Kitabı oku: «Der Chor in den Tragödien des Sophokles», sayfa 18

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Die dem Lied zu Grunde liegende Struktur ist augenscheinlich: Elementar für die Reflexionen der Schiffsmannschaft ist der Kontrast zwischen entbehrungsreichem und gefährlichem Dasein vor Troia und dem freudvollen Leben in der Heimat. Mit dieser räumlichen Bipolarität – Troia-Athen – geht freilich die Kontrastierung der beiden Zeitebenen Gegenwart und Vergangenheit einher. Letztere erfährt in der zweiten Gegenstrophe eine weitere Differenzierung: Ist schon die allgemeine Kriegssituation mit allerlei Entbehrungen verbunden, so bedeutet der Verlust des Aias für die Choreuten den Wegfall sämtlichen Schutzes und gibt damit Anlass zur Hoffnungslosigkeit.

Die Verantwortlichkeit des Krieges kleidet der Dichter in eine Personalisierung des Kriegslehrers, was der Klage um die Nöte des einfachen Kriegsknechts besondere Intensität verleiht. Diese Mischung von halb allgemeiner, halb spezieller Kriegskritik und persönlicher Erfahrung zeichnet das Chorlied aus: Die allgemeinen Aussagen entfalten erst durch die Situation der Schiffsleute ihre volle Wirkung, sie sind aus der dramatischen Situation gesprochen und wirken daher authentisch. Bedenken wir weiterhin, dass das Publikum des attischen Theaters (zumindest zum Teil) aus den Männern bestand, die Militär- und Kriegserfahrungen teilten,14 ist die Wirkung des Liedes abzuschätzen. Demgegenüber gestattet die zweite Strophe mit ihrer Aufzählung symposialer Gebräuche einen Einblick in die Lebenswelt der gehobenen Athener Bürger.15 Ferner wird der die Stadt Athen selbst beschwörende Schluss bei einem attischen Publikum patriotische Empfindungen geweckt haben. Das Stasimon bietet dem Publikum so in seiner ganz aus der Situation der Schiffsleute vor Troia gesprochenen Klage über den Krieg wie auch in der Beschreibung des heiligen Athen gewisse Identifikationsmöglichkeiten, die den Nachvollzug des Liedes und damit die Teilhabe an der dramatischen Situation erleichtern.16

Fragen wir nun nach dem Sitz des Liedes in der Tragödie und ihrem dramaturgischen Geflecht. Wir haben schon festgehalten, dass die dem Lied unmittelbar vorausgehende Auseinandersetzung zwischen Teukros und Menelaos den Chor in seiner Reflexion nicht beschäftigt. Das mag Zuschauer und Leser überraschen, da doch mit der Bestattung des Aias ein wichtiges Anliegen der Schiffsleute im Zentrum des Streits stand und Teukros geradezu als Sachverwalter seines Halbbruders aufgetreten war. Das Stasimon beginnt demgegenüber mit der ausgeführten Kriegsthematik und schlägt so einen inhaltlichen Bogen zu den chorischen Partien des ersten Teils unserer Tragödie (Par­odos sowie erstem Standlied). Das Aufzeigen der wichtigsten Motivlinien soll hier genügen.

Die Thematik der Heimatferne sowie des unwirtlichen Zustands vor Troia hatte im Besonderen die erste Strophe des ersten Stasimons entfaltet. Hatten dort die Ausführungen des Chores mit einem Anruf an die Heimat begonnen (v. 596), so ist jetzt Athen geradezu der Fluchtpunkt der Gedankenbewegung und kommt dementsprechend ganz am Ende des Liedes zu stehen. War dort die Bewegung ausgehend von der Heimat in die neue Situation hinein vorherrschend, so wendet sich das dritte und letzte Stasimon mit Blick auf die zeitlich und räumlich ferne Heimat geradezu von der gegenwärtigen Situation ab.

Die Betonung der langen Dauer des Kriegsdienstes vor Troia ist ebenfalls eine motivische Wiederaufnahme, die durch begriffliche Spiegelungen besonders ins Auge fällt: Hatte der Chor im ersten Stasimon die „unzählbare Zeit von Monaten“ (χρόνος μηνῶν ἀνήριθμος v. 600f.) beklagt, so fragt er zu Beginn des vorliegenden Liedes nach einem Ende der „Zahl jammervoller Jahre“ (πολυπλάγκτων ἐτέων ἀριθμός v. 1186).

