutti hatte nur ein paar Haferflocken dabei. Mit dem Wasser, das wir unterwegs fanden, aßen wir die Haferflocken. Immer nur Haferflocken. Ich konnte später keine Haferflocken mehr sehen. Irgendwann nahmen uns Lastwagen mit und wir fuhren ein Stück mit dem Zug. Wir kamen in Lüneburg an. Dort war unsere Flucht zu Ende …

Noch jahrelang, ich hatte schon Kinder, stand ein gepackter Rucksack neben unserer Eingangstür. Darin lagen ein Messer, eine Zahnbürste, ein Stück Seife und etwas Haltbares zum Essen – Dinge, die man zum Überleben braucht. Das war wichtig für mich. Die Angst seit der Flucht war immer da. Jahrelang träumte ich immer wieder, dass sich die Wand öffnet und mich jemand ermordet. Jede Nacht. Die Wand öffnet sich, ich sehe einen Dolch und dann einen Mann. Ich springe aus meinem Bett. Mein erster Mann tat mir leid, weil ich so oft schreiend aus dem Bett sprang. Das legte sich erst, als ich zu meinem zweiten Mann nach Frankreich zog. In Frankreich fühlte ich mich sicherer.

Von dem Flüchtlingslager in Lüneburg wurden wir wieder auf die umliegenden Dörfer verteilt. Wir kamen nach Reinsdorf, wo wir ein Zimmer beim Dorfbäcker bekamen. Manchmal durfte ich in die Backstube, den Duft des Brotes atmete ich tief ein, und einmal bekam ich auch ein warmes Brötchen geschenkt. Als die Engländer Reinsdorf besetzten, mussten wir unser Zimmer den englischen Soldaten überlassen. Zusammen mit anderen Flüchtlingen zogen wir in die Dorfkirche. Dort war es schön. Der Lehrer spielte abends Orgel, und wir Kinder durften auf den Konfirmandenteppichen schlafen – das war gemütlich. In der Kirche wohnten wir vier Monate. Tagsüber spielte ich mit meiner Puppe und mit Stöckchen und Steinen, die ich in der Natur fand. Mein Bruder und ich kletterten auf die Bäume und nahmen aus jedem Nest ein Ei. Ich kannte nicht nur alle Vögel, sondern auch alle Eier, die sie legten. Wir pusteten die Eier aus und zogen sie auf einen langen Faden. Wir lebten mit der Natur. Ich kannte eine Trauerweide, unter die setzte ich mich immer, wenn ich traurig war. Und ich kannte einen wunderbaren Nussbaum, unter den setzte ich mich, wenn ich ganz besonders fröhlich war. Diesen Bäumen erzählte ich mein Leben. Ich kannte jede Pflanze, jede Blume. Meine Mutti brachte mir alles bei. »Bildung ist das Einzige, was man mitnehmen kann«, sagte sie immer. Da wir keine Bücher besaßen, erzählte uns Mutti alles, was sie gelesen hatte. Sie sang mit uns und lernte mit uns Gedichte. Wir liefen »Freude schöner Götterfunken« singend oder das kleine und große Einmaleins aufsagend hopsend in den Wald und sammelten alles, was essbar war. Wir waren immer hungrig. Es war Mutti wichtig, dass wir etwas für unseren Kopf tun. Später habe ich mir immer gesagt: Falls ich einmal ins Gefängnis kommen sollte, kann ich mit den Gedichten und Liedern schon alleine durchkommen. Das hat uns die Mutti vermittelt.

Die Nachkriegszeit begann. Wir verließen die Kirche und zogen in ein Zimmer bei einem Bauern. Mutti arbeitete für Maisbrot und Magermilch in einem Laden. Sie arbeitete als Sekretärin bei einem Arzt, der uns kostenlos versorgte, wenn wir krank waren.