Schon im ersten Stasimon spielte darüber hinaus die Gestalt des Aias und dessen Einfluss auf die Schiffsleute eine besondere Rolle: War dort allerdings der „schwer zu behandelnde Aias“ (δυσθεράπευτος Αἴας v. 609f.), d.h. die Präsenz des Helden geradezu der Gipfel der durch den Krieg ohnehin virulenten Nöte, ist es hier sein Tod, der dem Chor die letzte Hoffnung nimmt (v. 1214f.). Die beiden Standlieder stehen so motivisch in Beziehung zueinander, entwerfen sie doch beide das Bild einer freudlosen Zukunft, die sich auf der Basis einer bereits besonders unangenehmen Gegenwart abzeichnet. Zudem beantwortet das dritte Stasimon mit seiner zweiten Gegenstrophe die im zweiten Strophenpaar des ersten Standliedes gegebene Aussicht: Aias ist mittlerweile tot, die Imagination vom Beginn der Tragödie hat sich verwirklicht. Anstatt dabei wie im ersten Lied die Klage naher Anverwandter zu imaginieren, sprechen die Schiffsleute hier ihre ganz eigenen Sorgen und Befürchtungen aus. Sie holen damit geradezu nach, was ihnen im Kommos mit Tekmessa nach der Auffindung der Leiche des Aias noch nicht möglich war: Dort war es im Wesentlichen Tekmessa zugefallen, Zukunftsaussichten zu entwerfen (v.a. v. 944), während der Chor den Blick eher auf die Vergangenheit lenkte (v. 925ff.) und dabei die vermutliche Reaktion der Atriden (v. 955ff.) antizipierte.

Mit dieser Apostrophierung des Aias als eines Schutzes vor „nächtlichem Entsetzen und Geschossen“ (v. 1211f.) wird überdies ein motivischer Bogen zur Par­odos geschlagen. Dort war in den Versen 158ff. das Verhältnis der Großen, d.h. der Führer und Helden, zu den Kleinen, ihren Soldaten, Untergebenen und Angehörigen thematisiert worden. War dieses optimale Schutzbündnis eines Patrons und seiner Klienten schon zu Beginn der Bühnenhandlung, d.h. während der Par­odos, durch Aiasʼ Wahnsinnstaten und die daraus resultierende gesellschaftliche Ächtung des Haupthelden und seiner Angehörigen empfindlich gestört, so ist es mit dem Tod des Helden zu einem für die Schiffsleute verhee­renden Ende gekommen.

Zusammenfassend kann gesagt werden: Mit der Klage über den Krieg und der Hoffnung auf Rückkehr in die Heimat hat sich die schon im ersten Teil der Tragödie vom Chor behandelte Thematik der Aussichts- und Hoffnungslosigkeit nicht wesentlich verändert; die Intensität der vorgebrachten Reflexionen ist dagegen durch das dramatische Geschehen, d.h. den Tod des Aias, wesentlich gesteigert. Das Chorlied steht so noch ganz unter dem Einfluss der Geschehnisse des ersten Teils der Tragödie, auf deren Basis es die neueren Entwicklungen reflektiert.

Diese Themensetzung des Stasimons erstaunt zunächst: Wie bereits erwähnt, wird weder der Streit um die Bestattung des Haupthelden noch das wirkungsvoll inszenierte, an eine Hikesie angelehnte Totenopfer am Ende des Epeis­odions thematisiert. Angesichts der immensen Wichtigkeit des Haupthelden als Schutzherr und elementarer Bezugspunkt im Leben der Schiffsleute wirkt diese völlige Ausblendung unpassend, ja scheint geradezu die bisherige Fixierung auf den Prot­agonisten und sein Wohlergehen zu konterkarieren. Warum sich die Schiffsleute nach Aiasʼ Tod nicht mehr um ihn, d.h. konkret seine Leiche und deren Verbleib kümmern sollten, erschließt sich aus der Charakterzeichnung des Chors nicht. Dahingegen ist die gegenüber einer möglichen Erwartungshaltung verschobene Themensetzung des Stasimons aus dramaturgischen Gründen nachvollziehbar: Eine Beschäftigung mit der Bestattungsthematik im direkten Anschluss an das vorangegangene Epeis­odion hätte sicher eine Reflexion des Streits zwischen Teukros und Menelaos mit sich gebracht. Damit wäre zwar aus gegebenem Anlass die v.a. in der Par­odos breit ausgeführte Thematik der Feindschaft gegenüber den Atriden gespiegelt worden. Es ist allerdings kaum denkbar, dass der Chor hier diesem Motiv einen wesentlich neuen Aspekt hätte hinzufügen können: Als reine Bestätigung der im ersten Teil der Tragödie verbalisierten Vorbehalte gegenüber den Heerführern angesichts des tatsächlichen Verhaltens eines der beiden Atriden hätte eine erneute Betonung und Ausdeutung dieses kritischen Verhältnisses keinen wirklichen dramaturgischen Wert gehabt. Statt so eine Wiederholung und dramaturgisch unnötige Intensivierung des ohnehin präsenten Motivs zu bieten, verlagert das Stasimon das Augenmerk auf eine andere, wesentlich persönlichere Ebene.

Es bleibt indes festzuhalten, dass in der Verfluchung des Kriegslehrers, der dezidiert für den troianischen Krieg verantwortlich gemacht wird, ein (wenn auch subtiler) Anklang zur sonst ausgeklammerten Atridenthematik gegeben ist: Zwar ist der in Rede stehende Kriegslehrer durch nichts als eben seine Lehrtätigkeit in der Vergangenheit (Aorist ἔδειξεν) gekennzeichnet und damit weit davon entfernt, als Abbild einer konkreten, dem unmittelbaren Personenumfeld des Chors entstammenden Gestalt zu fungieren; dass allerdings die Verfluchung „jenes Mannes“ (κεῖνος ἀνήρ v. 1195) in seiner Verantwortlichkeit für den troianischen Krieg nach der Streitszene mit Menelaos (und vor der Auseinandersetzung mit Agamemnon) zu stehen kommt, spielt bewusst mit möglichen Assoziationen. Damit ist nicht gesagt, dass den Schiffsleuten an unserer Stelle Menelaos (oder sein Bruder) als konkretes Feindbild vorschwebt, sondern einzig, dass die Positionierung des Liedes und seine konkrete motivische Gestaltung einen subtilen Bezug zum unmittelbaren dramatischen Geschehen herstellen kann. Die Motivik der feindseligen und verhassten Atriden wäre so im Lied trotz der bewusst verschobenen Themensetzung präsent und würde in geradezu sublimierter Form einen direkten Anknüpfungspunkt der Reflexion zugleich an das vergangene wie das kommende Bühnengeschehen liefern.

Dass darüber hinaus die eindrucksvolle Hikesie- bzw. Opferszene keinen Widerhall im Stasimon findet, ist ebenfalls ein prägnantes Beispiel dramaturgischer Ökonomie. Machen wir uns dazu bewusst: Die von Teukros an der Leiche des Haupthelden positionierten, im Fortgang des Stücks stummen Personen (Tekmessa und der Knabe)17 stellen in ihrer Dauerpräsenz bis zum Ende des Dramas die virulente Bestattungsproblematik visuell dar. Wie schon ausgeführt, wird diese Personengruppe neben der folgenden Auseinandersetzung zwischen Teukros und Agamemnon einen zweiten, rein visuellen Fokus innerhalb des Bühnengeschehens bilden. Aber auch schon während des Standliedes ist so die Kontinuität der Bestattungsproblematik gewahrt. Statt diese sichtbare Präsenz dabei durch eine chorische Reflexion zum selben Thema zu verdoppeln, blendet der Dichter die Deutung der allgemeinen Umstände sowie des entscheidenden Handlungsfortschritts (Aiasʼ Tod) aus einer anderen Perspektive ein und kontrastiert dabei das emotional und religiös aufgeladene Standbild auf der Bühne mit der ganz aus der Sicht des Chors gesprochenen Reflexion, die motivisch der ersten Hälfte der Tragödie verpflichtet ist. Der Chor steht so zum eigentlichen Geschehen in besonderer Distanz, die mit seiner forcierten Präsenz im Geschehen, wie sie gerade die Par­odos sowie das erste Stasimon inszeniert hatten, kontrastiert. Anders als im ersten Teil steht der Chor an unserer Stelle nicht mehr unmittelbar im Geschehen. Hatte er sonst die dramatischen Geschehnisse sowie die Reden der Personen sofort und mit hoher Emotionalität beantwortet,18 so scheint er an unserer Stelle weniger vom vorangegangenen Geschehen als von seiner eigenen Reflexion beeinflusst.