In unserem Zimmer standen zwei Betten, für meine Mutter und meinen Bruder, davor stand mein Kinderbett und davor ein Tisch mit drei Stühlen. Wir hatten einen Ofen, die Töpfe waren unter den Betten verstaut. Wir mussten alles besorgen. Wir waren mit nichts gekommen und die Bauern gaben uns nichts. Die Hühner bekamen Eier mit Brennnesseln, wir lebten nur von Brennnesseln und Steckrüben. Wir arbeiteten auf dem Feld für Kartoffeln, wir machten alle Ernten mit. Nach der Zuckerrübenernte kochten wir nächtelang aus Zuckerrüben Sirup. In einem großen Kessel rührten wir 24 Stunden lang die geschälten und geschnipselten Zuckerrüben. Wir wechselten uns ab. Tagsüber rührten wir Kinder und nachts die Erwachsenen. Danach hatten wir wunderbaren Sirup und es gab Maisbrot und Sirup – das war köstlich!

Mein Bruder ging auf das Gymnasium im dreizehn Kilometer entfernten Lüneburg. Dafür musste er schon um vier Uhr aufstehen, um im Nachbardorf den Arbeiterzug zu bekommen. Wenn er abends mit diesem Zug wieder von der Schule zurückkam, machte er oft noch bei Kerzenschein seine Hausaufgaben. Ich fand es gemütlich, wenn ich abends in meinem Bettchen lag und die Mutti meinen Bruder englische und lateinische Vokabeln abfragte. Ich lernte alle mit. Es kostete meine Mutter viel Überzeugungsarbeit, mich in die Schule von Reinsdorf zu begleiten, hatte ich doch beschlossen, nie wieder in die Schule zu gehen. Dort angekommen, hängte ich mein Jäckchen im Flur vor dem Klassenzimmer auf. Der Lehrer schickte eine Schülerin zu uns. Als sie mich sah, sagte sie: »Oh, ein Gesicht ohne Sommersprossen ist wie ein Himmel ohne Sterne.« Ich hatte nämlich unendlich viele Sommersprossen im Gesicht. Dieser Satz gefiel mir und ich sagte zu meiner Mutter: »Mutti, hier bleibe ich, dieses Mädchen ist jetzt meine Freundin.« Und sie ist es bis heute!

In die Schule gab uns Mutter Maisbrot – zwei Scheiben – mit einer Kartoffel dazwischen als Belag. Wir hatten keine Vitamine. Meine Beine waren von oben bis unten offen – aus Vitaminmangel. Das sind Erinnerungen an eine Zeit, die man sich heutzutage gar nicht mehr vorstellen kann … Vor unserem Zimmer stand ein Apfelbaum. Einmal versuchte ich, einen heruntergefallenen Apfel durch den Zaun zu greifen. Ein Apfel für uns drei! Die Bäuerin sah mich. Sie sagte zu ihrem Hund: »Ksst, ksst, greif sie!« Der Hund hat mich gebissen. Ich habe danach nie mehr versucht, einen heruntergefallenen Apfel durch einen Zaun zu holen. Seitdem habe ich Angst vor Hunden.

Flucht aus den deutschen Ostgebieten vor den vorrückenden Truppen der Roten Armee im Frühjahr 1945. Eine Gruppe von Flüchtlingen mit Handwagen in einer zerstörten Ortschaft in Ostpreußen

In Reinsdorf waren wir die armen Flüchtlinge. Die Dorfbewohner warfen Mutti vor: »Ihr Berliner habt den Krieg begonnen, ihr habt den Krieg verloren und jetzt müsst ihr es ausbaden!« So war die Meinung. Mutti brachte uns schnell bei: Wir sind die Flüchtlinge und wir haben bescheiden zu sein. Denn je bescheidener wir sind, desto eher werden wir in einer neuen Gemeinschaft akzeptiert. Mutti schaffte es, dass wir im Dorf gegrüßt wurden – auch das mussten wir uns erobern. Am Anfang wurden wir nicht einmal gegrüßt.

Was ich durch den Krieg erfahren habe? Dass Geld nicht glücklich machen kann, sondern was zählt im Leben ist die Liebe, die einen trägt. Das hat uns unsere Mutti gegeben – die absolute Liebe. Sie war immer für uns da. Und sie zeigte uns, wie wichtig es ist, fröhlich zu sein.

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