Damit ist zugleich geradezu paradigmatisch die Haltung des Chors in der folgenden Exodos angedeutet: Auch an der zweiten Konfliktszene werden sich die Schiffsleute bis auf drei standardisierte Doppelverse nicht beteiligen. Diese auffallende Zurückhaltung des Chors setzt die im Stasimon initiierte Verortung des Chors in betonter Distanz vom eigentlichen Geschehen fort. Sie erklärt sich, wie schon die spezifische Perspektive des Stasimons, nicht primär aus rollenimmanenten Motiven, d.h. dem Charakter bzw. der Person des Chors, sondern ist sinnfälliger Ausdruck bewusster Entscheidungen des Dichters, mit denen er genuin dramaturgische Ziele verfolgt.

Was also erreicht Sophokles mit dieser Konstruktion des für die folgende Exodos geradezu programmatischen Stasimons dramaturgisch? Da dieses einzige Standlied des zweiten Teils seine Thematik und Motivik aus dem ersten Teil des Dramas schöpft, bildet es den Nachklang der wirkmächtigen Ereignisse, die im Tod des Haupthelden ihren Abschluss fanden. Gleichzeitig wagt der Chor mit seinen Äußerungen und dem Wunsch, wieder nach Athen zu gelangen, einen Blick in die Zukunft und weitet so die Perspektive aus dem direkten Zusammenhang des Dramas in die sich anschließende Zeit.

Das Chorlied reflektiert unter dem Einfluss der Ereignisse des ersten Teils der Tragödie die Lage der Choreuten und ihre Zukunftsaussicht. Es weist motivisch nach hinten und bleibt innerhalb des Dramas unbeantwortet, da das weitere Schicksal der Angehörigen des Aias nach dessen eingeleiteter Bestattung keine Rolle mehr spielt. Von den abschließenden Chorversen am Ende des Dramas (v. 1418–1420) abgesehen bildet das vorliegende Stasimon als letzte nicht in Sprechversen geformte Aussage geradezu das lyrische Schlusswort des Chors in seiner Rolle als dramatischer Person.19 In seiner aktiven Reflexion des Geschehens ist der Chor damit beim Tod des Haupthelden stehen geblieben. Sophokles zeichnet damit zum einen sehr wirkungsvoll die feste Bindung der Schiffsmannschaft an ihren Patron, die hier allerdings in einer besonders personalisierten, d.h. auf das Schicksal des Chors selbst bezogenen Weise ausgeleuchtet wird: Von Beginn an war Aias in den lyrischen Passagen des Chors zumindest präsent, wenn nicht das Thema des ganzen Liedes. Mit dem dritten und letzten Stasimon rundet sich so eine gedankliche Bewegung, die von den Wahnsinnstaten und der scheinbaren Genesung auch den Tod des Haupthelden noch einmal verarbeitet und diesen aus Sicht der Choreuten in einen größeren, persönlich geprägten Zusammenhang einordnet. Das Stasimon trägt so in besonderer Weise dazu bei, die beiden Großabschnitte des Dramas (vor und nach dem Selbstmord des Haupthelden) miteinander zu verknüpfen. Es bildet geradezu eine thematisch-motivische Brücke, die vor dem letzten Abschnitt der Tragödie noch einmal entscheidende Motive vom Beginn der Bühnenhandlung aufruft und so zur Rundung des gesamten Stücks beiträgt.

Zum anderen fällt das Lied allerdings auch aus der Zeit: In seiner kompletten Ausblendung des virulenten und höchst problematischen Themenfelds „Bestattung“ verweigert es sich geradezu dem aktuellen, das Bühnengeschehen prägenden Diskurs sowie seiner Sublimierung in der Formung des Hikesie-Standbildes, das Teukrosʼ Eingreifen in die Handlung visualisiert. Das Lied trägt bewusst nichts zur Ausdeutung der momentanen Lage bei, sondern bildet zwischen den beiden entscheidenden Konfrontationsszenen der Tragödie die Einschaltung einer ganz aus der Sicht des Chors gesprochenen Reflexion. Dass diese dabei völlig unbeantwortet bleibt und motivisch mit der Fluchtphantasie der Choreuten die eigentliche Sphäre der Bühnenhandlung zu verlassen scheint, setzt der ausgreifenden chorischen Beteiligung am Geschehen einen bewussten Schlusspunkt. Anders gesagt: Innerhalb ihrer Reflexion blenden die Choreuten nicht nur das vom Konflikt zwischen Teukros und den Atriden geprägte agonale Geschehen aus, sondern verlassen sogar – zumindest in Form des vorgetragenen Wunsches – das unmittelbare setting der Handlung. Ein weiterer substanzieller Beitrag zur Reflexion des Bühnengeschehens ist vom Chor in der Folge nicht zu erwarten; vielmehr finden im vorliegenden Stasimon einige Motive und Themen, die im Besonderen den ersten Teil der Tragödie prägten, vor der Folie des Selbstmords des Haupthelden ihren Abschluss.

Man wird sich BURTONs Hochschätzung des Liedes in Teilen anschließen, besonders wenn der die formale Geschlossenheit des Stasimons hervorhebt und auf dieser Basis zu dem Urteil kommt: „This unity of structure helps to make it the most poetically satisfying lyric in the play.“20 Den allgemeinen Partien, im Besonderen der Verwünschung des Kriegslehrers, den Anspruch von Zeitlosigkeit und Universalität21 zuzusprechen, mag dagegen weniger berechtigt sein,22 vor allem da der Chor hier keine wirklich tiefgreifenden Erkenntnisse präsentiert23 und selbst in der ersten Gegenstrophe nicht den Krieg an sich sowie dessen Lehrer, sondern dezidiert den Krieg vor Troia in den Blick nimmt. Die dramaturgische Einbindung und Funktionalisierung des Liedes als einer reflektorischen Pause zwischen zwei Konfliktszenen, in der sich der Chor ganz auf sich und seine Sicht der Dinge konzentriert und dabei den unmittelbaren Kontext der Handlung zu übersteigen scheint,24 ist dabei zu Recht erkannt.

Viertes Epeis­odion und Exodos (v. 1223–1420)

Das sich anschließende letzte Epeis­odion sowie die anapästische Passage am Schluss der Tragödie können wir unter unseren Gesichtspunkten rasch abhandeln. Von den knapp zweihundert Versen entfallen neun auf den Chor bzw. den Chorführer, davon dreimal je zwei Verse Kommentierung bzw. Auftrittsankündigung (v. 1264f., 1316f. und 1374f.) sowie die schon erwähnten drei abschlie­ßenden Verse 1418ff.

Die Handlung dieses Teils soll kurz zusammengefasst werden. Nach dem Wiederauftritt des Teukros entspinnt sich zwischen ihm und dem ebenfalls aufgetretenen Agamemnon ein erneutes Streitgespräch, das diesmal weniger konkret die Bestattung des Aias als vielmehr zunächst die Herkunft und den sozialen Stand des Teukros sowie schließlich Aiasʼ Verhalten im Kampf gegen die Tro­ianer und seinen daraus entstandenen Wert für das griechische Heer zum Gegenstand hat. Agamemnon gerät über die ihm berichteten, aus seiner Sicht unzumutbaren Schmähungen des als Sohn einer Unfreien geborenen Teukros gegen ihn und seinen Bruder in Wut, sucht darüber hinaus seine Position als Inhaber der Befehlsmacht zu behaupten und lehnt angesichts des Standesunterschieds zwischen ihm und dem als Nichtgriechen diskreditierten Teukros jede weitere Diskussion ab (v. 1256ff.). Der so kritisierte Teukros ruft dagegen Aiasʼ kriegsentscheidendes Vorgehen gegen Hektor in Erinnerung und kontert den Angriff hinsichtlich seiner Herkunft, indem er Agamemnon mit seiner Abkunft von Pelops und Atreus sowie deren Untaten konfrontiert (v. 1291ff.). Nach Teukrosʼ Monolog stehen sich die Kontrahenten unversöhnt gegenüber, ein Ausgleich zwischen beiden Positionen scheint unmöglich. Bis zu diesem Punkt folgt Sophokles der standardisierten Form eines tragischen Redeagons, indem er den beteiligten Akteuren je eine umfangreiche „Standpunktrhesis“1 zukommen lässt, zwischen denen der Chor(-führer) in einem Doppelvers zur Mäßigung aufruft (v. 1264f.). Für die sich anschließende stichomythische Partie jedoch erweitert der Dichter das Personenspektrum durch den vom Chor angekündigten Auftritt des Odysseus in Vers 1316.2 Letzterer vertritt nun die Sache des Aias und seiner Angehörigen gegenüber Agamemnon, während Teukros selbst ganz in den Hintergrund tritt, um erst in Vers 1381 das Eingreifen des Odysseus zu loben. Dieser gibt zwar zu, dass Aias auch ihm der verhassteste unter allen Griechen (v. 1336f.) war, in Anerkennung seiner Verdienste um das griechische Heer, aus genereller Hochachtung göttlicher Gesetze (v. 1342f.) und der Einsicht in die eigene Vergänglichkeit (v. 1365) plädiert er allerdings dafür, die Leiche des Helden seinen Angehörigen zur Bestattung zu überlassen. In der sich anschlie­ßenden Stichomythie bringt Odysseus den Heerführer schließlich dazu, eine Bestattung des Aias nicht mehr zu verbieten, sondern Teukros in dieser Beziehung freie Hand zu lassen. Mit der geradezu trotzigen Bekundung, auch im Totenreich werde Aias ihm immer noch verhasst sein (v. 1372), sowie einer an Odysseus gerichteten, geradezu gönnerhaften Wendung („Dir steht es frei zu tun, was du wünschst.“ σοὶ δὲ δρᾶν ἔξεσθʼ ἃ χρῇς v. 1373) verlässt Agamemnon daraufhin das Geschehen.

Den Schluss der Konfrontationsszene markiert daraufhin ein Doppelvers des Chorführers, in dem er zu Odysseusʼ Auftreten gegenüber Agamemnon anerkennend Stellung bezieht (v. 1374f.): Wer behaupte, Odysseus sei nicht charakterlich durch mit Einsicht verbundene Weisheit ausgezeichnet (γνώμῃ σοφὸν φῦναι3), der sei ein Tor.

Odysseus versichert daraufhin Teukros, er werde ihm in Zukunft nicht mehr ein Feind, sondern ein Freund sein (v. 1376f.). Seinen Wunsch, an der Bestattung teilnehmen zu dürfen, schlägt Teukros allerdings aus, da er fürchtet, dadurch den toten Aias in Zorn zu versetzen (v. 1395). Odysseus reagiert auch darauf großherzig und verlässt nach einer wortreichen Würdigung seines edlen Verhaltens durch Teukros (v. 1381–1399) nach Vers 1401 die Bühne.

Das eigentliche Bühnengespräch hat damit ein Ende gefunden; mit dem Einsatz der anapästischen Verse ab 1402 beginnt bereits die Vorbereitung des Auszugs der Akteure: Teukros ordnet den Beginn der Beerdigungsriten an, verteilt die ersten Aufgaben und wendet sich noch einmal an den Sohn des Aias, der am Leichnam seines Vaters Wache gehalten hatte (v. 1409f.). Mit der kurzen allgemeinen Äußerung des Chors schließt die Tragödie: Es sei für den Menschen unmöglich, im Voraus zu wissen, was er tun werden, bevor er es gesehen, d.h. erfahren habe.

Die dramaturgische Gestaltung dieses Abschnittes ist offenkundig: Das durch die erste Auseinandersetzung zwischen Teukros und Menelaos aufgeworfene Problem der Bestattung wird hier in einem zweiten Agon einer Lösung zugeführt. Gegenüber der ersten Konfrontationsszene erweitert sich die Perspektive dabei in mehrfacher Hinsicht; die Bezugnahmen auf bzw. Kontrastierungen gegen den Prolog tragen darüber hinaus wesentlich zur Rundung des gesamten Stücks bei. So fügt die Thematisierung der Taten und der Herkunft des Aias der bisherigen Zeichnung seiner Figur weitere Aspekte hinzu, die bisher im Wesentlichen unerwähnt geblieben oder kaum problematisiert worden waren. Im Besonderen kontrastieren sein lobend herausgestelltes Eingreifen in einer scheinbar ausweglosen Situation während des Kampfes (v. 1273ff.) sowie die gegen Agamemnons Anschuldigungen vorgebrachte Rehabilitierung der Herkunft des Aias mit der gebrochenen, vom Götterzorn gestraften Erscheinung des Helden im Prolog.

Zum anderen rundet Sophokles die gesamte Konstruktion des Dramas, indem er den im Prolog bereits aufgetretenen und in den Aussagen des Chors, Tekmessas und des Haupthelden durch das ganze Stück präsenten Odysseus schließlich zu Gunsten seines Gegners eingreifen lässt. Odysseus setzt dabei die ihm im Prolog durch göttliche Einwirkung zuteil gewordene Einsicht praktisch um, was die Handlung mit einem Moment edler Großherzigkeit und Gottesfurcht schließen lässt. Neben der Figur des Teukros ist so im Besonderen der Wiederauftritt des Odysseus eine personelle Klammer, die mit dem Prolog und der Exodos die beiden Randpunkte der Tragödie eng miteinander verknüpft.

Der Chor ist dabei, wie wir schon festgestellt haben, ganz in den Hintergrund getreten: Nachdem der unmittelbare Bezug zu Aias nicht mehr möglich ist, verstummt auch die Reflexion des Chors. Selbst die Parteinahme des Odysseus für den eigenen Herrn und die dadurch ermöglichte Aussicht auf die Bestattung kommentiert der Chorführer nur mit dem erwähnten Doppelvers, der das Rededuell zwischen den beiden Kontrahenten beschließt.

Dass sich dabei die Bewertung des Odysseus durch die Schiffsleute im Vergleich zum Beginn des Stücks vollkommen gewendet hat, wird nicht explizit thematisiert; eine Selbstreflexion des Chors über den eingetretenen Sinneswandel bleibt aus. Das Fehlen einer ausführlichen Stellungnahme des Chors zu seiner geänderten Einstellung gegenüber Odysseus kann dabei in formaler Hinsicht nicht überraschen: Die Einschaltung einer umfangreichen chorischen Passage zu diesem Zeitpunkt der Tragödie (innerhalb der Exodos, kurz vor dem Ende des Stücks) widerspricht prinzipiell den Kompositionsprinzipien der Gattung. Sophokles arrangiert die Schlussphase dagegen mit äußerster dramaturgischer Ökonomie: Der Doppelvers des Chorführers (v. 1374f.) verbalisiert zunächst ohne elaborierte Reflexion vorheriger Ansichten die Wertung der Schiffsleute. Daraufhin wird mit Odysseusʼ Freundschaftsbekundung und seinem Wunsch, bei der Bestattung des ehemaligen Feindes mitzuhelfen (v. 1376–1380), die ursprüngliche Reserviertheit zwischen ihm und den Angehörigen des Aias endgültig aufgehoben. Teukros ist es, der in seinem sich anschließenden Monolog geradezu stellvertretend für den Chor bekennt, von Odysseusʼ Verhalten in seiner Erwartung getäuscht, d.h. im vorliegenden Fall positiv überrascht worden zu sein (v. 1382). Nicht dem Chor, der sich schon einmal dazu bekannte, falsche Erwartungen gehegt zu haben (v. 911f., 925ff.), sondern Teukros als zentralem Akteur des zweiten Teils der Tragödie obliegt also die Thematisierung des Sinneswandels, der zu einer völlig anderen Einschätzung des Odysseus führt. Als Moment innerhalb des eigentlichen Bühnengesprächs zwischen Teukros und Odysseus wird die Reflexion so im besten Sinne dramatisiert: Odysseus erhält seine Rehabilitierung von Seiten eines Angehörigen des Haupthelden im direkten Austausch mit ihm selbst; kein Reden über ihn, sondern die direkte Reaktion auf seine Äußerungen, das Gespräch mit ihm trägt dazu bei, seine Gestalt sowie deren Einschätzung durch die anderen Akteure abschließend in Szene zu setzen. Der Chor ist dabei durch die Äußerung des geradezu programmatischen Doppelverses in das Bühnengespräch eingebunden, steht allerdings dem eigentlichen Geschehen mit einigem Abstand gegenüber.

Die Schlussverse 1418ff. verdienen in diesem Zusammenhang eine kurze Bemerkung: Wenn der Chor am Ende der Tragödie räsoniert, niemand könne über den Lauf der Dinge im Vorfeld Gewissheit erlangen, allein eigenes Erfahren (ἰδεῖν) sei ausschlaggebend, so mag damit freilich auch der Sinneswandel des Chors hinsichtlich der Einschätzung des Odysseus angedeutet sein. Allerdings fehlt der bewusst allgemein formulierten Einsicht jeder Bezug zur Tragödienhandlung oder der Person des Chors selbst; von einer wirklichen Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Bühnengeschehen kann so keine Rede mehr sein. Die Schlussworte des Chors entbehren daher einer wirklich stringenten Anbindung an das Geschehen; sie sind, verglichen mit anderen Tragödienschlüssen, höchst konventionell und bis zu einem gewissen Grad austauschbar.4

Fassen wir also die dramaturgischen Implikationen der Exodos zusammen: Die Mitte des Bühnendiskurses im letzten Epeis­odion nimmt nicht, wie noch im ersten Teil der Tragödie, die Person des Haupthelden sowie die Vorbereitung einer wirkmächtigen Szene, sondern mit dem Redeagon das Aufeinandertreffen zweier Personen ein. Diese bipolare Struktur erfordert einen anderen Einsatz dramatischer Mittel: Da die Reflexion über Aias, seine Taten, seine Stellung innerhalb des Heeres u. dgl. sowie die Angabe der Gründe des eigenen Handelns selbst bereits durch die beiden Streitenden geleistet wird, erübrigt sich eine erneute Betrachtung dieser Umstände durch den Chor. Die Zuschauer und Leser vielleicht verwundernde Zurückhaltung des Chors ist so zu einem guten Teil dramaturgische Ökonomie: Weder die konventionelle und durch den Auftritt des Odysseus erweiterte Form des Agons noch das gelöste Bestattungsproblem am Ende erlaubt die Einschaltung erneuter reflektierender Passagen ohne Wiederholung und Verdoppelung bereits ausgeführter Sachverhalte. Das Fehlen wirkmächtiger Szenen oder suggestiver Beeinflussung des Chors wie im ersten Teil rechtfertigt die geradezu abgekühlte Emotionalität des Chors, die sich zum letzten Mal im dritten Stasimon entladen hat und von da an keinen Ausbruch mehr duldet.

Angesichts der prominenten Spiegelung der Thematiken „Heimatferne“, „Kriegselend“ sowie „Schutzverhältnis Große-Kleine“ aus dem ersten Teil der Tragödie im dritten Stasimon fällt das Fehlen einer rückblickenden Bezugnahme und Korrektur der Atriden- und Odysseusthematik gegen Ende des Dramas besonders ins Auge. Es entspricht dabei der dramaturgischen Stoßrichtung, die Schlusspartie der Tragödie ganz als dialogische Handlung zu inszenieren. Im Wechsel der drei Gesprächssituationen (Agamemnon-Teukros, Odysseus-Agamemnon, Teukros-Odysseus) entfaltet die Schlussszene dabei noch einmal ein besonders reichhaltiges dialogisches Panorama, das dem Chor nur noch die Rolle eines teilweise durch moderierende Einwürfe sich zu Wort meldenden Betrachters zuweist.

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1341 s. 2 illüstrasyon
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